26.06.2015
Neue Regelungen über die Geschlechterquote im Aufsichtsrat und die Zielgrößen für die Frauenbeteiligung. Am 6. März 2015 hat der Bundestag das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst beschlossen. Das Gesetz zielt darauf ab, eine gleichberechtigte Teilhabe und Repräsentanz von Frauen auch in den Führungspositionen der deutschen Wirtschaft und in der Bundesverwaltung sicher zu stellen.
Neue Regelungen über die Geschlechterquote im Aufsichtsrat und die Zielgrößen für die Frauenbeteiligung
Am 6. März 2015 hat der Bundestag das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst beschlossen. Das Gesetz zielt darauf ab, eine gleichberechtigte Teilhabe und Repräsentanz von Frauen auch in den Führungspositionen der deutschen Wirtschaft und in der Bundesverwaltung sicher zu stellen.
Durch das Gesetz soll mittelfristig der Frauenanteil signifikant verbessert werden. Dies soll in der Privatwirtschaft zum einen dadurch erreicht werden, dass ab dem 1. Januar 2016 in Deutschland eine Geschlechterquote von 30 % in den Aufsichtsräten der großen börsennotierten Unternehmen verpflichtend ist. Zum anderen werden börsennotierte oder mitbestimmte Unternehmen verpflichtet, sich selbst Zielgrößen für den Frauenanteil bei der Besetzung des Vorstands und der Geschäftsführung, des Aufsichtsrats und der obersten Führungsebenen zu setzen. Parallel zu den Regelungen für die Privatwirtschaft werden die Bestimmungen für den öffentlichen Dienst des Bundes entsprechend neu gefasst, die im Wesentlichen die Vorgaben zur Geschlechterquote und zur Festlegung von Zielgrößen in der Privatwirtschaft widerspiegeln. Das Gesetz ist weitgehend zum 1. Mai 2015 in Kraft getreten.
Das Gesetz verpflichtet Unternehmen, die sowohl börsenno-tiert als auch paritätisch mitbestimmt sind, ab dem 1. Januar 2016 den Aufsichtsrat zu mindestens 30 % aus Frauen und zu mindestens 30 % aus Männern zu besetzen. Es müssen also beide Geschlechter zu mindestens 30 % vertreten sein, wobei in der Praxis allein die anteilmäßige Besetzung mit Frauen relevant ist. Voraussetzung für die Anwendung der Geschlechterquote ist neben der Börsennotierung des Unternehmens, dass das Unternehmen der paritätischen Mitbestimmung unterliegt (vgl. § 96 Abs. 2 und Abs. 3 AktG). Die paritätische Mitbestimmung richtet sich nach dem Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) für Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Mitarbeitern sowie nach dem Montanmitbestimmungsgesetz (Montan-MitbestG) für Unternehmen der Montanindustrie bereits bei mehr als 1.000 Mitarbeitern. Die Quotenregelung betrifft deutschlandweit rund 100 Unternehmen.
Nach einem Urteil des LG Frankfurt (Beschluss vom 16. Februar 2015 – 316 O 1/14 – nicht rechtskräftig) könnte fraglich werden, welche Mitarbeiter für die Ermittlung der Mitarbeiterzahl mitzuzählen sind. Bisher gilt, dass sich die Mitarbeiterzahl im Konzern auf Basis der in Deutschland beschäftigten Mitarbeiter berechnet. Das LG Frankfurt hingegen meint, dass auch solche Mitarbeiter, die bei Tochtergesellschaften im Ausland beschäftigt sind, mitzuzählen sind (vgl. auch die Entscheidungsbesprechung in diesem Newsletter). Sollte diese Entscheidung Bestand haben, könnte die paritätische Mitbestimmung und dementsprechend die Geschlechterquote für weitaus mehr Unternehmen gelten als bisher gedacht.
Die Geschlechterquote muss durch den Aufsichtsrat insgesamt im Wege der Gesamterfüllung erreicht werden, d.h. es müssen nicht Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite den gleichen Anteil dazu beitragen. Jede Seite hat jedoch ein Widerspruchsrecht. Im Fall des Widerspruchs ist die Quote (anteilig) von jeder Seite separat zu erfüllen. Ergibt sich nachträglich eine Änderung der anteilmäßigen Besetzung einer Seite, z.B. durch Ausscheiden eines Mitglieds des Geschlechts in der Minderzahl, kann diese Seite auch nachträglich der Gesamterfüllung widersprechen mit der Folge, dass ab diesem Zeitpunkt die quotenmäßige Besetzung wieder durch jede Seite getrennt erreicht werden muss. Eine Nachbesetzung kann daher nur nach den Vorgaben der Geschlechterquote erfolgen.
Die Mindestzahl der Aufsichtsratsmitglieder beider Geschlechter wird errechnet, indem die Gesamtzahl der Aufsichtsrats-mitglieder mit 0,3 multipliziert wird. Bei der Berechnung ist nach allgemeinen Grundsätzen mathematisch auf volle Zahlen aufzurunden, wenn die für die Quote zu erfüllende Personenzahl bei 0,5 oder mehr liegt, und abzurunden, wenn der Wert unter 0,5 liegt. Es können sich daher Rundungsdifferen zen ergeben. Insgesamt muss die Quote jedoch mindestens 30 % für jedes Geschlecht betragen.
Die Quote ist für Wahlen und Entsendungen ab dem 1. Januar 2016 verpflichtend. Wird die Quote ab diesem Zeitpunkt nicht erfüllt, sind bis zum Erreichen der Quote Neubesetzungen nur mit dem unterrepräsentierten Geschlecht vorzunehmen. Bestehende Mandate können bis zu ihrer regulären Besetzung weiter wahrgenommen werden. Eine Wiederwahl ist jedoch anschließend nicht mehr bzw. nur im Rahmen der Quotenregelungen möglich.
