12.05.2015
Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung vom 6. November 2014 (Az.: 2 BvR 2928/10) klar, dass die Durchsuchung von Kanzleiräumen unzulässig ist, wenn hiervon Erkenntnisse zu erwarten sind, die dem Anwaltsprivileg unterliegen.
Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung vom 6. November 2014 (Az.: 2 BvR 2928/10) klar, dass die Durchsuchung von Kanzleiräumen unzulässig ist, wenn hiervon Erkenntnisse zu erwarten sind, die dem Anwaltsprivileg unterliegen.
Das Amtsgericht München hatte im Rahmen der Ermittlung wegen Betrugs- und Körperverletzungsvorwürfen gegen einen Zahnarzt die Durchsuchung der Kanzlei seines Verteidigers angeordnet. Bei der Durchsuchung wurden Kopien von Patientenkarteikarten sowie von einer Rechnung gefunden, auf denen sich jeweils Anmerkungen des Mandanten befanden. Beides wurde beschlagnahmt. Die vom Verteidiger eingelegte Beschwerde wurde sowohl vom Amtsgericht, als auch vom Landgericht verworfen. Erst das Bundesverfassungsgericht hob die bisherigen Entscheidungen auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück ans Landgericht.
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte seine bisherige Rechtsprechung und betonte noch einmal, dass die Durchsuchung der Kanzleiräume trotz der Schwere der erhobenen Vorwürfe unverhältnismäßig war. Eine wirksame und geordnete Rechtspflege setzt voraus, dass die Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant von der Rechtsordnung in besonderem Maße geschützt wird. Um dies zu gewährleisten regelt die Strafprozessordnung, dass die Ermittlungsmaßnahmen gegen einen Rechtsanwalt, die voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würden, über die dieser das Zeugnis verweigern dürfte, unzulässig sind, § 160a Abs. 1 StPO. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht verwendet werden, § 160a Abs. 2 StPO. Hiervon kann nur eine Ausnahme gemacht werden, wenn konkrete Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass ausschließlich Erkenntnisse gewonnen werden, die nicht dem anwaltlichen Zeugnisverweigerungsrecht unterliegen. Hierunter fallen Unterlagen, die nach ihrem Inhalt und Willen gerade für die Kenntnisnahme durch Dritte bestimmt und Grundlage für die Eintragung in einem öffentlichen Register sind. In dem zur Entscheidung stehenden Fall hob das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen der Instanzgerichte auf, da sowohl das Amtsgericht, als auch das Landgericht sich lediglich mit der Beschlagnahmefreiheit von Unterlagen nach § 97 StPO – mit unzutreffendem Ergebnis – befassten und versäumt hatten, diesen Aspekt des § 160 a StPO überhaupt zu prüfen.
Darüber hinaus stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass es bei dieser Prüfung nicht darauf ankommt, ob es sich bei den Dokumenten um Privat- oder Geschäftsunterlagen des Mandanten handelt. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Anwalts umfasst vielmehr alle Dokumente, die in einem Bezug zur Verteidigung stehen. Diesen Bezug sieht das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall als gegeben an, da die Anmerkungen des Mandanten auf den Kopien für seinen Verteidiger bestimmt und als solche nicht mehr von den Kopien zu trennen waren. Die Unterlagen waren deshalb vom Anwaltsprivileg geschützt und durften nicht beschlagnahmt werden.
Durch dieses aktuelle Urteil wird einmal mehr von höchster Ebene bestätigt, dass die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant besonderen Schutz genießt. Der grundrechtlich gewährleistete Anspruch auf ein faires Verfahren gebietet, dass Unterlagen, die ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in einem laufenden Strafverfahren beschafft bzw. angefertigt und seinem Anwalt übergeben hat, in dessen Räumen nicht beschlagnahmt werden dürfen. Die im Gesetz vorgesehene Ausnahme ist dabei äußerst restriktiv anzuwenden. Das Anwaltsprivileg schützt sowohl vor der unzulässigen Beschlagnahme als auch vor der etwaigen Verwertung geschützter Unterlagen im Strafprozess.
Diese Entscheidung ist insbesondere auch für das Kartellverfahren von besonderer Bedeutung. Der vorliegende Fall befasste sich allerdings mit Unterlagen, die beim Anwalt verwahrt wurden. In Kartellverfahren liegen die Fälle typischerweise etwas anders: Dort werden vielfach Unterlagen der Anwaltskorrespondenz vor einer Durchsuchung des Unternehmens beim Unternehmen aufgefunden und werden von den Kartellbehörden bisher – nach unserer Auffassung unzulässigerweise – als beschlagnahmefähig angesehen. Im Rahmen von Compliance-Maßnahmen eines Unternehmens ist daher sehr wohl zu überlegen, welche Dokumente im Unternehmen verwahrt werden. Im Einzelfall kann es hilfreich sein, eine kritische anwaltliche Stellungnahme nicht im Unternehmen aufzubewahren, sondern im ausschließlichen Gewahrsam des Anwalts zu belassen. Unter dieser Regelung leiden insbesondere Syndikusanwälte, denen sowohl nach deutscher als auch EU-Rechtsprechung ein Legal Privilege versagt wird.
Der vorliegende Fall ist ein „klassischer Fall“. Komplizierter wird die Situation jedoch im Rahmen von Internal Investigations. Lässt ein Unternehmen durch eine Anwaltskanzlei Internal Investigations durchführen, wird ein Mandats- und Vertrauensverhältnis zu dieser Anwaltskanzlei begründet. Der Schlussbericht der Internal Investigations ist, wenn er im Gewahrsam der Anwaltskanzlei ist, insofern beschlagnahmefrei. Diese Situation ändert sich jedoch, wenn z. B. die Staatsanwaltschaft gegen ein Vorstandsmitglied wegen eines strafrechtlichen Vorwurfs (z. B. Submissionsbetrug) ermittelt. In einem solchen Fall ist es bereits vorgekommen, dass die Staatsanwaltschaft erfolgreich von der Anwaltskanzlei die Herausgabe des Internal Investigation-Berichts gefordert hat. Begründet wurde dies damit, dass das Vorstandsmitglied – anders als das Unternehmen – kein Mandatsverhältnis zur Anwaltskanzlei begründet hatte. Die Rechtsprechung ist in diesem Bereich noch im Fluss. Es empfiehlt sich auf jeden Fall bei Internal Investigations mit den Arbeitsergebnissen von externen Anwälten sehr umsichtig umzugehen.
Dr. Thomas Kapp, LL.M. (UCLA)
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Karin Hummel, M.A.
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LAG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Januar 2015 – 16 Sa 458/14; Teilurteile und Beschlüsse vom 20. Januar 2015 – 16 Sa 459/14, 16 Sa 460/14
In den Jahren 2012 und 2013 verhängte das Bundeskartellamt gegen GfT, eine ThyssenKrupp-Tochter, Bußgelder von insgesamt 191 Millionen Euro . Das Unternehmen war Mitglied der „Schienenfreunde“ gewesen, eines Kartells von Schienenherstellern. Zusätzlich zum Bußgeld zahlte ThyssenKrupp im Wege eines Vergleichs mehr als 100 Millionen Euro Schadensersatz an die Deutsche Bahn. Forderungen anderer Abnehmer (z. B. Nahverkehrs- und Bauunternehmen) drohten. ThyssenKrupp klagte gegen einen mittlerweile ausgeschiedenen Geschäftsführer der GfT, Herrn Uwe Sehlbach, auf Erstattung der für das Bußgeld und den Vergleich an die Bahn gezahlten Beträge, insgesamt also 291 Millionen Euro. Außerdem wollte ThyssenKrupp vom Gericht feststellen lassen, dass Herr Sehlbach für die Beträge hafte, die ThyssenKrupp den anderen Abnehmern als Schadensersatz werde leisten müssen. Die Begründung jeweils: Herr Sehlbach habe durch die Beteiligung an Kartellrechtsverstößen gegen seine organschaftlichen Pflichten als Geschäftsführer und gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. In zweiter Instanz entschied nun das LAG Düsseldorf, dass Herr Sehlbach für das Bußgeld nicht hafte, ThyssenKrupp hat Revision zum Bundesarbeitsgericht eingelegt. Für den Betrag aus dem Vergleich mit der Bahn sowie die Feststellungsanträge setzte das LAG das Verfahren aus; es will zunächst den Fortgang des derzeit laufenden Strafverfahrens gegen Herrn Sehlbach abwarten.
