09.10.2023
Für den öffentlichen Bereich sind Barrierefreiheitsanforderungen an digitale Angebote bereits heute geltendes Recht. Für die Privatwirtschaft klingen bindende Regelungen in Deutschland zwar noch weitgehend wie Zukunftsmusik, allerdings werden gesetzliche Vorgaben und digitale Barrierefreiheitspflichten auch für Wirtschaftsunternehmen spätestens zum 28. Juni 2025 zwingend.
In Deutschland leben etwa 13 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung, von denen etwa 8 Millionen eine schwere Behinderung haben, so der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Diese Menschen sind auf barrierefreie Angebote angewiesen. Meist versteht man unter Barrierefreiheit etwa Bodenleitsysteme, den barrierefreien Zugang zu Gebäuden (z. B. breite Türen oder Rollstuhlrampen) oder barrierefreie Sanitäreinrichtungen. Barrierefreiheit geht allerdings wesentlich weiter und ist besonders auch in der Gestaltung digitaler Angebote zu berücksichtigen.
Um den Bedürfnissen von Menschen mit Beeinträchtigungen zu begegnen, hat der europäische Gesetzgeber sowohl für die öffentliche Hand (Richtlinie (EU) 2016/2102 vom 26. Oktober 2016) als auch für die Privatwirtschaft (Richtlinie (EU) 2019/882 vom 17. April 2019) Regulierungsinstrumente geschaffen, die die EU-Mitgliedstaaten umsetzen müssen.
Dieser Beitrag gibt einen Einblick in die bereits geltenden Barrierefreiheitsvorgaben für öffentliche Stellen und einen ersten Ausblick auf künftig zu beachtende Vorgaben für die Privatwirtschaft.
Öffentliche Stellen sind schon heute verpflichtet, ihre Websites, informationstechnischen Dienste und mobile Anwendungen – kurz: ihre Online-Angebote – barrierefrei zu gestalten. Vorausgesetzt, es bestehen ausnahmsweise keine Umsetzungspflichten, wie beispielsweise für Inhalte von Websites und mobilen Anwendungen von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten des Bundesrechts.
Barrierefreiheitsanforderungen an digitale Angebote des Bundes sind in dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) sowie der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) geregelt. Daneben gibt es auch eine Reihe landesspezifischer Vorgaben für öffentliche Stellen der Länder, deren Regelungen im Detail teils von den bundesgesetzlichen Regelungen abweichen. So etwa in Nordrhein-Westfalen, aus dem Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen (BGG NRW) und der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung Nordrhein Westfalen (BITVNRW).
Generell müssen Online-Angebote öffentlicher Stellen insbesondere den folgenden Anforderungen genügen:
Künftig werden nicht nur öffentliche Stellen, sondern auch private Unternehmen umfangreiche digitale Barrierefreiheitsvorgaben umsetzen müssen. Im Zuge der Implementierung der Anforderungen der Richtlinie (EU) 2019/882, hat der deutsche Gesetzgeber bereits zum 16. Juli 2021 das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) erlassen.
Vollumfänglich tritt das BFSG allerdings erst zum 28. Juni 2025 in Kraft, wobei einige Vorschriften bereits seit dem 23. Juli 2021 gültig sind. Die bereits geltenden Regeln ermächtigen insbesondere das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Verordnungen zur Konkretisierung der Barrierefreiheitsanforderungen an Produkte und Dienstleistungen zu erlassen.
Diese Verordnungsbefugnis wurde bereits zum 15. Juni 2022 durch Erlass der Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) genutzt. Die Verordnung enthält weitere Vorgaben zu den Barrierefreiheitsanforderungen. Die BFSGV tritt zeitgleich gemeinsam mit der vollumfänglichen Rechtsverbindlichkeit des BFSG ebenfalls zum 28. Juni 2025 in Kraft.
Auf Basis der bereits bekannten Regelungen zum BFSG und zur BFSGV ist jetzt schon klar: Künftig müssen Hersteller und Anbieter weitreichenden Barrierefreiheitsanforderungen entsprechen, wenn sie ab dem 28. Juni 2025 ihre Produkte und Dienstleistungen in den Verkehr bringen. Die Barrierefreiheitsregelungen verpflichten dann Hersteller und Anbieter u. a. von:
Neben den Herstellern und Anbietern der oben genannten Produkte und Dienstleistungen verpflichten die gesetzlichen Regeln aber auch Importeure und Händler zur Einhaltung von Barrierefreiheitsanforderungen.
Kleinstunternehmen sollen allerdings Erleichterungen bei der Umsetzung der Vorgaben des BFSG erhalten, für sie gelten damit Sonderregeln; dies ist bereits gegenwärtig im BFSG vorgesehen. Kleinstunternehmen sind solche, die weniger als zehn Personen beschäftigen und entweder einen Jahresumsatz von höchstens EUR 2 Mio. erzielen oder deren Jahresbilanzsumme sich auf höchstens EUR 2 Mio. beläuft.
Während im öffentlich-rechtlichen Bereich die Barrierefreiheitsanforderungen an digitale Produkte und Dienstleistungen seit einiger Zeit bereits geltendes Recht sind, erscheint die Umsetzung vielfach nicht vollständig anforderungskonform zu erfolgen. Nicht selten sieht man Barrierefreiheitserklärungen und Feedback-Konzepte, die nicht ausreichend umgesetzt sind. Daher empfiehlt es sich für die öffentliche Hand, die Umsetzung ihrer Mindestpflichten in Bezug auf ihre digitale Barrierefreiheit zu prüfen und zu überwachen.
Privatwirtschaftliche Unternehmen werden ihre gesetzlichen Barrierefreiheitspflichten spätestens ab dem 28. Juni 2025 umsetzen müssen. Warum lohnt es sich aber, sich als Wirtschaftsunternehmen mit den künftigen digitalen Barrierefreiheitspflichten jetzt schon zu beschäftigen?
Die künftigen gesetzlichen Regelungen sehen auch Sanktionsmechanismen vor: Bei Verstößen können die zuständigen Marktüberwachungsbehörden privatwirtschaftlichen Unternehmen die Rücknahme und den Rückruf von Produkten sowie die Einstellung der Erbringung von Dienstleistungen auferlegen. Daneben können Bußgelder von bis zu EUR 100.000 verhängt werden.
Bereits heute bestehen umfangreiche Vorgaben zur Umsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen. Somit ist es Wirtschaftsunternehmen jetzt schon möglich, sich auf ihre künftigen Verpflichtungen zur Barrierefreiheit besonders im Produkt- und Dienstleistungsdesign frühzeitig vorzubereiten.
István Fancsik, LL.M. (London)
Senior Associate
Essen
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