Verstößt eine Besetzung gegen die Geschlechterquote, ist sie nichtig. Der Aufsichtsratsposten bleibt damit unbesetzt. Der Aufsichtsrat bleibt gleichwohl im Rahmen der allgemeinen Regelungen beschlussfähig (vgl. § 108 AktG). Wird die Abstimmung im Rahmen einer Blockwahl durchgeführt und nach dem Ausgang der Abstimmung die Quote nicht erreicht, ist fraglich, ob die Wahl insgesamt oder nur hinsichtlich der Kandidaten des Mehrheitsgeschlechts unwirksam ist. Zur Vermeidung von Rechtsunsicherheiten kann es taktisch empfehlenswert sein, im Rahmen einer Einzelwahl abzustimmen. Kommt es zu einem Antrag auf gerichtliche Bestellung eines Aufsichtsrates durch den Vorstand nach § 104 AktG, muss auch das Gericht bei der Neubesetzung die Quote beachten und darf nur einen Vertreter des unterrepräsentierten Geschlechts bestellen.
Die Neuregelung im Aktiengesetz stellt nicht auf die Eignung und Qualifikation des Bewerbers ab. Diese ist weiterhin im Rahmen der allgemeinen Auswahlkriterien bei der Besetzung von Aufsichtsratspositionen zu berücksichtigen, bleibt jedoch bei der quotenmäßigen Besetzung außer Betracht.
Die Mindestquote von 30 % für Männer und Frauen gilt gleichermaßen für die Besetzung des Aufsichtsrats bei der SE. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass sich der Aufsichtsrat oder das Verwaltungsorgan der SE nach dem jeweiligen abgeleiteten nationalen Recht paritätisch aus derselben Zahl von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern zusammensetzt. Da bei der SE die Besetzung des Aufsichtsrats regelmäßig in einer Vereinbarung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt wird, sind die Regelungen zum Widerspruch nicht anwendbar. Es kommt nur die Gesamterfüllung in Frage.
Kritik wird an der Neuregelung der Geschlechterquote im Aufsichtsrat unter anderem deshalb geäußert, weil es sich um eine starre Quote handelt, die nicht an die Eignung und Qualifikation der Kandidaten für die zu besetzende Position anknüpft. Dies ist anders als bei den vergleichbaren Regelungen für den öffentlichen Dienst, wo die Bevorzugung des unterrepräsentierten Geschlechts nur dann zulässig ist, wenn beide Bewerber die gleiche Qualifikation aufweisen. In der Nichtberücksichtigung von Qualifikation und Eignung kann zum einen ein Verstoß gegen Art. 3 GG liegen, da in die Rechte des unterlegenen Bewerbers eingegriffen wird, ohne dass dies verhältnismäßig wäre. Zum anderen kann die fehlende Berücksichtigung der Qualifikation auch europarechtlich bedenklich sein. Der EuGH verlangt in seiner Rechtsprechung, dass eine Quotenregelung nicht absolut und unbedingt gelten darf. In jedem Einzelfall ist zusätzlich eine objektive Beurteilung notwendig, bei der alle die Personen der Bewerber betreffenden Kriterien zu berücksichtigen sind. Ob das Gesetz den verfassungs- und europarechtlichen Bedenken standhält, bleibt abzuwarten. Bis zu einer gerichtlichen Klärung dieser Frage kann versucht werden, etwaigen Risiken durch unternehmensinterne Regelungen vorzubeugen.
Auch Gesellschaften, die entweder börsennotiert oder mitbestimmt sind, sind von dem Gesetz erfasst. § 76 Abs. 4 AktG (bzw. § 36 GmbHG, § 9 GenG) definiert nicht, welche Unternehmen „der Mitbestimmung unterliegen“. Nach derzeit wohl einhelliger Auffassung ist hiermit nur die Mitbestimmung auf Unternehmensebene gemeint, nicht auch die betriebliche Mitbestimmung durch den Betriebsrat. Unter die Regelung fallen neben den Unternehmen, die der paritätischen Mitbestimmung nach dem MitbestG oder dem Montan-MitbestG unterliegen, auch Unternehmen, die nach dem Drittelbeteiligungsgesetz (DBG) mitbestimmt sind. Dies sind Unternehmen, die in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigen.
Inhaltlich geht es um die Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil, die innerhalb einer bestimmten Frist für die Besetzung des Vorstands oder der Geschäftsführung, des Aufsichtsrats sowie der beiden Führungsebenen unterhalb von Vorstand oder Geschäftsführung zu erreichen sind. Dem Unternehmen wird somit die Verpflichtung auferlegt, sich selbst Ziele für die Verbesserung des Frauenanteils in Führungspositionen zu setzen. Anders als bei der Neuregelung über die Geschlechterquote im Aufsichtsrat geht es bei den Zielgrößen nur um den Frauenanteil, nicht um eine gleichmäßige Berücksichtigung beider Geschlechter.
Das zuständige Gremium im Unternehmen legt für den Frauenanteil der jeweiligen Zielgruppe eine Zielgröße fest. Der bei der Festlegung bereits erreichte Frauenanteil darf dabei nicht unterschritten werden, es sei denn, dieser liegt über 30 %.
Zielgruppen sind neben dem Vorstand der AG bzw. der Geschäftsführung der GmbH und dem Aufsichtsrat die beiden Führungsebenen unterhalb des Vorstands. Maßgeblich sind die tatsächlich im konkreten Einzelfall bestehenden
Hierarchieebenen, soweit es sich hierbei um Personalebenen mit Leitungsaufgaben handelt. Im Einzelnen ergibt sich wegen der unterschiedlichen Strukturen vieler Unternehmen Unsicherheit darüber, für welche Hierarchieebenen Zielgrößen festzulegen sind. Hieraus können sich auch Gestaltungsmöglichkeiten für das Unternehmen ergeben.
Ferner legt das Gremium eine Frist fest, innerhalb derer der festgelegte Frauenanteil zu erreichen ist. Die Frist darf erstmals nicht länger als bis zum 30. Juni 2017 dauern. Anschließend beträgt die Höchstfrist 5 Jahre. Unternehmen, für die die starre Geschlechterquote für die Besetzung des Aufsichtsrats gilt, erfüllen automatisch auch die Zielgrößen-Regelungen. Die erstmalige Festlegung von Zielgrößen hat bis zum 30. September 2015 zu erfolgen. Für Unternehmen, die vom Anwendungsbereich des Gesetzes erfasst sind, besteht daher zeitnah eine Handlungspflicht.