Mit seinen Klagen vor dem Arbeitsgericht Essen versuchte ThyssenKrupp im Kern, das Unternehmensbußgeld und die zivilrechtliche Haftung des Unternehmens auf Herrn Sehlbach abzuwälzen. Angesichts der astronomischen Beträge ging es offenbar darum, ein Exempel zu statuieren. Von den zivilrechtlichen Ansprüchen der Kunden konnte im Laufe des Verfahrens derjenige der Deutschen Bahn beziffert werden, da zwischenzeitlich der Vergleich über 100 Millionen Euro geschlossen worden war. Hinsichtlich der Ansprüche anderer Kunden konnte nur die Feststellung beantragt werden, Herr Sehlbach hafte für alle künftigen Schäden, die in Zusammenhang mit den Bußgeldbescheiden oder mit dem durch die Staatsanwaltschaft Bochum geführten Verfahren stehen.
Prozesstaktisch entschied sich ThyssenKrupp für drei Klagen. Mit einer sollte Herr Sehlbach in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer gemäß § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. § 619 a BGB belangt werden. Der Vorwurf: Er habe gegen die über Compliance-Regelungen bestehende Weisung verstoßen, das Kartellrecht einzuhalten. Mit der zweiten Klage wurde er in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der GfT gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG in Anspruch genommen. Hier der Vorwurf: Herr Sehlbach habe von den kartellrechtswidrigen Absprachen gewusst bzw. hätte davon wissen müssen, er habe seine Aufsichts-, Organisations- und Legalitätspflicht verletzt. Mit der dritten Klage verlangte die Alleingesellschafterin der GfT – auch deren Geschäftsführer war Herr Sehlbach gewesen – Erstattung des Bußgelds an die Tochtergesellschaft. Herr Sehlbach habe seine der Muttergesellschaft gegenüber bestehenden Pflichten aus § 43 Abs. 2 GmbHG verletzt.
In den Klagen wurden konkrete Handlungen genannt, an denen Herr Sehlbach beteiligt gewesen sein soll. Darunter waren beispielsweise die Anschaffung „neutraler Handys“ im Jahr 2002 zur Verschleierung der Kommunikation unter den Kartellanten, die Beteiligung an einem „Weitermachen-Gespräch“ im August 2004, das Unterlassen der Meldung von Sachverhalten, die auf Kartellverstöße hinwiesen, die Beteiligungen an Preisabsprachen und Angebotsabstimmungen in Bieterverfahren, die Bildung von Quoten sowie die Einteilung von Gebiets- und Kundengruppen innerhalb des Kartells.
Das Arbeitsgericht Essen wies alle Klagen ab. Ein Anspruch auf Schadenersatz bestehe nicht nach § 43 Abs. 2 GmbHG und auch nicht nach § 280 BGB i.V.m. § 619 a BGB, und zwar weder der Höhe noch dem Grunde nach. Das Arbeitsgericht begründete dies im Wesentlichen damit, dass sich aus den von den Klägern vorgetragenen Tatsachen weder die Beteiligung von Herrn Sehlbach an den Kartellabsprachen herleiten lasse noch seine Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis von solchen Absprachen.
ThyssenKrupp legte gegen alle drei Urteile Berufung ein. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf wies die Klagen ebenfalls ab, soweit die Bußgelder betroffen waren, begründet dies aber anders – und mit grundsätzlichen Erwägungen, die für Unternehmen wie leitende Mitarbeiter gleichsam von großer Bedeutung sind. Die Entscheidung, ob Herr Sehlbach für den Schadensersatz, den ThyssenKrupp seinen Kunden gezahlt hatte und noch zahlen müsse, in Regress genommen werden könne, ließ das LAG offen und setzte das Verfahren aus. Das Gericht will zunächst die Erkenntnisse aus dem parallel laufenden Strafverfahren abwarten.
Die Klage der GfT gegen Herrn Sehlbach als Geschäftsführer scheiterte, weil nach Ansicht des LAG Düsseldorf die vom Bundeskartellamt gegen die GfT verhängten Bußen nicht „im Rahmen der Innenhaftung an ihn weitergereicht“ werden können. Zwar haftet ein GmbH-Geschäftsführer nach § 43 Abs. 2 GmbHG im Innenverhältnis für alle Schäden der Gesellschaft, die er aufgrund einer ihm obliegenden Pflicht schuldhaft verursacht. Teil der von ihm geschuldeten Sorgfalt ist die Verpflichtung, Vorschriften des europäischen und deutschen Kartellrechts zu beachten („Legalitätspflicht“). Gleichwohl kam nach Ansicht des Gerichts eine Haftung „von vornherein“ nicht in Betracht. Denn für eine nach § 81 GWB gegen das Unternehmen verhängte Kartellbuße müsse das Unternehmen im Ergebnis selber haften und könne den Geschäftsführer daher nicht in Regress nehmen. Dieser Haftungsausschluss im Innenverhältnis sei vollständig, der Geschäftsführer müsse also auch nicht einen Teil des Unternehmensbußgelds übernehmen. Das Arbeitsgericht Essen hatte noch der Auffassung zugeneigt, ein Regress sei bis zur Höhe der maximalen Buße, die einer natürlichen Person wegen eines Kartellrechtsverstoßes auferlegt werden könne, also bis zur Höhe von 1 Million Euro, möglicherweise zulässig.
Das LAG begründet seine Ansicht auf mehreren Seiten. Sein wesentliches Argument ist: Grundsätzlich muss derjenige die Geldstrafe oder Geldbuße aus seinem eigenen Vermögen aufbringen, der die Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat. Wenn, wie hier, die Rechtsordnung die Bebußung von Unternehmen vorsieht, hat dies den Zweck, das Unternehmen selbst zu treffen. Der darin enthaltene Vorwurf ist der eines Organisationsverschuldens in Form einer nicht ausreichenden Kontrolle der Organe. Das Unternehmen und seine Träger sollen durch „fühlbare Einbußen“ zu einer angemessenen Kontrolle angehalten werden. Das Unternehmen soll sich nicht aus der Verantwortung ziehen können. Das wäre aber der Fall, wenn es die Geldbuße an die für sie handelnden Personen im Rahmen der Innenhaftung weiterreichen könnte.
Nach Ansicht des LAG gilt dieser Grundsatz insbesondere für Kartellbußen gegen Unternehmen. Die Funktion der Buße nach deutschem wie nach EU-Kartellrecht liege darin, die Unternehmen zu veranlassen, das Kartellrecht einzuhalten. Diese Wirkung könne nur eintreten, wenn es dem Unternehmen verwehrt werde, ein Bußgeld im Innenverhältnis auf die für sie handelnden Personen abzuwälzen. Die Geldbuße müsse beim Unternehmen verbleiben und die Unternehmensträger treffen, um deren zukünftiges Verhalten zu beeinflussen.
