22.10.2018
22.10.2018
Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat die Zustellung an den für den Rechtszug bestellten Prozessbevollmächtigten zu erfolgen. Dies gilt ausweislich der systematischen Stellung des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht nur für den Anwaltsprozess, sondern auch für den Parteiprozess (z.B. vor den Amtsgerichten). Erfolgt die Zustellung bei Bestellung eines Prozessbevollmächtigten an die Partei oder einen sonstigen nicht prozessbevollmächtigten Dritten, so ist die Zustellung vorbehaltlich einer Heilung – so das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der Entscheidung vom 16. Juli 2016 (Beschluss vom 16. Juli 2016 – 2 BvR 1614/14) – unwirksam; nachfolgende Entscheidungen der Gerichte verletzen den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG.
Der erfolgreiche Beschwerdeführer wandte sich gegen eine Entscheidung des Amtsgerichts (AG) Lübeck, durch die er zur Zahlung der Kosten einer ärztlichen Behandlung verurteilt worden war.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens erwirkte gegen den Beschwerdeführer einen Mahnbescheid über eine streitige Summe bei dem zuständigen (zentralen) Mahngericht, hier dem AG Schleswig. Der Beschwerdeführer erhob sodann Widerspruch durch seinen Prozessbevollmächtigten. Gemäß § 696 Abs. 1 und 2 ZPO wurde das Verfahren an das zuständige AG Lübeck abgegeben. Dieses forderte nach Eingang der Klagebegründung den Beschwerdeführer nach §§ 697 Abs. 2, 276 ZPO auf, seine etwaige Verteidigungsabsicht anzuzeigen und auf das Klagevorbringen zu erwidern. Darüber hinaus wies das AG Lübeck den Beschwerdeführer darauf hin, dass das Gericht das Verfahren aufgrund des unter 600 € liegenden Streitwertes gemäß § 495a ZPO nach billigem Ermessen auch schriftlich durchführen und ein Endurteil nach Aktenlage fällen könne, wenn eine Verteidigungsanzeige nicht fristgerecht eingehe.
Diese gerichtliche Verfügung wurde dem sich bereits längere Zeit im Ausland befindlichen Beschwerdeführer persönlich an dessen Wohnanschrift durch Einlegung in den Briefkasten zugestellt. Eine Zustellung der Verfügung an den Prozessbevollmächtigten, der aus dem Widerspruchsformular ersichtlich war, erfolgte hingegen nicht. Da der Beschwerdeführer in Folge seine Bereitschaft zur Verteidigung gegen die Klage nicht angezeigt hatte, hat das AG Lübeck diesen hierauf zur Zahlung der streitigen Summe ohne mündliche Verhandlung verurteilt. Die Berufung hiergegen wurde nicht zugelassen, weil die Beschwer unter 600 € lag (Hintergrund: § 495a ZPO: Streitwert darf EUR 600 nicht übersteigen; § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO: Beschwerdewert muss EUR 600 übersteigen). Das Urteil wurde dem Beklagten anschließend persönlich – nunmehr (aufgrund eines Nachsendeauftrages) an die Anschrift seiner Mutter – übermittelt. Eine Übermittlung an den Prozessbevollmächtigten erfolgte erneut nicht.
Der Beschwerdeführer hat Anhörungsrüge nach § 321a ZPO erhoben und beantragt den Prozess vor dem AG Lübeck fortzuführen, das Endurteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Das AG Lübeck wies die Gehörsrüge jedoch mit Beschluss u.a. deswegen als unbegründet zurück, weil dem Beschwerdeführer die gerichtliche Verfügung mit Klagebegründung zugestellt worden sei und der Beschwerdeführer den Auslandsaufenthalt in keiner Weise belegt habe. Auch dagegen richtete sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde.
Die gegen die Entscheidungen des AG Lübeck gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das BVerfG sah in diesen Entscheidungen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers, welches gemäß Art. 103 Abs. 1 GG garantiert ist.
Durch den Anspruch auf rechtliches Gehör soll der Einzelne nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen können, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Dementsprechend dürfe das Gericht nur solche Tatsachen verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten vorher äußern konnten. Dieses Äußerungsrecht sei eng verknüpft mit dem Recht auf Information, da die Beteiligten nur so zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankomme. Den Gerichten obliege es, von sich aus – ohne einen Antrag oder Erkundigung – den Beteiligten alles für das Verfahren Wesentliche mitzuteilen. Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs sei grundsätzlich den einzelnen Verfahrensordnungen wie der ZPO überlassen. Die prozessrechtlichen Vorschriften über die Ladung, Bekanntgabe und Zustellung dienen dabei der einfachgesetzlichen Umsetzung des Rechts auf Information und stellen sicher, dass der Betroffene von für ihn erheblichen Informationen zuverlässig Kenntnis erhalte.