Die Folgen im Fall der Nichterfüllung sind weniger einschneidend als bei der Besetzung des Aufsichtsrates bei paritätisch mitbestimmten und börsennotierten Unternehmen. Die Nichteinhaltung der selbst gesetzten Zielgrößen führt zu einer Begründungspflicht im Lagebericht nach § 289 a Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 und Abs. 4 HGB. Weitere gesetzliche Sanktionen sind nicht geregelt.
Diskutiert wird jedoch, ob nicht in der Verfehlung selbstgesteckter Ziele ein Indiz für eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) liegen kann. Nach der Gesetzesbegründung sollen Unternehmen gerade nicht durch Sanktionen von der Setzung ehrgeiziger Ziele abgehalten werden. Es widerspräche damit dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, die Nichterreichung selbstgesteckter Zielgrößen zu sanktionieren, auch nicht über den Umweg des AGG.
Martina Ziffels
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Die Sicherheit am Arbeitsplatz ist durch einen Dschungel von Gesetzen und Verordnungen geregelt. Da gibt es z.B. das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), die Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), die Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV), die Biostoffverordnung (BioStoffV), die Gefahrsstoffverordnung (GefStoffV), die Verordnung zu künstlicher optischer Strahlung (OStrV) und die Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Verwendung von Arbeitsmitteln – Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV). Ein verwirrendes Geflecht, das Regelungen für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz bringen soll. Wie sollen Unternehmen da noch den Durchblick behalten? Dieser Artikel unternimmt den Versuch einer Entwirrung.
Den betrieblichen Arbeitsschutz kann man sich als Kommode mit vielen Schubladen vorstellen. Jede Schublade einhält einen Gefahrenbereich. Es gibt die Schubladen für spezielle Gefahrenbereiche, wie die ArbStättV für die sichere Einrichtung der Arbeitsräume, die LärmVibrationsArbSchV für den Schutz vor Lärm und Vibration, die BioStoffV für den Schutz vor Gefahren, die von biologischen Arbeitsstoffen ausgehen, die GefStoffV für den Umgang mit gefährlichen Chemikalien und die OStrV für die Gefährdung durch Laserstrahlen. Diese Schubladen werden nur geöffnet, wenn Arbeitnehmer durch die speziell in ihnen geregelten Gefahren betroffen sind. Daneben gibt es die große allgemeine Schublade des ArbSchG zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit, die immer dann geöffnet wird, wenn keine speziellen Gefahren bestehen. Als weitere große allgemeine Schublade gibt es die BetrSichV, die Auffangregelungen für alle Arbeiten enthält, die mit Arbeitsmitteln ausgeführt werden und keiner speziellen Gefahr unterliegen.
Die Frage, welche Schublade im Einzelfall zu öffnen ist, also die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Arbeitssicherheitsgesetzen und -verordnungen, ist nicht immer einfach. So unterfallen etwa Gefährdungen, die bei der Arbeit mit einem Arbeitsmittel an einem elektrischen Schaltschrank entstehen, mangels spezieller Regelung der Betriebssicherheitsverordnung. Dagegen unterfällt die Gefährdung durch giftige Stoffe bei der Verarbeitung von Elektronikmaterial auch dann der GefStoffV, wenn die Gefahrstoffe durch eine Tätigkeit mit Arbeitsmitteln freigesetzt werden. Geht die Gefahr in diesem Fall allerdings nicht von dem Gefahrstoff als solchem, sondern von Gefahren der Arbeitsmittel aus, zum Beispiel weil diese scharfe Kanten haben, ist wiederrum die Betriebssicherheitsverordnung anwendbar.
Zur Umsetzung der europäischen Arbeitsmittelbenutzungsrichtlinie 2009/104/EG wurde die Betriebssicherheitsverordnung modernisiert und gilt in ihrer novellierten Form seit dem 1. Juni 2015. Die neu geschaffenen Regelungen sollen für Unternehmen mehr Klarheit und Rechtssicherheit bringen.
Die Betriebssicherheitsverordnung zählt zum Kernbestand des Deutschen Arbeitsschutzrechts. Die Bezeichnung der Verordnung führt leicht in die Irre. Die Betriebssicherheitsverordnung regelt nicht umfassend die betriebliche Sicherheit, sondern den Schutz vor Gefährdungen durch die Verwendung der vorhandenen Arbeitsmittel. Arbeitsmittel sind Werkzeuge, Geräte, Maschinen und Anlagen, die für die Arbeit verwendet werden. Dabei gilt die neue Betriebssicherheitsverordnung nicht nur für die vom Arbeitgeber gestellten Werkzeuge, sondern auch für die von Beschäftigten selbst beschafften Arbeitsmittel. Der Arbeitgeber trägt daher die Verantwortung für alle in seinem Betrieb verwendeten Gerätschaften, selbst wenn er diese nicht selbst beschafft hat. Nunmehr eindeutig geregelt ist, dass die so genannten überwachungsbedürftigen Anlagen, wie Aufzugsanlagen oder Biogasanlagen, Arbeitsmittel sind.
Die Betriebssicherheitsverordnung schützt die Gesundheit von Beschäftigten bei der Verwendung von Arbeitsmitteln. Der Verwendungsbegriff ist weit zu verstehen und umfasst jegliche Tätigkeit mit Arbeitsmitteln, wie insbesondere Montieren, Installieren, Bedienen, An- oder Abschalten, Gebrauchen, Betreiben, Instandhalten, Reinigen, Prüfen, Umbauen, Erproben, Demontieren, Transportieren und Überwachen.
Arbeitsmittelsicherheit beginnt bereits mit der Anschaffung von geeigneten Arbeitsmitteln. Arbeitgeber dürfen nur geeignete Arbeitsmittel anschaffen, die nicht selbst schon Sicherheitsmängel aufweisen. Dies bedeutet, dass die Arbeitsmittel allgemeinen Vorschriften wie denen des Straßenverkehrsrechts oder des Produktsicherheitsrechts genügen müssen. Bei selbst hergestellten oder wesentlich umgebauten Arbeitsmitteln muss der Arbeitgeber selbst dafür einstehen, dass diese sicher konstruiert sind.