Die weiteren Argumente des LAG sind wohl eher unterstützend zu verstehen und nicht durchgängig überzeugend. Allerdings trägt der oben dargestellte Grundsatz die Entscheidung auch ohne diese Hilfsargumente. Das LAG meint zum Beispiel, Geldbußen können der Abschöpfung eines wirtschaftlichen Vorteils dienen und sind dann kein Schaden, sondern gleichen eine Bereicherung aus. Ein Regress würde dann im Ergebnis dazu führen, dass die von der Behörde beabsichtigte Abschöpfung des unrechtmäßig erzielten Erlöses beim Unternehmen letztlich vom Geschäftsführer getragen würde. Das ist zwar zutreffend. Das Bundeskartellamt ordnet aber in der Regel keine Vorteilsabschöpfung an. Das LAG stellt auch zu Recht fest, die Kartellbehörde sei nicht verpflichtet, eine Vorteilsabschöpfung anzuordnen. Daraus folge, erster und wichtigster Zweck der Geldbuße sei nicht die Rückabwicklung unerwünschter Vermögensverschiebungen, sondern die Bestrafung des Täters, d. h. des Unternehmens. Dies ist zwar richtig, ist aber kein zusätzliches Argument, sondern schlicht die Erkenntnis, dass das Bußgeld immer Ahndungsfunktion hat. Auch das Hilfsargument, die unterschiedliche Ausgestaltung des oberen Bußgeldrahmens für Unternehmen (10 % seines Gesamtumsatzes) und natürliche Personen (1 Million Euro) laufe ins Leere, wenn das Unternehmen es in der Hand hätte, sein Bußgeld an die insoweit gesetzlich privilegierte natürliche Person weiterzureichen, ist nicht überzeugend, spricht es doch nur für eine Begrenzung und nicht für den vom LAG vertretenen vollständigen Ausschluss des Regresses. Nach Ansicht des LAG machten überdies die deutsche und europäische Kronzeugenregelung deutlich, dass die Verhängung der Geldbußen und deren Höhe ausschließlich auf Unternehmen zugeschnitten seien; überdies habe die natürliche Person keinen oder keinen „herausrechenbaren“ Einfluss darauf, ob das Unternehmen einen Kronzeugenantrag stelle und von einem Erlass oder einer Bußgeldreduzierung profitiere. Überzeugend ist auch dies nicht. Denn das EU-Kartellrecht erlaubt ohnehin nur eine Bebußung von Unternehmen, daher muss die EU-Kronzeugenregelung nichts zu natürlichen Personen vorsehen. Das deutsche Kronzeugenprogramm (die „Bonusregelung“ des Bundeskartellamts) hingegen erstreckt sich ausdrücklich auf „Beteiligte“ und nennt als Beispiel natürliche Personen. Außerdem verweist die vom LAG bezeichnete Schwierigkeit des „Herausrechnens“ verschiedener Schadensbeiträge eher auf ein Problem des Mitverschuldens und rechtfertigt keinen kategorischen Haftungsausschluss.
Angesichts der grundsätzlichen Frage, ob das Unternehmen das Bußgeld ganz oder teilweise auf den Geschäftsführer abwälzen könne, ließ das LAG die Revision zum Bundesarbeitsgericht zu, die mittlerweile eingelegt ist.
Die Klage der GfT-Muttergesellschaft gegen Herrn Sehlbach ließ das LAG Düsseldorf hingegen daran scheitern, dass der Klägerin kein eigener Schaden entstanden sei. Durch die von der Tochtergesellschaft gezahlte Geldbuße war zwar der Wert ihrer Geschäftsanteile gemindert worden. Das sei aber ein so genannter Reflexschaden des Gesellschafters, der nicht ersetzbar sei. Eine in der Rechtsprechung anerkannte Sonderkonstellation, in der Schäden der Gesellschaft als solche des Gesellschafters anerkannt werden könnten, liege nicht vor. Insofern sei die Rechtslage klar. Daher wurde in diesem Verfahren eine Revision nicht zugelassen. Auch wenn es darauf nicht mehr ankam, stellte das LAG fest, dass die Berufung auch deshalb unbegründet sei, weil – wie in dem Verfahren der GfT gegen ihren Geschäftsführer ausgeführt – die Unternehmensbuße nicht auf den Geschäftsführer abgewälzt werden könne.
Demgegenüber nahm das Landesarbeitsgericht nicht dazu Stellung, ob Herr Sehlbach für die zivilrechtliche Haftung von ThyssenKrupp in Regress genommen werden könne. Insoweit setzte das Gericht das Verfahren aus, um eine mögliche Sachaufklärung im parallelen Strafverfahren abzuwarten. Die Staatsanwaltschaft Bochum hatte Anklage erhoben, die Entscheidung über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens stand noch aus. Es seien aber ausreichend Verdachtsmomente vorhanden, die für eine aktive Rolle oder zumindest eine Mitwisserschaft von Herrn Sehlbach sprächen. Es sei zu erwarten, dass diese Umstände im Strafverfahren geklärt würden. Die Abwägung zwischen der Verzögerung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens gegen den möglichen Erkenntnisgewinn im Strafverfahren spreche für eine Aussetzung. Der komplexe Sachverhalt mache eine umfangreiche Aufklärung erforderlich, dazu sei das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren besser geeignet als der Zivilprozess. Ob der Prozess durch die Aussetzung überhaupt verzögert werde, sei überdies fraglich, weil das LAG noch gar nicht in die Beweisaufnahme eingetreten sei. Die Tatsache, dass während des Verfahrensstillstands der Makel der Vorwürfe und die Drohung mit horrenden Schadensersatzforderungen weiterhin auf Herrn Sehlbach lasteten, habe zu wenig Gewicht. Zum einen werde durch das laufende Strafverfahren die Integrität von Herrn Sehlbach ohnehin in Frage gestellt. Zum anderen könne er nach § 149 Abs. 2 ZPO den Antrag stellen, das Verfahren nach einem Jahr fortzusetzen. Die Vorschrift erlaubt dem Gericht allerdings, das Verfahren auch dann für eine längere Dauer auszusetzen, wenn dafür gewichtige Gründe sprechen.
Dr. Helmut Janssen, LL.M. (London)
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Dr. Patricia Rogosch
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Eine Lücke in der kartellrechtlichen Bußgeldhaftung hat in den letzten Wochen erneut durch den deutschen Wurstfabrikanten Clemens Tönnies Aufmerksamkeit erlangt. Tönnies soll es Medienberichten zufolge gelingen, durch Umstrukturierung seines Konzerns Bußgeldern in Höhe von insgesamt 120 Millionen Euro zu entgehen, die vom Bundeskartellamt gegen Gesellschaften seiner Gruppe verhängt worden sind. Das Thema ist nicht neu. Schon im Jahr 2011 hatte der BGH im Fall der Versicherungskonzerne HDI-Gerling entschieden, dass eine Haftung des Rechtsnachfolgers der bebußten Gesellschaft gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoße, solang keine anderweitige gesetzliche Regelung vorliege. Der Gesetzgeber reagierte und schuf mit der 8. GWB-Novelle 2013 eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die Festsetzung einer Geldbuße gegen Rechtsnachfolger. Allerdings schloss er damit die Lücke nur teilweise und hinterließ, wie der Fall Tönnies zeigt, ein Schlupfloch.
Eine Lücke in der kartellrechtlichen Bußgeldhaftung hat in den letzten Wochen erneut durch den deutschen Wurstfabrikanten Clemens Tönnies Aufmerksamkeit erlangt. Tönnies soll es Medienberichten zufolge gelingen, durch Umstrukturierung seines Konzerns Bußgeldern in Höhe von insgesamt 120 Millionen Euro zu entgehen, die vom Bundeskartellamt gegen Gesellschaften seiner Gruppe verhängt worden sind. Das Thema ist nicht neu. Schon im Jahr 2011 hatte der BGH im Fall des Versicherungskonzerns HDI-Gerling entschieden, dass eine Haftung des Rechtsnachfolgers der bebußten Gesellschaft gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoße, solang keine anderweitige gesetzliche Regelung vorliege. Der Gesetzgeber reagierte und schuf mit der 8. GWB-Novelle 2013 eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die Festsetzung einer Geldbuße gegen Rechtsnachfolger. Allerdings schloss er damit die Lücke nur teilweise und hinterließ, wie der Fall Tönnies zeigt, ein Schlupfloch.
Im Bußgeldrecht bestimmt sich die Verantwortlichkeit juristischer Personen für Taten ihrer Mitarbeiter nach § 30 Abs. 1 OWiG. Gemäß dieser Vorschrift kann gegen eine juristische Person ein Bußgeld festgesetzt werden, wenn ein Organ oder ein leitender Mitarbeiter unter Verletzung der jener juristischen Person obliegenden Pflichten eine Ordnungswidrigkeit begangen hat.
Der BGH hatte im Fall „HDI-Gerling“ zu entscheiden, ob sich die Haftung für ein Bußgeld auf den Rechtsnachfolger derjenigen juristischen Person erstreckte, für die der Täter gehandelt hatte. Ein leitender Mitarbeiter der Gerling AG war von 1999 bis 2002 an wettbewerbsbeschränkenden Absprachen vor allem im Bereich der industriellen Sachversicherungen beteiligt gewesen. 2005 erließ das BKartA einen Bußgeldbescheid in Höhe von 19 Millionen Euro gegen die Gerling AG, die dagegen Einspruch einlegte. Im Jahr 2007, während des vor dem OLG Düsseldorf geführten Verfahrens über den Einspruch, wurde die Gerling AG auf die HDI AG verschmolzen. Durch die Verschmelzung war die Gerling AG als juristische Person erloschen; das Kartellbußgeldverfahren richtete sich nunmehr gegen die HDI AG als Rechtsnachfolgerin der Gerling AG. Das OLG Düsseldorf entschied 2010 über den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid und sprach die HDI AG frei. Der BGH verwarf im Jahr 2011 die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des OLG Düsseldorf.
