09.01.2020
Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO findet Anwendung, soweit es um die Frage geht, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung weitere vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hat (haftungsausfüllende Kausalität). Werden unabhängig davon aus der zugrundeliegenden Verletzungshandlung weitere unfallursächliche Primärverletzungen geltend gemacht, unterfallen diese dem Beweismaß des § 286 ZPO (haftungsbegründende Kausalität).
Anlass zur Entscheidung gab ein Verkehrsunfall aus dem Jahr 2010. Der Kläger ist selbstständig und betreibt einen Limousinen-Service. Er befuhr einen vorfahrtsberechtigten Kreisverkehr, als ein in den Kreisverkehr einfahrendes und bei der Beklagten versichertes Fahrzeug seitlich mit dem klägerischen Fahrzeug kollidierte. Eine Einstandspflicht der Beklagten von 100 % war insoweit unstreitig. Sie regulierte daher den am Pkw entstanden Schaden in Höhe von rund 18.000 Euro. Zwischen den Parteien blieb jedoch streitig, ob der Kläger selbst durch den Unfall verletzt wurde.
Fünf Tage nach dem Unfall suchte der Kläger einen Allgemeinarzt auf, welcher ein HWS-Distorsion sowie einen eingeklemmten Innen- und Außenminiskus feststellte. Ein daraufhin veranlasstes MRT bestätigte dies und ergab zusätzlich den Befund einer fortgeschrittenen degenerativen Veränderung des Kniegelenks. In seinem Bericht führte der Radiologe insoweit aus, dass eine Differenzierung zwischen alten und etwaigen neuen, unfallbedingten Schädigungen des linken Kniegelenks nicht möglich sei und stellte eine Arbeitsunfähigkeit von 40 Tagen fest.
Der Kläger machte nunmehr neben einem Schmerzensgeld von 3.000 Euro einen Verdienstausfall von rund 48.000 Euro geltend. Erstinstanzlich wurde die Klage abgewiesen. Nach klägerseitiger Berufung wurden diesem 600 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Hiergegen legten der Kläger Revision und die Beklagte Anschlussrevision ein.
Die Entscheidung
Der Bundesgerichtshof wies die Revision zurück und gab der Beklagten recht. Das Berufungsgericht habe rechtsfehlerfrei einen Schadensersatzanspruch wegen einer unfallursächlichen Knieverletzung verneint, da es sich aufgrund der Beweisaufnahme keine volle richterliche Überzeugung im Sinne des § 286 ZPO dahingehend habe bilden können, dass die streitigen Knieverletzungen von dem Verkehrsunfall herrührten. Bei der Prüfung des Kausalzusammenhanges sei streng zwischen haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität zu unterscheiden. Haftungsbegründend sei der Kausalzusammenhang zwischen Verletzungshandlung und der Rechtsgutsverletzung, dem Verletzungserfolg (Primärverletzung). Insoweit gelte das strenge Beweismaß des § 286 ZPO. Lediglich für aus der Primärverletzung heraus resultierende weitere Gesundheitsschäden (Sekundärschäden) gelte das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO. Nur für solche dürfe dem Gericht eine hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen.
Bedeutung für die Praxis
Der Bundesgerichtshof räumt mit dieser Entscheidung in der Rechtsprechung sowie in der Literatur befürchtete Missverständnisse hinsichtlich der Trennung der Beweismaßstäbe von Primär- und Sekundärschäden aus. Veranlassung zu diesen hatte der VI. Senat selbst gegeben, indem er in einem Beschluss aus dem Jahr 2008 (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14.10.2008 – VI ZR 7/08) ausführte:
„Die Anwendung des § 287 Abs. 1 ZPO ist nicht auf Folgeschäden einer einzelnen Verletzung ([…]) beschränkt, sondern umfasst auch die neben der feststehenden Körperverletzung ([…]) im Sinn des § 823 Abs. 1 BGB entstehenden weiteren Schäden aus derselben Schädigungsursache ([…]).“
Eine derart ausufernde Anwendung des § 287 ZPO, wie sie bisweilen in diese Entscheidung hineingelesen werden konnte, hatte der VI. Zivilsenat aber nicht intendiert und nunmehr eingedämmt. Der Entscheidung liegt ein besonderes Klarstellungsinteresse zugrunde, was bereits daraus ersichtlich wird, dass der erkennende Senat die Revision gegen die Entscheidung der Vorinstanz (Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 20.02.2017 – 10 U 79/15) selbst zugelassen hat, obwohl das Berufungsgericht eine übereinstimmende Ansicht vertreten hat.
Der Senat zeigt anhand einer Übersicht von acht seit 1972 getroffenen Entscheidungen anschaulich auf, dass es gerade nicht ausreicht, den Vollbeweis im Sinne des § 286 ZPO bezüglich lediglich einer Verletzung zu erbringen, um für den Nachweis jeder weiteren möglicherweise aus derselben Schädigungshandlung resultierenden Verletzung das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO anlegen zu können.
Für diesen Fehlschluss bleibt mit der neuerlichen Entscheidung kein Raum mehr. Steht ein bewiesener Primärschaden mit weiteren streitigen Gesundheitsschäden in keinem erkennbaren Ursachenzusammenhang – wie vorliegend zwischen Verletzungen der Halswirbelsäule sowie des linken Kniegelenks – so gilt für die Kausalzusammenhänge bzgl. der weiteren Verletzungen die volle Beweispflicht gemäß § 286 ZPO.
Für die Praxis kann damit abermals festgehalten werden, dass eine saubere Abgrenzung verschiedener Verletzungskomplexe gegeneinander, zur Differenzierung von Primär- und Sekundärschäden, unerlässlich ist, um bestimmen zu können, für welche Tatsachen der Vollbeweis geführt werden muss und an welchen Stellen das erleichterte Beweismaß greift.
Dr. Stephan Bausch
Partner
Rechtsanwalt
Köln
Dr. Christoph Sperling
Associate
Rechtsanwalt