Kernstück des Arbeitsmittelrechts ist die Gefährdungsbeurteilung. Arbeitgeber müssen prüfen, welchen Gefährdungen die Beschäftigten im Rahmen ihrer betrieblichen Tätigkeit durch Arbeitsmittel ausgesetzt sind und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, um diesen Gefährdungen zu begegnen (§ 5 Abs. 3 Nr. 3, § 3 Abs. 1 Satz 1 BetrSichV). Dabei sind sowohl der Zustand als auch die Handhabung des Arbeitsmittels zu berücksichtigen. Der Arbeitgeber kann Gebrauchs- und Bedienungsanleitungen der Hersteller heranziehen, soweit diese auf die Einsatzbedingungen im Betrieb anwendbar sind. Erst wenn die Gefährdungen beurteilt und die erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen worden sind, darf der Arbeitgeber ein Arbeitsmittel verwenden lassen (§ 4 Abs. 1 BetrSichV). Die Betriebssicherheitsverordnung verlangt eine detaillierte Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung. Die Gefährdungsbeurteilung ist ein fortlaufender Prozess. Der Arbeitgeber muss regelmäßig überprüfen, ob alle Schutzeinrichtungen intakt sind und benutzt werden und ob sich die Bedingungen verändert haben.
Die Betriebssicherheitsverordnung verpflichtet den Arbeitgeber zur Unterweisung jedes Beschäftigten über Gefährdungen und Schutzmaßnahmen sowie über das sicherheitsgerechte Verhalten an seinem Arbeitsplatz (§ 12 BetrSichV). Abgesehen von einfachen Werkzeugen muss der Arbeitgeber zudem eine Anweisung für jedes Arbeitsmittel erstellen. Die Unterweisung muss in einer für den Beschäftigten verständlichen Form und Sprache erfolgen. Dies bedeutet, dass bei ausländischen Arbeitnehmern ohne ausreichende Sprachkenntnisse eine Übersetzung notwendig werden kann. Die Unterweisung ist mindestens jährlich zu wiederholen und schriftlich zu dokumentieren.
Deutlich erweitert wurden mit der neuen Arbeitssicherheitsverordnung die Bußgeldtatbestände. § 22 Abs. 1 BetrSichV sieht 42 Ordnungswidrigkeitstatbestände vor, die zum Beispiel bei Versäumnissen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung oder Verstößen gegen die Unterweisungspflicht greifen.
Das Arbeitsschutzrecht macht an den Grenzen des Arbeitsvertrages nicht halt. Arbeitgeber sind nicht nur für die Arbeitssicherheit der eigenen Arbeitnehmer verantwortlich, sondern auch für unternehmensfremde Dritte, die im Betrieb des Arbeitgebers tätig werden und hierdurch Gefahren ausgesetzt sind.
Das rechtliche Bedürfnis nach Schutz für unternehmensfremde Dritte wird besonders deutlich bei Leiharbeitnehmern, die ein Entleiher im Betrieb einsetzt. Der Leiharbeitnehmer wird in die Betriebsorganisation des Entleihers eingegliedert und obliegt dem Direktionsrecht des Entleihers. Er ist somit den gleichen Gefahren ausgesetzt, wie die eigenen Beschäftigten des Arbeitgebers. Damit Leiharbeitnehmer im Hinblick auf Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz das gleiche Schutzniveau wie andere Beschäftigte des entleihenden Unternehmers genießen, unterliegt die konkrete Tätigkeit des Leiharbeitnehmers beim Entleiher den im Betrieb des Entleihers geltenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Arbeitsschutzrechts (§ 11 Abs. 6 Satz 1 AÜG).
Nicht gesetzlich geregelt ist die Behandlung von anderen betriebsfremden Dritten, wie Werkvertragsarbeitnehmern, im Rahmen des Arbeitsschutzes. Grundsätzlich hat der Auftraggeber den Auftragnehmer bei Abschluss des Werkvertrags zu verpflichten, die im Auftraggeberbetrieb geltenden Unfallverhütungsvorschriften und sonstigen technischen Regeln zu beachten. Im Übrigen muss sich die Verantwortlichkeit für den Arbeitsschutz daran messen lassen, wie weit der Werkvertragsarbeitnehmer in Prozessabläufe des Auftraggebers integriert ist. Je umfangreicher Weisungsrechte hinsichtlich der Ausführung von Arbeiten beim Auftraggeber liegen und je mehr die betrieblichen Verhältnisse des Auftraggebers bestimmte Maßnahmen erforderlich machen, desto mehr nimmt dessen Verantwortung zu. Hat der Auftraggeber Vorrichtungen und Gerätschaften bereitzustellen, muss er das von diesen Arbeitsmitteln ausgehende Gefährdungsrisiko tragen.
Der Betriebsrat ist an der Durchführung und Gestaltung des Arbeitsschutzes im Betrieb zu beteiligen. Der Betriebsrat ist nach § 89 BetrVG verpflichtet, sich an der Bekämpfung von Unfall- und Gesundheitsgefahren zu beteiligen und sich für die Durchführung der Vorschriften über den Arbeitsschutz im Betrieb einzusetzen.
Die Förderung des Arbeitsschutzes ist nach § 80 Abs. 1 Nr. 9 BetrVG eine elementare Aufgabe des Betriebsrats. Für die Überwachung der Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften hat der Betriebsrat das Recht auf rechtzeitige und umfassende Unterrichtung. Auch sind dem Betriebsrat auf Verlangen jederzeit die zur Durchführung dieser Aufgaben erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen.
Nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ist der Betriebsrat an Regelungen zur Ausfüllung öffentlich-rechtlicher Vorschriften des technischen Arbeitsschutzes zu beteiligen. Das Mitbestimmungsrecht umfasst ein Initiativrecht des Betriebsrats. Voraussetzung hierfür ist, dass den Betriebsparteien in den gesetzlichen Regelungen ein Spielraum für konkretisierende betriebliche Bestimmungen zum Arbeitsschutz eingeräumt wird. Dies ist insbesondere der Fall bei den auf Grundlage des ArbSchG erlassenen Rechtsverordnungen, wie z.B. die BetrSichV, die BildscharbV, die GefStoffV oder die LasthandhabV. Ein typischer Regelungsgegenstand von Betriebsvereinbarungen sind Regelungen zur Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung. Zu beachten ist, dass die Mitbestimmung des Betriebsrats auf die Konkretisierung des Arbeitsschutzes, nicht aber auf die Anhebung des Schutzniveaus gerichtet ist.
Das Recht der betrieblichen Arbeitssicherheit ist ein weites Feld und für den juristischen Laien kaum zu überblicken. Arbeitgeber machen sich schnell angreifbar, wenn gesetzliche Regelungen nicht eingehalten werden. Dies gilt nicht nur vor dem Hintergrund von drohenden Bußgeldern, sondern auch im Rahmen von Schadensersatzansprüchen nach einem Arbeitsunfall. Handelt ein Arbeitgeber den gesetzlichen Unfallverhütungs- und Arbeitsschutzvorschriften zuwider, spricht eine Vermutung dafür, dass der Unfall bei Beachtung der Vorschriften vermieden worden wäre. Es ist für Arbeitgeber deshalb von erheblicher Bedeutung, sich rechtzeitig und umfassend mit dem Thema Arbeitssicherheit auseinander zu setzen.
Sandra Sfinis
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Kann ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer vor seinem Wechsel in eine Teilzeittätigkeit mit weniger Wochenarbeitstagen Urlaub nicht nehmen, darf nach der Rechtsprechung des EuGH die Zahl der Tage des bezahlten Jahresurlaubs wegen des Übergangs in eine Teilzeitbeschäftigung nicht verhältnismäßig gekürzt werden.
Die Parteien stritten um die Gewährung drei weiterer Urlaubstage für das Kalenderjahr 2010. Das Arbeitsverhältnis der Parteien unterlag dem Anwendungsbereich des TVöD. Der Kläger wechselte mit Wirkung zum 15. Juli 2010 von einer Vollzeittätigkeit (Arbeitszeit verteilt auf fünf Wochenarbeitstage) in eine Teilzeittätigkeit (Arbeitszeit verteilt auf vier Wochenarbeitstage). Nach § 26 Abs. 1 Satz 2 TVÖD stand dem Kläger ausgehend von einer Fünftagewoche ein jährlicher Erholungsurlaub im Umfang von 30 Tagen zu.
Im Jahr 2010 hatte der Kläger bis zum Wechsel in die Teilzeittätigkeit noch keinen Erholungsurlaub gewährt bekommen. Anlässlich des Wechsels rechnete die Beklagte den dem Kläger zustehenden Erholungsurlaub entsprechend der Teilzeittätigkeit um und legte eine Viertagewoche zugrunde. Die Beklagte vertrat die Auffassung, dass dem Kläger für das Kalenderjahr 2010 insgesamt 24 Urlaubstage zustünden. Sie begründete ihre Auffassung damit, dass dem Kläger für das gesamte Kalenderjahr 2010 4/5 des tariflichen Erholungsurlaubes zu gewähren seien und stützte sich hierzu auf die bisherige Rechtsprechung des BAG.
Der Kläger vertrat die Auffassung, ihm stünden für das Kalenderjahr 2010 drei weitere, also insgesamt 27 Urlaubstage zu, nämlich 15 Urlaubstage für die erste Jahreshälfte und 12 Urlaubstage für die zweite Jahreshälfte (4/5 von 15 Urlaubstagen).
Das Arbeitsgericht Frankfurt a.M. gab der Klage statt. Das Landesarbeitsgericht Hessen wies die Klage auf die Berufung der Beklagten ab. Hiergegen legte der Kläger die Revision ein.
Ausweislich der Pressemitteilung des BAG hatte die Revision Erfolg. Das BAG hielt die von der Beklagten vorgenommene Umrechnung des Urlaubsanspruchs für rechtswidrig und sprach dem Kläger einen Anspruch auf drei weitere Urlaubstage für das Kalenderjahr 2010 zu.
Zwar regele § 26 Abs. 1 TVöD unter anderem, dass sich der für die Fünftagewoche festgelegte Erholungsurlaub bei einer Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf weniger als fünf Wochenarbeitstage vermindere. Allerdings verstoße die Norm gegen das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitkräften und sei daher unwirksam, soweit sie die Zahl der während der Vollzeittätigkeit erworbenen Urlaubstage mindere. Denn könne ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer vor seinem Wechsel in eine Teilzeittätigkeit mit weniger Wochenarbeitstagen den ihm zustehenden Urlaub nicht nehmen, dürfe der bereits erworbene Urlaubsanspruch nach der Rechtsprechung des EuGH wegen des Übergangs in eine Teilzeitbeschäftigung nicht verhältnismäßig gekürzt werden.
Einmal mehr gibt das BAG ein Stück seiner Urlaubsrechtsprechung auf und schließt sich dem EuGH an. Dessen Rechtsprechung lässt eine eindeutige Richtung erkennen: Bei einem Wechsel von einer Vollzeittätigkeit in eine Teilzeittätigkeit darf keine nachträgliche Umrechnung des im Vollzeitarbeitsverhältnis erworbenen Urlaubsanspruchs erfolgen. Der Umfang des einmal erworbenen Urlaubs bleibe auch bei einer Reduzierung der Wochenarbeitstage erhalten und dürfe nicht pro-rata-temporis gekürzt werden.
Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass der EuGH und nunmehr auch das BAG davon ausgehen, dass die Umrechnung des Urlaubsanspruchs „wegen“ der Teilzeittätigkeit erfolgt sei und diese Handhabung eine Teilzeitdiskriminierung darstelle. Die Umrechnung erfolgte aber unmittelbar wegen der Veränderung der Wochenarbeitstage, was erstens nicht zwangsläufig zu einer Teilzeittätigkeit führt und was zweitens Ausdruck des dem deutschen Urlaubsrecht zugrundeliegenden Tagesprinzips folgt. Die „Tirol“-Entscheidung des EuGH vom 22. April 2010 – C-486/08 betraf hingegen das österreichische Urlaubsrecht, wonach der einem Arbeitnehmer zustehende Erholungsurlaub in Stunden berechnet wird, sog. Stundenprinzip. Dies stellt einen grundlegend anderen Ansatz dar und führt dazu, dass die Reduzierung der Wochenarbeitszeit sich unmittelbar auf den Umfang des Urlaubsanspruchs auswirkt – unabhängig von der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage.
Zudem ist die vorliegende Entscheidung des BAG zu einem unter einem Aspekt deutlich anders gelagerten Sachverhalt ergangen als sämtliche vorherigen Entscheidungen des EuGH: Die bisherigen Urteile betrafen stets Sachverhalte, in denen die Arbeitnehmer an der Ausübung ihres Urlaubsanspruchs aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen gehindert waren. Neben Mutterschutz oder Elternzeit war langfristige Erkrankung ein Grund, warum während des gesamten Bezugszeitraums und/ oder des Übertragungszeitraums der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausgeübt werden konnte. Insoweit sind die Entscheidungen in den Rechtsangelegenheiten „Heimann“ und „Toltschin“ vom 08. November 2012 – C-229/11 und C-230/11 unter Hinweis auf die Rechtsangelegenheit „Schultz-Hoff“ vom 20. Januar 2009 – C-350/06 und C-520/06 sowie die Entscheidung in der Rechtsangelegenheit „Dominguez“ vom 24. Januar 2012 – C-282/10 zu nennen. Vor diesem Hintergrund bestehen Zweifel daran, ob die Rechtsprechung des EuGH, der seine Ablehnung einer nachträglichen Anwendung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes stets mit der Einschränkung verbunden hat, dass eine Umrechnung nur dann nicht in Betracht komme, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich nicht die Möglichkeit gehabt habe, seinen Anspruch auszuüben, auf den vorliegenden Fall zwingend anzuwenden war.
Mit der Entscheidung hat sich eine vollständige Kehrtwendung der bisherigen BAG-Rechtsprechung vollzogen. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG war für die Berechnung des Urlaubsanspruchs die Arbeitszeitverteilung im Erfüllungszeitraum maßgeblich, nicht im Bezugszeitraum. Dies hat sich nun grundlegend geändert: Maßgeblich für die Berechnung des Urlaubsanspruchs ist die Arbeitszeitverteilung im Bezugszeitraum, nicht im Erfüllungszeitraum. Auf die Gründe, warum der Urlaub während der Vollzeittätigkeit nicht genommen wurde, scheint es nicht anzukommen. Eine Umrechnung bereits erworbener Urlaubsansprüche wird in allen Fallkonstellationen abgelehnt, in denen die Wochenarbeitstage im laufenden Urlaubsjahr reduziert werden.
Dr. Jennifer Rasche
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Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 98/59/EG ist in dem Sinne auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer vorsieht, wenn innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20 Arbeitnehmer eines einzelnen Betriebs eines Unternehmens entlassen werden, nicht aber, wenn die Gesamtzahl der Entlassungen in allen Betrieben oder in bestimmten Betrieben eines Unternehmens innerhalb desselben Zeitraums die Schwelle von 20 Arbeitnehmern erreicht oder übersteigt.
Dem Urteil liegt eine Rechtsstreitigkeit zwischen einer englischen Gewerkschaft auf der einen Seite und zwei englischen Kaufhausketten auf der anderen Seite zugrunde. Die beiden Kaufhausketten waren landesweit im Einzelhandel tätig und betrieben zahlreiche Ladengeschäfte. Die beiden Kaufhausketten wurden zahlungsunfähig und wurden unter Insolvenzverwaltung gestellt. Das Konsolidierungsgesetz von 1992 über Gewerkschaften und kollektive Arbeitsbeziehungen des Vereinigten Königreichs sah vor Erlass eines Sozialplans ein Konsultationsverfahren vor. Dieses war vorliegend in mehreren Ladengeschäften der Kaufhausketten unterblieben. Die einschlägigen englischen Vorschriften sehen bei rechtswidriger Nichtdurchführung des Konsultationsverfahrens Schutzentschädigungen für die Arbeitnehmer vor. Diese Schutzentschädigung wurde vor den zuständigen englischen Arbeitsgerichten geltend gemacht. Einigen Arbeitnehmern wurde die Entschädigung mit der Begründung verweigert, dass sie in Ladengeschäften mit weniger als 20 Arbeitnehmern gearbeitet hätten und dass jedes Geschäft als eigenständiger Betrieb anzusehen sei. Das englische Berufungsgericht in Arbeitssachen stellte unter anderem fest, dass die Pflicht zur vorherigen Konsultation immer dann gilt, wenn ein Arbeitgeber plant, 20 Arbeitnehmer oder mehr innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen oder weniger zu entlassen, unabhängig davon, in welchen Betrieben sie beschäftigt sind. Gegen diese Entscheidung wurde ein Rechtsmittel eingelegt. Der Court of Appeal of England and Wales hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH seine Fragen zu Vorabentscheidung vorgelegt.