Zur Begründung führte der BGH aus, dass eine Erstreckung der Bußgeld-Haftung im Sinne des § 30 Abs. 1 OWiG auf den Rechtsnachfolger der Person, für die der Täter gehandelt hat, im Bereich von Ordnungswidrigkeiten grundsätzlich aufgrund des Analogieverbotes nach Art. 103 Abs. 2 GG nicht zulässig sei. Nur ausnahmsweise erstrecke sich das Bußgeld auf eine andere juristische Person als diejenige, für die der Täter gehandelt hat. Erforderlich sei dafür, dass die neue juristische Person Gesamtrechtsnachfolgerin der alten juristischen Person sei und zwischen der früheren und der neuen Vermögensverbindung nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise nahezu Identität bestehe. Eine solche wirtschaftliche Identität liege vor, wenn das haftende Vermögen (1.) weiterhin vom Vermögen des gemäß § 30 OWiG Verantwortlichen getrennt, (2.) in gleicher oder in ähnlicher Weise wie bisher eingesetzt werde und (3.) in der neuen juristischen Person einen wesentlichen Teil des Gesamtvermögens ausmache. Die Annahme einer wirtschaftlichen Identität müsse auf Fälle beschränkt bleiben, in denen das Unternehmen unverändert oder doch nahezu unverändert von einem neuen Rechtsträger fortgeführt werde, dessen sonstige Vermögenswerte demgegenüber weitgehend in den Hintergrund treten. Es fehle hingegen dann an einer wirtschaftlichen Identität, wenn Unternehmen mit annähernd gleicher Größe und fast identischen Marktanteilen fusioniert und deren Geschäftsbereich zusammengeführt würden. Das war bei den Industrieversicherungen von HDI und Gerling geschehen.
Nachdem es der Gerling AG so als Folge der Verschmelzung gelungen war, das Bußgeld in Höhe von 19 Millionen Euro zu vermeiden und die Gesetzeslücke anderen Unternehmen bekannt und verlockend wurde, fügte der Gesetzgeber im Juni 2013 mit der 8. GWB-Novelle in § 30 OWiG einen neuen Absatz 2a ein. Dieser enthält eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die Festsetzung einer Geldbuße gegen Rechtsnachfolger. § 30 Abs. 2a OWiG erlaubt es, die Geldbuße gegen den oder die Rechtsnachfolger festzusetzen. Das gilt im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge (d. h. Verschmelzung gemäß §§ 2 ff. UmwG, Vollübertragung gemäß § 174 Abs. 1 UmwG oder Anwachsung) oder einer partiellen Gesamtrechtsnachfolge durch Aufspaltung nach § 123 Abs. 1 UmwG. Eine (nahezu) wirtschaftliche Identität ist zusätzlich zu der Gesamtrechtsnachfolge nicht mehr erforderlich.
Allerdings ist es dem Gesetzgeber nicht gelungen, die Gesetzeslücke gänzlich zu schließen, interessanterweise trotz vorheriger Mahnungen durch das BKartA. Auch jetzt werden nicht alle Arten der Rechtsnachfolge von § 30 Abs. 2a OWiG erfasst. Unternehmen haben somit weiterhin die Möglichkeit, durch Umstrukturierung Kartellbußen ins Leere laufen zu lassen. Denn die neue Vorschrift gilt nicht bei Rechtsnachfolge durch Abspaltung nach § 123 Abs. 2 UmwG, Ausgliederung nach § 123 Abs. 3 UmwG oder einer Einzelrechtsnachfolge, bei der der Rechtsträger einzelne wesentliche oder auch alle Vermögensgegenstände an einen Erwerber überträgt (Asset Deal). Faktisch wird sich freilich meist nur die Ausgliederung als Option anbieten. Mit Blick auf die HDI-Gerling-Entscheidung des BGH ist vorsorglich davon auszugehen, dass die Bußgeld-Haftung auch dann greift, wenn (nahezu) wirtschaftlicher Identität besteht. Das Bußgeld dürfte folglich nur dann ins Leere laufen, wenn bei einem Asset Deal, einer Abspaltung oder einer Ausgliederung zwischen übertragendem Unternehmen und erwerbender Gesellschaft keine wirtschaftliche Identität besteht.
Anders als in Deutschland gilt im EU-Kartellrecht der Grundsatz der wirtschaftlichen Einheit und der gesamtschuldnerischen Haftung im Konzern. Das Unternehmen, bestehend aus der Gesellschaft, aus der heraus der Verstoß begangen wurde, und allen verbundenen Unternehmen ist ausreichender Anknüpfungspunkt für die Bußgeld-Entscheidung. Folglich stellt sich für die Europäische Kommission kein vergleichbares Problem: sie bebußt das verstoßende Unternehmen und kann sich dafür die geeignete Gesellschaft (zumeist mehrere Gesellschaften) aussuchen.
Die zur Zeit noch bestehende deutsche Gesetzeslücke versucht sich offenbar Herr Tönnies zu Nutze zu machen. Das BKartA verhängte im Juli 2014 gegen 21 Unternehmen der Wurstwarenbranche Bußgelder, u.a. gegen die Zur-Mühlen-Gruppe von Herrn Tönnies. Die Bußgelder gegen die Zur-Mühlen-Töchter Böklunder Plumrose in Höhe von 70 Millionen Euro und gegen Könecke in Höhe von 50 Millionen Euro können möglicherweise nicht eingetrieben werden. Grund dafür ist, dass Herrn Tönnies Presseberichten zufolge die werthaltigen Teile und die Produktion der beiden Töchter nach Erlass der Bußgeldbescheide abgespalten und in eine neue Gesellschaft verlagert habe. Von den alten Gesellschaften blieben weitgehend leere Hüllen übrig. Die neuen, aufnehmenden Gesellschaften werden für das Bußgeld der beiden Zur-Mühlen-Töchter aufgrund des Analogieverbots gemäß Art. 103 Abs. 2 GG nicht haften, wenn es Herrn Tönnies gelingt, eine wirtschaftliche Identität der aufnehmenden Gesellschaften mit dem kartellbefangenen Geschäft zu vermeiden. Das dürfte etwa durch die Zusammenlegung von Produktionsanlagen und -personal durchaus möglich sein.
Der Pressewirbel, der durch das Vorgehen von Herrn Tönnies entstanden ist, erhöht den Druck auf das Bundesjustizministerium, sein Versäumnis bei der 8. GWB-Novelle auszubessern. Die Umsetzung der Schadensersatzrichtlinie in deutsches Recht würde dazu eine Gelegenheit bieten. Da damit aber erst in zwei Jahren zu rechnen ist, werden noch so manche Unternehmen eine Umstrukturierung in Erwägung ziehen.
Dr. Helmut Janssen, LL.M. (London)
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Dr. Patricia Rogosch
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OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. Januar 2015, VI-Kart 1/14 [V]
Das OLG Düsseldorf hat das Verbot der Bestpreisklauseln des Hotel-Online-Buchungsportals HRS bestätigt. Das Unternehmen darf daher den Hotels nicht mehr verbieten, ihre Zimmer in anderen Buchungskanälen günstiger oder zu besseren sonstigen Konditionen anzubieten als bei HRS (Bestpreisklausel). Ebenso wenig darf HRS von den Hotels fordern, dass sie Zimmer, die in anderen Buchungskanälen verfügbar sind, auch auf der Online-Plattform von HRS anbieten (Verfügbarkeitsgarantie).
Damit ist ein vorläufiger Höhepunkt im Streit um die kartellrechtliche Zulässigkeit dieser Klauseln erreicht. HRS hat gegen den Beschluss keine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof eingelegt, die vorangegangene Abstellungsverfügung des BKartA (Beschluss vom 20. Dezember 2013, B 9-66/10) ist daher rechtskräftig. Ohnehin wendet HRS die fraglichen Regelungen bereits seit Anfang 2014 nicht mehr an.