Wird das Recht auf Gehör durch einen Rechtsanwalt ausgeübt, so habe das Gericht diesem gegenüber die Pflichten aus Art. 103 Abs. 1 GG zu erfüllen. Sei ein Rechtsanwalt bestellt, so nehme dieser die prozessualen Rechte und Möglichkeiten für den gehörberechtigten Beteiligten wahr. So lag der Fall auch hier: Gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat die Zustellung an den Prozessbevollmächtigten zu erfolgen. Eine Zustellung an die Partei sei aufgrund des eindeutigen Wortlauts nicht möglich. Aus dem beim zentralen Mahngericht eingereichten Widerspruchsformular, welches der Prozessbevollmächtigte für den Beschwerdeführer eingereicht hatte, ergab sich für das AG Lübeck zweifelsfrei die Bestellung des Rechtsanwalts.
Zustellungen an die Partei selbst unter Verstoß gegen die Vorschrift des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO seien unwirksam bzw. wirkungslos und setzen Fristen nicht in Lauf. Eine Zustellung an die Partei sei nur noch in ganz besonderen Fällen möglich, wenn das Gesetz diese ausnahmsweise befehle (z.B. § 142 Abs. 2 Satz 2, § 239 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Auch eine Heilung nach § 189 ZPO komme bei Zustellung an die Partei nach dem BVerfG nicht in Betracht. Denn diese Vorschrift setze voraus, dass das zuzustellende Dokument in die Verfügungsgewalt der Person gelangt, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte. Dies war vorliegend allein der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers (§ 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO) und gerade nicht die von ihm vertretene Partei.
In dem Umstand, dass der Beschwerdeführer mangels wirksamer Zustellung der Aufforderung zur Verteidigungsanzeige keine ausreichende Möglichkeit hatte, sich zum Sachverhalt zu äußern und etwaige Einwendungen vorzubringen, liege eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Zwar stelle nicht jede falsche Anwendung der einschlägigen Prozessvorschriften zwingend einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Bei einer willkürlich fehlerhaften oder offensichtlich unrichtigen Gesetzesanwendungen sei dies jedoch der Fall. So lag der Fall nach Auffassung des BVerfG auch hier. Die fehlerhafte Gesetzesanwendung sei insbesondere deshalb offensichtlich, da der Wortlaut des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO den Erwägungen des AG Lübeck ausdrücklich entgegenstehe. Wegen des bereits im Rahmen der Rüge nach § 321a ZPO erhobenen Einwandes der Erfüllung beruhe das Urteil auch auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs.
Bestellt ein Beteiligter, sei es im Anwalts- oder Parteiprozess, einen Prozessbevollmächtigten, so nimmt dieser die prozessualen Rechte und Möglichkeiten für den beteiligten Grundrechtsträger wahr. Soweit dementsprechend das Recht auf Gehör durch einen Rechtsanwalt ausgeübt wird, hat das Gericht ihm gegenüber die Pflichten aus Art. 103 Abs. 1 GG und dessen einfachgesetzliche Ausprägungen zu erfüllen. Das Gericht muss den bestellten Prozessbevollmächtigten während eines anhängigen Verfahrens durchgängig beteiligen und ihm gegenüber die Zustellungen vornehmen (§ 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO), da ansonsten – mangels Heilungsmöglichkeit nach § 189 ZPO bei Zustellung an die Partei – grundsätzlich eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt. Es ist auch möglich bereits im Voraus einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen, indem eine sog. Schutzschrift bei Gericht eingereicht wird. Sobald ein Prozess anhängig wird, müsste dann nicht an die Partei, sondern an den zuvor bestimmte Rechtsanwalt zugestellt werden. Derart kann der Rechtsbeistand, dem der Schriftsatz automatisch durch das Gericht zugesellt wird, zügig eine kompetente Beratung erbringen und angemessen reagieren. Mögliche Fehler des Gerichts können – auch in Eilverfahren – insoweit nachteilig für den Antragssteller sein.
Dr. Stephan Bausch, D.U. |
Julian Schassek |