Nach dem nationalen Recht sei ein Arbeitgeber, wenn er plant innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen in einem Betrieb mindestens 20 Arbeitsplätze zu streichen, verpflichtet, dabei ein Verfahren der Information und Konsultation der Arbeitnehmer einzuhalten. Es sei zunächst festzustellen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH der in der Richtlinie 98/59/EG nicht definierte Begriff „Betrieb“ ein unionsrechtlicher Begriff sei und dass sein Inhalt nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden kann. Er sei daher in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen. Den Begriff des „Betriebs“ habe der EuGH bereits ausgelegt: Das Arbeitsverhältnis werde im Wesentlichen durch die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Unternehmensteil gekennzeichnet, dem der Arbeitnehmer zur Erfüllung seiner Aufgaben angehöre. Der EuGH habe daher bereits entschieden, dass der Begriff des „Betriebs“ dahin auszulegen ist, dass er nach Maßgabe der Umstände die Einheit bezeichnet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehören. Für die Definition des Begriffs des „Betriebs“ sei nicht entscheidend, ob die fragliche Einheit eine Leitung hat, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann. In einem weiteren Urteil habe der EuGH den Begriff des „Betriebs“ weiter präzisiert. Der EuGH führte in diesem Urteil aus, dass für den Zweck der Anwendung der Richtlinie 98/59/EG ein „Betrieb“ im Rahmen eines Unternehmens unter anderem eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität sein kann, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Durch die Verwendung der Ausdrücke „unterscheidbare Einheit“ und „im Rahmen eines Unternehmens“ habe der EuGH klargestellt, dass sich die Begriffe „Unternehmen“ und „Betrieb“ unterscheiden und dass der Betrieb normalerweise Teil eines Unternehmens sei. Das schließe jedoch nicht aus, dass – sofern ein Unternehmen nicht über mehrere unterscheidbare Einheiten verfügt – der Betrieb und das Unternehmen eins sein können. Die Richtlinie 98/59/EG betreffe die sozioökonomischen Auswirkungen, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen können, so dass die fragliche Einheit weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen muss, um als „Betrieb“ qualifiziert werden zu können. Eine unternehmensweite Auslegung würde zudem dazu führen, dass unter Umständen auch ein einziger Arbeitnehmer eines Betriebs in den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/59/EG fiele, was dem üblichen Sinne des Begriffs „Massenentlassung“ widerspräche.
Der EuGH führt mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung fort, wonach Massenentlassungen sich vor allem auf die örtlichen Umstände auswirken und folglich an die jeweiligen örtlichen Einheiten anzuknüpfen ist. Die Richtlinie 98/59/EG eröffnet den Mitgliedstaaten in Art. 1 Abs. 1 lit. a zwei Umsetzungsmöglichkeiten: Hiernach liegt eine anzeigepflichtige Massenentlassung entweder vor, wenn im Zeitraum von 30 Tagen eine von der Größe des „Betriebs“ abhängige Anzahl (Ziff. i) oder innerhalb von 90 Tagen eine – von der Betriebsgröße unabhängige – Anzahl von 20 Arbeitnehmern entlassen wird (Ziff. ii). In beiden Ziffern ist für die Berechnung des Schwellenwerts auf den „Betrieb“ abzustellen. Anders als die Bundesrepublik Deutschland hat sich das Vereinigte Königreich für die zweite Variante entschieden. Im deutschen Arbeitsrecht ist nach der Rechtsprechung des BAG im Rahmen von § 17 KSchG auf den betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff abzustellen (§§ 1, 4 BetrVG).
Eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige ist Wirksamkeitsvoraussetzung für die auszusprechenden Kündigungen. Eine richtige Berechnung der Schwellenwerte nach § 17 KSchG ist damit unerlässlich. Der deutsche Betriebsbegriff ist weiterhin enger als der unionsrechtliche Betriebsbegriff. Arbeitgeber müssen also im Zweifelsfall eine großzügige Anzeigepraxis verfolgen. Denn die Rechtsfolge von unterlassenen Massenentlassungsanzeigen ist für den Arbeitgeber erheblich: Anders als im Vereinigten Königreich geht es nicht um Entschädigungszahlungen. Die unterlassene Massenentlassungsanzeige hat in Deutschland vielmehr die Unwirksamkeit der im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochenen Kündigungen zu Folge.
Friederike Specks
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Bei Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit wegen Alkoholabhängigkeit liegt kein schuldhaftes Verhalten im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG vor. Bei einem Rückfall muss dies nicht zwingend der Fall sein.
Der alkoholabhängige Herr L., seit 2007 bis Ende des Jahres 2011 Arbeitnehmer bei der beklagten Arbeitgeberin, wurde am 23. November 2011 mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert. Zuvor war er zwei Mal in stationärer Behandlung zur Entzugstherapie, jedoch kam es immer wieder zu Rückfällen. Herr L. erhielt am 28. November 2011 eine außerordentliche Kündigung. Ab dem Folgetag leistete die Arbeitgeberin an ihn keine Zahlungen mehr. Im anschließenden Kündigungsschutzprozess einigte er sich mit seiner Arbeitgeberin auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. Dezember 2011. Nach Abschluss des Rechtsstreits verlangte die Krankenkasse, bei der Herr L. Mitglied war, von seiner Arbeitgeberin einen Betrag von etwa € 1.300,00. In dieser Höhe hatte sie Herrn L. ab dem Tag nach der Kündigung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Krankengeld gezahlt. Tatsächlich habe aber ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung bestanden, der nun auf sie, die Krankenkasse, übergegangen sei. Sie legte auch ein sozialmedizinisches Gutachten des MDK vor, nach dem Herr L. aufgrund des Suchtdrucks nicht in der Lage gewesen sei, den Rückfall willentlich zu verhindern oder zu vermeiden. Die Arbeitgeberin weigerte sich zu zahlen, sie meinte nach mehrfachem stationärem Entzug und dort erfolgter Aufklärung würde Herrn L. ein Verschulden bei seinem Rückfall im November 2011 treffen, so dass der Anspruch ausgeschlossen wäre. Arbeits- und Landesarbeitsgericht folgten dieser Argumentation nicht und sprachen der Krankenkasse den Anspruch aus übergegangenem Recht zu.
Auch das BAG gab der Krankenkasse im Ergebnis Recht. Herr L. hatte gegen seine Arbeitgeberin einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, der in Höhe des geleisteten Krankengeldes nach § 115 SGB X auf die Krankenkasse übergegangen ist.