Das Bundeskartellamt hat auch die großen Wettbewerber von HRS im Visier: Booking.com hat Anfang April eine Abmahnung des BKartA erhalten; gegen Expedia läuft ebenfalls ein Verfahren. Außerhalb Deutschlands gehen die Kartellbehörden zahlreicher weiterer Länder gegen Bestpreisklauseln der großen Online-Buchungsportale vor, u. a. in Großbritannien, Frankreich, Italien, Schweden, Belgien, Österreich und in der Schweiz.
Das OLG Düsseldorf hat die Abstellungsverfügung des BKartA in allen wichtigen Punkten bestätigt. Danach beschränken die Bestpreisklausel und die Verfügbarkeitsgarantie sowohl den Wettbewerb zwischen den Buchungsportalen als auch den Wettbewerb zwischen den Hotels selbst und verstoßen damit gegen das deutsche und europäische Kartellverbot. Sie führen dazu, dass die bei HRS gelisteten Hotels Zimmer, die sie bei einem konkurrierenden Buchungsportal anbieten möchten, aufgrund der Verfügbarkeitsgarantie auch bei HRS anbieten müssen, und zwar – aufgrund der Bestpreisklausel – zu identischen Übernachtungspreisen. Konkurrierende Buchungsportale können daher von HRS-Vertragshotels keine günstigeren Zimmerangebote erhalten und haben folglich keinen Anreiz, dies beispielsweise mit günstigen Vermittlungspreisen (Provisionen) zu honorieren. Weiterhin werden die Hotels selbst daran gehindert, ihre Zimmer in verschiedenen Buchungskanälen (einschließlich dem Direktvertrieb über die hoteleigene Website oder per Telefon) zu unterschiedlichen Preisen anzubieten.
Während diese Analyse grundsätzlich nachvollziehbar ist und allein die Vielzahl der laufenden Verfahren kaum Zweifel am Willen etlicher Kartellbehörden erkennen lässt, bleiben die sich daran anschließenden Rechtsfragen vielfach ungeklärt. So sind nach der europäischen Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen (Vertikal-GVO) Wettbewerbsbeschränkungen in vertikalen Vereinbarungen bis zu einem Marktanteil der beteiligten Unternehmen von 30 % freigestellt, wenn es sich nicht um eine Kernbeschränkung handelt. Das Gericht zweifelte bereits die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO auf das Verhältnis zwischen HRS und den Vertragshotels insgesamt an, legte sich aber insoweit nicht fest. Gleiches galt für die Frage, ob die Bestpreisklausel (ggfs. gemeinsam mit der Verfügbarkeitsgarantie) eine Kernbeschränkung darstellt, was zu bezweifeln ist.
Stattdessen betonten das OLG Düsseldorf wie auch schon zuvor das BKartA, dass der Marktanteil von HRS ohnehin die 30 %-Schwelle überschreitet – allerdings im Jahr 2013 denkbar knapp. Keine Berücksichtigung fand hierbei der Umstand, dass die dafür maßgebliche Marktabgrenzung im behördlichen und im gerichtlichen Verfahren äußerst umstritten war und der Marktanteil von HRS deutlich gesunken ist, während das Volumen dieses unstreitig äußerst dynamischen und technologielastigen Marktes sich gleichzeitig mehr als verdoppelt hat. Auf den im Jahr 2014 vermutlich weniger als 30 % betragenden Marktanteil von HRS kam es nur deshalb nicht an, weil die mündliche Verhandlung noch im Dezember 2014 stattgefunden hatte.
Auch die Voraussetzungen einer Einzelfreistellung waren nach der Auffassung des OLG Düsseldorf nicht erfüllt. Es konnte bereits die dazu erforderlichen Vorteile für die Verbraucher nicht erkennen, da HRS ohne Bestpreisklausel lediglich allgemein Umsatzrückgänge befürchtet habe. Diese könnten zwar die Investitionsanreize für das Portal senken, der entsprechende Zusammenhang sei aber nicht konkret nachgewiesen worden.
Das BKartA hatte sich in seiner Abstellungsverfügung noch ausführlicher mit dem damit zusammenhängenden sog. Trittbrettfahrer-Problem auseinandergesetzt, also dem Umstand, dass Hotels die als solche kostenlose Werbetätigkeit von HRS für ihre Zimmer in Anspruch nehmen können („Billboard-Effekt“), um ihre Zimmer dann auf anderen Portalen oder direkt zu günstigeren Übernachtungspreisen und dementsprechend geringeren Provisionskosten zu vermarkten. Das OLG Düsseldorf argumentierte in diesem Zusammenhang lediglich, HRS werde sich bei Umsatzeinbußen „eine Strategie überlegen, wie sie die Attraktivität ihres Portals […] steigern kann“.
Damit bleiben die Argumente zur fehlenden Freistellung der fraglichen Klauseln insgesamt wenig überzeugend, und etliche Rechtsfragen, die gerade für die Anwendung der kartellrechtlichen Regelungen auf die Internetwirtschaft bedeutsam sind, bleiben weiterhin unbeantwortet. Allerdings lag der Vorwurf des BKartA ohnehin auf der Schwere der Wettbewerbsbeschränkung im konkreten Marktumfeld. Die Behörde hatte während des Verwaltungsverfahrens gegenüber HRS sogar in Aussicht gestellt, den Vorteil der Gruppenfreistellung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen der Vertikal-GVO erfüllt sein sollten – ein in der Praxis äußerst seltenes Vorgehen.
Andere Kartellbehörden sind kompromissbereiter. Ende April teilten die Behörden in Frankreich, Italien und Schweden mit, eine Verpflichtungszusage von Booking.com zu akzeptieren, wonach die Bestpreisklausel in Bezug auf andere Online-Buchungsportale aufgegeben wird, so dass dasselbe Zimmer dort also zukünftig günstiger angeboten werden darf. Auch bei Offline-Buchungen (z. B. telefonisch beim Hotel, an der Rezeption oder in Reisebüros) darf ein günstigerer Preis verlangt werden, sofern dieses Angebot nicht auch im Internet (einschließlich der eigenen Website des Hotels und Smartphone-Apps) beworben wird.
Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)
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Franz-Rudolf Groß, LL.M. (London)
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EU-Kommission propagiert „Digitalen Binnenmarkt“ – Sektoruntersuchung zum Internethandel angekündigt
Die EU-Kommission hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts und die Beseitigung der diesbezüglichen Hürden. Mit der Ausdehnung der EU-Binnenmarktfreiheiten auf die digitale Welt sollen Wachstum und Beschäftigung in der EU gefördert werden. Am 25. März 2015 legte Vizepräsident Ansip seine Pläne für einen „Digitalen Binnenmarkt“ vor. Schon einen Tag später gab die EU-Wettbewerbskommissarin Vestager bekannt, dass die Kommission den Internethandel nunmehr einer detaillierten Prüfung unterziehen werde. Internethändler stehen demzufolge im Verdacht, den grenzüberschreitenden Wettbewerb im Internethandel z. B. durch „Geoblocking“ zu beschränken. Gestützt wird dies u.a. auf den statistischen Befund, dass zwar die Hälfte aller Verbraucher in der EU im Internet, jedoch nur etwa 15 % davon in Onlineshops außerhalb ihres eigenen Landes einkaufen. Rechtliche Grundlage hierfür sind die Vorschriften über die sog. Sektoruntersuchung, die eine allgemeine Untersuchung eines bestimmten Wirtschaftszweiges gestatten, sofern ein Anfangsverdacht für eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs im Binnenmarkt besteht. Bis die Untersuchungsergebnisse vorliegen, vergehen erfahrungsgemäß zwei bis drei Jahre. Die Sektoruntersuchung kann dabei sowohl in eine gesetzgeberische Maßnahme (Verordnung oder Richtlinie) als auch in individuelle Verfahren gegen einzelne oder eine Vielzahl von Marktteilnehmern münden.
Zur Durchführung der Sektoruntersuchung verschickt die Kommission in der Regel umfangreiche Fragebögen an Unternehmen. Die Kommission hat dabei die Wahl zwischen dem einfachen (freiwilligen) oder förmlichen (zwingenden) Auskunftsverlangen. Kommt der Adressat einer förmlichen Auskunftsentscheidung nicht nach, droht ein Bußgeld. Ein Bußgeld kann jedoch auch dann verhängt werden, wenn Fragen falsch, unvollständig oder irreführend beantwortet werden. Dies gilt auch beim einfachen (freiwilligen) Auskunftsersuchen. Die Sektoruntersuchung soll sich schwerpunktmäßig auf den Handel mit digitalen Inhalten, Bekleidung und elektronischen Geräten konzentrieren. Dabei ist damit zu rechnen, dass auch Lieferanten und Abnehmer des Internethandels sowie einschlägige Verbände zur Beantwortung der Fragen aufgefordert werden.
Laut Kommission steht der zwischenstaatliche Internethandel im Fokus der Sektoruntersuchung. Da die Zuständigkeit der Kommission nur bei grenzüberschreitenden Sachverhalten begründet ist, ist dies auch nicht verwunderlich. Abzuwarten bleibt jedoch, ob die Kommission diesen Rahmen einhalten oder sich letztlich doch den Internethandel in seiner gesamten Breite vornehmen wird. Immerhin sind Kernfragen der kartellrechtskonformen Ausgestaltung des Internethandels nach wie vor nicht geklärt, z. B. die Zulässigkeit des Verbots von Vertrieb auf Online-Plattformen zur Gewährleistung eines einheitlichen Markenauftritts sowie der zulässige Umfang des Schutzes von „brick stores“ mit Beratungs- und Produktpräsentationsleistungen gegenüber reinen Onlinehändlern, die auf solche Investitionen verzichten und deshalb häufig niedrigere Preise kalkulieren können.
Bislang bestehen keine detaillierten regulatorischen Vorgaben für den Internethandel. Kommission und Bundeskartellamt erheben bislang – auf Basis der allgemeinen kartellrechtlichen Regeln, insbesondere der Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Verträge (V-GVO) – lediglich die Forderung, dass der Internethandel zwar in gewissen Grenzen ausgestaltet, aber im Kern nicht verboten oder beschränkt werden dürfe. Denn das Verbot des Internethandels beinhalte eine unzulässige Kundengruppenbeschränkung im Sinne des Art. 4 lit. b der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung. Wenngleich der EuGH ein absolutes Verbot des Internethandels als Kernbeschränkung gem. Art. 4 V-GVO gewertet hat (EuGH-Entscheidung Pierre Fabre), ist gerichtlich nicht abschließend geklärt, wann die (zulässige) Ausgestaltung des Internethandels in eine (unzulässige) Beschränkung übergeht. Eventuell wird hier die Kommission nachbessern.
Nach Auffassung des Bundeskartellamts sind Unternehmen und deren Rechtsvertreter dazu aufgerufen, selbst kreative Lösungen für die typischen Fragen des Internethandels zu finden – so der ausdrückliche Appell von Vertretern des Bundeskartellamts. Ganz in diesem Sinne haben sich verschiedene Unternehmen schon aufgemacht, die Grenzen des Kartellrechts auszuloten. De facto hat das Bundeskartellamt dieser Kreativität aber bisher enge Grenzen gesetzt – es hat in einer Reihe von Pilotverfahren unter Androhung schärferer Sanktionen die Pioniere dazu veranlasst, verschiedene Klauseln ihrer Vertriebsverträge wieder aufzugeben. Einer der prominentesten Fälle ist der des Sportartikelherstellers adidas, der seinen Händlern den Verkauf über sog. offene Online-Marktplätze (eBay, Amazon Marketplace) untersagt hatte. Nach Auffassung des Bundeskartellamts stellt das pauschale Verbot des Verkaufs über Online-Plattformen in diesem Fall eine kartellrechtswidrige Wettbewerbsbeschränkung dar. Das „Trittbrettfahrerproblem“ könne kein Pauschalverbot rechtfertigen. Anders eventuell das Argument des Markenschutzes, das im Einzelfall beachtlich sein könne. Zu einer Entscheidung des Bundeskartellamts kam es jedoch nicht, da das Verfahren – wegen der Aufgabe der betreffenden Beschränkungen – eingestellt wurde.
Die Erfahrungen in der Vergangenheit zeigen, dass eine – in der Regel aufwendige – Sektoruntersuchung nur selten zu dem Ergebnis führt, dass alle Bedenken, die der Kommission Anlass zu ihrer Untersuchung gegeben haben, im Ergebnis unbegründet waren und die Kommission die Akte ohne jegliche Konsequenzen für den betreffenden Sektor schließt. Es ist daher zu erwarten, dass die Sektoruntersuchung eine – ggf. auch grundsätzliche – Neuordnung des Internethandels durch die EU-Kommission nach sich zieht. Die betroffenen Unternehmen sind daher gefordert, ihre Interessen – gleich auf welcher Seite des Internethandels sie stehen – zu vertreten, da noch völlig offen ist, wie sich die Kommission positionieren wird. Eines dürfte jedoch sicher sein: Es wird mehr Regulierung geben!
Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)
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Karin Hummel, M.A.
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Speaker's Corner: Gesetzliche Regelung zur strafmindernden Berücksichtigung von Compliance-Programmen bei Kartellrechtsverstößen?
Nach wie vor ist umstritten, inwieweit die strafmindernde Berücksichtigung von Compliance-Programmen bei der Bußgeldberechnung gesetzlich geregelt werden soll. Der Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) hat im vergangenen Jahr hierfür einen Gesetzesvorschlag ausformuliert. Danach sollen in einer Neufassung von § 130 OWiG konkrete Compliance-Pflichten normiert werden, deren Umsetzung bei der Berechnung des Unternehmensbußgeldes nach § 30 OWiG mildernd berücksichtigt werden soll. Aus der Sicht des BUJ ist eine gesetzliche Regelung aus kriminalpolitischen Gründen unumgänglich. Die Bereitschaft, Compliance Management Systeme im Unternehmen zu etablieren, ist nach Ansicht des BUJ erheblich größer, wenn die mitunter sehr kostenintensiven Maßnahmen auch bei der Bußgeldberechnung honoriert werden. Wie bei allen unternehmerischen Aktivitäten stellt sich also auch hier die Frage, ob das Unternehmen aus der Investition in Compliance auch einen finanziellen Vorteil ziehen kann.
Nach derzeitiger Gesetzeslage haben Unternehmen hierauf keinen Anspruch. Es steht lediglich im Ermessen der Kartellbehörde, Compliance-Programme bei der Berechnung von Kartellrechtsbußgeldern zu berücksichtigen. Das Bundeskartellamt ist bislang sehr zurückhaltend, hierfür allgemeingültige Standards zu definieren. Es besteht die Gefahr, dass solche Standards dem individuellen Einzelfall nicht gerecht werden. In der Praxis verhielt sich das Bundeskartellamt vielfach zurückhaltend, wenn es darum ging, Compliance-Programme bei der Bußgeldberechnung zu berücksichtigen. Aus der Sicht des Bundeskartellamts können jedenfalls Compliance-Programme, die den festgestellten Kartellrechtsverstoß nicht verhindern konnten, nicht bußgeldmindernd berücksichtigt werden. Dagegen berücksichtigt die Kommission Compliance-Programme grundsätzlich nicht strafmildernd, da diese nach Auffassung der Kommission nichts an der Tatsache der Zuwiderhandlung und deren Schwere ändern. Von der EU-Rechtsprechung wird dies gebilligt (so auch der EuGH im Fall Schindler, vgl. Newsletter 1/2014, S. 4). Anders hingegen in USA: Dort wird die Existenz eines Compliance-Programms ausdrücklich als mildernder Umstand anerkannt.
Die bereits erwähnte kritische Position vertrat das Bundeskartellamt auch bei dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie im Herbst 2014 veranstalteten Workshop, bei dem mit Vertretern des Justizministeriums, des Bundeskartellamts, von Verbänden, von Unternehmen, der Wissenschaft und Anwälten über Notwendigkeit und mögliche Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung diskutiert wurde. Ausgangspunkt war die Frage, ob es tatsächlich einer gesetzlichen Regelung bedarf, um Rechtssicherheit zu schaffen und positive Anreize zu setzen, oder ob eine gesetzliche Regelung dies ohnehin nicht leisten kann. Einigkeit herrscht darüber, dass selbst eine sehr viel intensivere Förderung von Compliance-Maßnahmen auch künftig Kartellabsprachen nicht wird verhindern können. Befürworter der gesetzlichen Regelung aus Anwaltschaft und Wirtschaft betonen jedoch, dass es nach dem Vorbild anderer Länder auch in Deutschland Ziel sein muss, ein verbindliches Compliance-Anreizsystem zu entwickeln und gesetzlich zu verankern, um die inzwischen entwickelte Compliance-Kultur nachhaltig zu stärken. Langfristig kann Compliance im unternehmensinternen Wettbewerb um Budgetmittel nur bestehen, wenn mit der Installation eines Compliance Systems auch finanzielle Vorteile einhergehen, wie auch schon der BUJ hervorgehoben hat. Insofern spricht die Anreizwirkung nach überwiegender Ansicht der Teilnehmer des Workshops für eine gesetzliche Regelung, auch wenn das deutsche Recht in diesem Fall von der derzeitigen Praxis des EU-Rechts abweicht.
Aus der Sicht der Behörde sollte eine gesetzliche Regelung gewährleisten, dass sich Unternehmen nicht durch den Hinweis auf ein installiertes Compliance-System aus der Verantwortung ziehen können, ohne dass dessen Wirksamkeit erwiesen ist. Diesen Nachweis sollte aus der Sicht des Bundeskartellamts das Unternehmen erbringen müssen. Im Übrigen hat sich herauskristallisiert, dass für eine gesetzliche Regelung im Kern dasselbe gilt wie beim derzeitigen Vorgehen des Bundeskartellamts: Eine zu allgemeine Vorgabe zur Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen bietet den Unternehmen nur wenig Rechtssicherheit – eine zu detaillierte Vorgabe könnte sich im Einzelfall als unbefriedigend erweisen, da sie dem Unternehmen ein „Zwangskorsett“ umlegt, welches die individuellen Strukturen und Gegebenheiten eines Unternehmen nicht berücksichtigen kann. Der Gesetzgeber steht damit einmal mehr vor der Herausforderung, eine praktikable Lösung für diesen Konflikt zu finden.
Dr. Thomas Kapp, LL.M. (UCLA)
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Karin Hummel, M.A.
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Die Unternehmen Evonik Degussa und AkzoNobel haben vor dem Europäischen Gericht (EuG) nicht erreichen können, dass die Europäische Kommission die nachträgliche Veröffentlichung einer ausführlichen Fassung einer Kartellentscheidung unterlassen muss (Beschlüsse vom 28. Januar 2015, Rs. T-341/12 und 345/12). Die Klägerinnen waren Beteiligte des Bleichmittelkartells. AkzoNobel war mit weiteren sechs Kartellanten im Jahr 2006 mit einer Geldbuße in Höhe von insgesamt 388 Millionen Euro belegt worden. Degussa war als Kronzeuge ohne Geldbuße aus dem Verfahren hervorgegangen. Im Jahr 2007 hatte die Europäische Kommission die erste Kurzfassung der Kartellentscheidung veröffentlicht. Die Kommission entschied indes im Jahr 2012, dass manche der Daten nicht mehr schutzwürdig sind, und veröffentlichte eine umfassende Entscheidungsfassung.
Das Gericht erläuterte, der Fall sei anders zu beurteilen als die Rechtssachen, in denen die EuGH-Urteile Pfleiderer und Donau Chemie (Rs. C-360/09 bzw. C-536/11) ergangen sind. Denn die Anfechtung betreffe nicht den Zugang zu Dokumenten zur Vorbereitung von Schadensersatzverfahren, sondern die von der Kommission beabsichtigte Veröffentlichung bestimmter Informationen, die in Dokumenten oder Erklärungen enthalten sind, die ihr im Rahmen des Kronzeugenprogramms freiwillig übermittelt wurden. In der Veröffentlichung liege insbesondere kein Verstoß gegen das Gebot der Unparteilichkeit und den Grundsatz der Waffengleichheit. Der Veröffentlichung könne damit nicht widersprochen werden, weil diese geeignet ist, das geschäftliche Ansehen der Kartellanten zu verschlechtern und so deren geschäftliche Interessen zu beeinträchtigen. In einer Abwägung gehe das Interesse der Öffentlichkeit und der durch die Zuwiderhandlung geschädigten Personen vor. Diese sollten Einzelheiten erfahren können, um gegebenenfalls ihre Rechte gegenüber den mit der Sanktion belegten Unternehmen geltend zu machen. Ferner liege in der Bewahrung vor Schadensersatzansprüchen kein schutzwürdiges Interesse. Auch der abstrakte Schutz von Kronzeugenprogrammen, deren Attraktivität künftig bei der weitergehenden Veröffentlichungspraxis der Kommission womöglich leiden könnte, könne das Begehren nicht rechtfertigen. Es handle sich nicht um spezifische Interessen der Klägerinnen. Allein der Kommission obliege es, unter den gegebenen Umständen die Wirksamkeit der Kronzeugenregelung einerseits und das Interesse der Öffentlichkeit und der Wirtschaftsbeteiligten auf Information und Rechtsschutz andererseits gegeneinander abzuwägen. Das EuG stützte sich im Übrigen auch auf die ständige Rechtsprechung, wonach Zeitverlauf Einfluss auf die Schutzwürdigkeit von Daten hat. Danach besteht grundsätzlich keine Vertraulichkeit mehr, wenn die Daten mehr als fünf Jahre alt sind.
Nachdem das Bundeskartellamt am 3. Dezember 2014 eine einstweilige Anordnung im Verfahren zur Prüfung des Zusammenschlussvorhabens EDEKA/Tengelmann erlassen hatte, um einen vorzeitigen Vollzug von Teilen der Fusion zu verhindern (wir berichteten hierzu im NL Quartal 1/2015, S. 10 f.), hat die Behörde am 1. April 2015 die Übernahme von Kaiser's Tengelmann durch EDEKA untersagt. Der Zusammenschluss führe zu einer Verdichtung der bereits stark konzentrierten Märkte u.a. in Berlin, München, Oberbayern und größeren Städten in Nordrhein-Westfalen. Vielerorts verblieben nur EDEKA und REWE mit ihren Discountern Netto und Penny. Die Zunahme der Marktanteile betrage im Regelfall weit über 10 %. Die Auswahlmöglichkeiten des Verbrauchers vor Ort würden bei einer Übernahme erheblich reduziert. Es würden durch die Beseitigung einer bedeutenden Wettbewerbskraft für die verbliebenen Wettbewerber zudem unerwünschte Preiserhöhungsspielräume geschaffen. Auch der Einfluss bei der Beschaffung von Markenartikeln durch EDEKA, REWE sowie die Schwarz-Gruppe mit Kaufland und Lidl gegenüber den Wettbewerbern würde weiter steigen, da mit Tengelmann eine Absatzalternative verschwindet. Der Mittelstand verlöre mit Tengelmann als Teil einer Einkaufskooperation außerdem einen wichtigen Partner. Daher komme es durch die Fusion zu einer erheblichen Wettbewerbsbehinderung auch auf Beschaffungsmärkten des Lebensmitteleinzelhandels. Dass Kaiser's Tengelmann bundesweit nur einen geringen Marktanteil hat, ließ das Bundeskartellamt nicht als Gegenargument gelten.
Die Fusionspartner und Beigeladenen hatten nach der Abmahnung des Vorhabens vom 17. Februar 2015 Kompromisslösungen unterbreitet. Diese waren bei der Behörde indes nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Zulassen wollte das Amt allein den Erwerb von rund 100 Kaiser's Tengelmann-Standorten und 70 Biomarkt-Filialen. Für den Fall der Untersagung haben die Fusionspartner bereits früh gerichtliche Schritte angekündigt. Am 29. April haben sie nunmehr Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) um eine Ministererlaubnis gemäß § 42 GWB ersucht.
Mit einer Entscheidung vom 3. März 2015 hat das Bundeskartellamt dem Betreiber des Factory Outlet Centers Wertheim Village (VR Franconia GmbH) untersagt, sog. Radiusklauseln in den Verträgen mit Markenartikelherstellern zu verwenden. Darüber hatte die VR Franconia GmbH Markenartikelherstellern verboten, Ladenlokale in einem anderen Factory Outlet Center oder individuelle Geschäfte innerhalb eines Radius von in der Regel 150 km um die Stadt Wertheim zu eröffnen. Dies stellt nach dem Bundeskartellamt eine wesentliche Behinderung von Factory Outlet-Betreibern dar, die neu in den Markt eintreten wollen. Da nach den Erhebungen des Bundeskartellamts die Kunden des Factory Outlet Centers Wertheim überwiegend aus einem Umkreis von 100 km stammten und im Center auf der Durchreise einkauften, ginge das Wettbewerbsverbot im konkreten Fall sogar über den räumlich relevanten Markt hinaus. Die Klausel sei unverhältnismäßig, zudem liege eine unzulässige Beschränkung der Handlungsfreiheit von Mietern vor. Es werde der Wettbewerb zwischen dem Factory Outlet Center Wertheim und aktuellen oder potenziellen Wettbewerbern beschränkt. Das Bundeskartellamt stufte vor diesem Hintergrund Radiusklauseln als unzulässig ein, soweit sie über einen Luftradius von 50 km und eine Laufzeit von fünf Jahren hinausgehen.
Das Bundeskartellamt hat am 29. Januar 2015 die missbräuchliche Vergabe von Wegerechten durch Titisee-Neustadt gerügt. Die Gemeinde muss nun das Auswahlverfahren neu und diskriminierungsfrei durchführen, mit der es einen Anbieter für den Betrieb der städtischen Netze bestimmt. Das Bundeskartellamt stellte sich mit seiner Entscheidung gegen die Bevorzugung städtischer Eigenbetriebe bei der Vergabeentscheidung im Zusammenhang mit dem „Trend zur Rekommunalisierung“. Dem stünden die gesetzlichen Vorgaben klar entgegen. Diese müssten von den Gemeinden eingehalten werden, da sie bezüglich der Wegerechte als marktbeherrschend einzustufen sind. Im vorliegenden Fall sah das Bundeskartellamt den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung als gegeben an. Es seien u.a. bestimmte Bieter in ungerechtfertigter Weise einseitig bevorzugt und rechtswidrige Auswahlkriterien angewendet worden. Das Vorgehen von Titisee-Neustadt stehe auch mit den klarstellenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Sachen Konzessionsvergabe aus den Jahren 2013 und 2014 nicht in Einklang (vgl. hierzu auch NL Quartal 2/2014, S. 3). Die von Titisee-Neustadt beantragte Aussetzung des Verfahrens wegen der Erhebung einer Kommunalverfassungsbeschwerde gegen die Regularien der Konzessionsvergabe hat das Bundeskartellamt abgelehnt. Alle Zivil- und Verwaltungsgerichte hätten insoweit die Verletzung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie verneint.
Das belgische Unternehmen Cartel Damage Claims S.A. ist mit seiner Berufung vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf (Urteil vom 18. Februar 2015, Az.: VI U 3/14) gegen ein Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 17. Dezember 2013 (Az.: 37 O 200/09) nicht durchgedrungen. Bereits das Landgericht hatte das Geschäftsmodell von Cartel Damage Claims abgelehnt, das die Bündelung einer Vielzahl von Schadensersatzansprüchen über vorherige Abtretungen vorsieht. Cartel Damage Claims hatte die Forderungen jeweils für 100 Euro gekauft und eine Beteiligung von bis zu 85 % bei Realisierung der Forderung versprochen. Das Landgericht verneinte damals zunächst die Aktivlegitimation von Cartel Damage Claims zur Geltendmachung der Ansprüche mangels Erlaubnis zur geschäftsmäßigen Einziehung fremder Forderungen unter dem damaligen Rechtsberatungsgesetz. Auch eine Heilung durch die erneute Abtretung nach Registrierung von Cartel Damage Claims gemäß dem geltenden Rechtsdienstleistungsgesetz stufte es als nichtig ein. Im Fall des Prozessverlustes könne Cartel Damage Claims die Prozesskosten nicht tragen, worunter der Prozessgegner ggf. zu leiden habe. Im Übrigen seien die erneut abgetretenen Ansprüche bereits verjährt gewesen. Wegen der Unwirksamkeit der Klagen komme auch keine Verjährungshemmung durch Klageerhebung in Betracht.
Hintergrund der „Sammelklage“ von Cartel Damage Claims, deren Umfang auf rund 131 Millionen Euro beziffert wird, waren die Kartellrechtsverstöße mehrerer Zementhersteller in den Jahren 1988 bis 2002. Diese waren vom Bundeskartellamt im Jahr 2003 mit Geldbußen in Höhe von insgesamt 660 Millionen Euro belegt worden. Cartel Damage Claims hat am 26. März 2015 mitgeteilt, dass sie keine Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH einlegen werde. Als Begründung wurden u.a. wirtschaftliche Risiken angeführt. Das Urteil des OLG Düsseldorf wird damit rechtskräftig.
Der österreichische Oberste Gerichtshof (OGH) hat am 28. November 2014 unter Verwerfung beschränkender nationaler Gesetze entschieden, dass Schadensersatzkläger Einsicht in Akten der Wettbewerbsbehörden erhalten müssen, um ihren Anspruch durchsetzen zu können (Az.: 16Ok10/14b). Der OGH verwies bei der Auslegung des § 39 Abs. 2 des österreichischen Kartellgesetzes, der die Akteneinsicht Dritter von der Zustimmung der Parteien abhängig macht, auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Donau Chemie (Rs. C-536/11) und stellte die Unanwendbarkeit der nationalen Norm fest. Schadensersatzbegehren dürften im nationalen Recht nicht praktisch unmöglich sein. Entscheidend für die Gewährung von Akteneinsicht sei im Rahmen der im konkreten Fall vorzunehmenden Abwägung einmal das Alter der Informationen. Das Gericht verwies insoweit darauf, dass die Geldbuße bereits im Jahr 2002 verhängt worden und weitere Schadensersatzansprüche verjährt seien. Außerdem mangele es an Schutzwürdigkeit, da in den Akten keine Kronzeugenanträge enthalten waren.
Die holländische Kartellaufsicht (Autoriteit Consument en Markt – kurz „ACM“) hat gegen vier Private-Equity-Gesellschaften der Investoren CVC und BCP Geldbußen in Höhe von insgesamt 2,4 Millionen Euro verhängt. Die Entscheidung steht im Zusammenhang mit Verstößen von am Mehlkartell beteiligten Unternehmen aus den Jahren 2001 bis 2007. Grundlage für die Geldbuße ist die Auffassung der Behörde, dass die über Fondsgesellschaften gehaltene Beteiligung an Unternehmen, die gegen das nationale Kartellrecht verstoßen, die Verhängung eines Bußgelds gegenüber den beteiligten Investmentfirmen rechtfertigen kann. Voraussetzung für eine eigenständige Haftung im Rahmen der „Parental Liability Doctrine“ sei ein bestimmender Einfluss der Investmentfirmen über die Kartellanten. Dies kann nach der holländischen Behördenentscheidung aber auch bei Minderheitsgesellschaftern der Fall sein (z. B. bei im Gesellschaftsvertrag verankerten Vetorechten und Einfluss im Aufsichtsrat). Der Investor CVC hielt beispielsweise während der gesamten Dauer des Kartells nur 40 % der Anteile an dem Mehlproduzenten und Kartelltäter Meneba. Im konkreten Fall hatte der Investor aber als einziger Gesellschafter das Recht, Gesellschafterbeschlüsse mit einem Veto zu unterbinden.
Der Umstand, auch einen Minderheitsgesellschafter zu belangen, unterscheidet den niederländischen Fall von der Verhängung einer Geldbuße durch die Europäische Kommission gegen den Investor Goldman Sachs im Kartell für Hochspannungs-Energiekabel (Erdkabel und Unterwasserkabel) im April 2014. Hier hatte eine Kapitalbeteiligung von Goldman Sachs an dem Kartellanten Prysmian von nahezu 100 % vorgelegen.
Die Entscheidungspraxis der Behörden verdeutlicht allerdings insgesamt, dass die Einwände von Investoren, sie seien nicht am laufenden Tagesgeschäft beteiligt oder hätten kein Wissen von dem rechtswidrigen Verhalten gehabt, vor den Behörden regelmäßig keine wirksame Verteidigungslinie darstellen kann. Auch die zwischenzeitliche Beendigung der Beteiligung schützt den Investor nicht, wie im Fall von Goldman Sachs deutlich wurde. Allein der schwer zu führende Nachweis, dass der Investor das Verhalten der Tochter tatsächlich in keiner Weise beeinflusst hat, kann den betroffenen Unternehmen gegebenenfalls im Einzelfall helfen.
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