Aufgrund des Vergleichs im Kündigungsschutzprozess hat das Arbeitsverhältnis nicht mit Zugang der außerordentlichen Kündigung, sondern erst ca. einen Monat später geendet, so dass noch Entgeltfortzahlungsansprüche entstehen konnten. Diese waren im konkreten Fall nicht durch ein schuldhaftes Handeln des Arbeitnehmers ausgeschlossen, denn ein „Verschulden gegen sich selbst“ lag nicht vor. Nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse könne weder aus der Alkoholabhängigkeit selbst noch aus deren Entstehen ein Verschulden im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG für entsprechende Zeiten der Arbeitsunfähigkeit abgeleitet werden. Dies liege daran, dass es sich beim Ausbruch einer Alkoholkrankheit um eine multikausale, interaktive Entwicklung handle, bei der eine singuläre und willentlich steuerbare Ursache dafür, warum bei einer einzelnen Person eine Alkoholabhängigkeit eintrete, nicht feststellbar sei.
Für den Fall des Rückfalls nach einer „erfolgreich“ durchgeführten Entziehungskur mit anschließender Therapie gebe es jedoch keine hinreichend deutlichen wissenschaftlichen Belege dafür, dass ein Rückfall grundsätzlich ebenso wenig willentlich gesteuert und damit selbst verschuldet sei. Die Multikausalität der Alkoholabhängigkeit spiegele sich häufig in den Ursachen eines Rückfalls wider, so dass im Einzelfall ein schuldhaftes Verhalten feststellbar sein kann oder auch nicht. Genauen Aufschluss könne nur eine fachmedizinische Begutachtung geben. Diese habe im Fall des Herrn L. ergeben, dass bei seiner Vorgeschichte im Hinblick auf den Suchtdruck eine hinreichende willentliche Steuerungsfähigkeit nicht angenommen werden könne. Hinreichende Anhaltspunkte für ein Verschulden im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts haben deshalb nicht bestanden.
Bislang ging das BAG davon aus, dass bei einem Rückfall die Lebenserfahrung dafür spreche, dass der Arbeitnehmer die ihm bei der Entziehungskur und der anschließenden Therapie erteilten dringenden Ratschläge, in Zukunft jeden Alkoholgenuss zu vermeiden, missachtet und dies den Vorwurf eines Verschuldens gegen sich selbst begründet. Mit dieser Entscheidung hat der 10. Senat des BAG diese Auffassung aufgegeben, dass bei einem Rückfall deshalb regelmäßig ein Verschulden angenommen werden könne. Zwar wird im Hinblick auf die multikausalen Ursachen der Alkoholabhängigkeit meist ein solches Verschulden auch bei einem Rückfall nicht feststellbar sein. Auszuschließen ist dies im Einzelfall aber nicht. Trägt der Arbeitgeber entsprechend vor und bestreitet die unverschuldete Herbeiführung der Arbeitsunfähigkeit, muss dieser Umstand aufgeklärt werden.
Häufig kennt der Arbeitgeber die Ursachen der Arbeitsunfähigkeit nicht. Er kann jedoch beim Arbeitnehmer nachfragen, ob ein Rückfall in die Alkoholabhängigkeit vorliegt. Auf diese Frage muss der Mitarbeiter dann auch wahrheitsgemäß antworten. Nur bezüglich der Gründe für den Rückfall besteht kein Fragerecht des Arbeitgebers und auch keine entsprechende Auskunftspflicht des Arbeitnehmers. Im Prozess trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für ein Verschulden des Arbeitnehmers. Hierzu kann er dann zunächst zum Vorliegen eines Rückfalls und zum deshalb vorliegenden Verschulden vortragen und entsprechenden Beweis durch Sachverständigengutachten oder ggf. Vernehmung eines sachverständigen Zeugen anbieten. Erst wenn danach Zweifel bei der Frage des Verschuldens verbleiben, geht dies zu Lasten des Arbeitgebers.
Unabhängig davon sollten Arbeitgeber jedoch auch überprüfen, ob nicht möglicherweise in den letzten sechs Monaten vor dem Rückfall schon einmal Arbeitsunfähigkeit wegen der Alkoholabhängigkeit bestanden hat und für sechs Wochen das Entgelt fortgezahlt worden ist oder, falls dem nicht so sein sollte, ob noch keine zwölf Monate seit dem Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit aus diesem Grund vergangen sind. In diesen Fällen wäre der Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG ausgeschlossen und es käme auf die Frage eines Verschuldens nicht an.
Anna Kaiser
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Die Entscheidung des LG Frankfurt a.M. sorgt derzeit bei zahlreichen deutschen Unternehmen für Unsicherheit. Es geht um die Frage, ob Aufsichtsräte deutscher Unternehmen falsch zusammengesetzt sind bzw. ob erstmals ein mitbestimmter Aufsichtsrat gebildet werden muss.
Die entscheidende Bezugsgröße für die Beantwortung der Frage nach der Unternehmensmitbestimmung ist bekanntlich die Anzahl der Arbeitnehmer. Überschreiten deutsche Unternehmen bestimmte Schwellenwerte (500 bzw. 2.000 Arbeitnehmer), hat dies (abhängig von der Rechtsform des Unternehmens) grundsätzlich zur Folge, dass ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu bilden ist.
Ein solcher Aufsichtsrat ist dann entweder (i) nach Maßgabe des DrittelbG zu einem Drittel (wenn mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt werden) oder (ii) nach Maßgabe des MitbestG (bzw. der Montanmitbestimmung) sogar zur Hälfte (wenn mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt werden) mit Vertretern der Arbeitnehmer zu besetzen. Bei der Frage, ob bei einem Unternehmen ein paritätischer Aufsichtsrat nach dem MitbestG zu bilden ist, kommt hinzu, dass hierzu nicht nur die unmittelbar von einem Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer, sondern auch jene, die bei Tochtergesellschaften beschäftigt werden, mitzuzählen sind. Soweit nichts Neues.
Bemerkenswert sind bereits die Umstände, wie es zu der Entscheidung des LG Frankfurt a.M. kam. Ein renommierter Arbeitsrechtsprofessor aus München hatte sich einige Aktien der Deutsche Börse AG gekauft und dann ein sogenanntes Statusverfahren eingeleitet, in dem die Zusammensetzung des Aufsichtsrats überprüft werden sollte. Die Deutsche Börse AG beschäftigte im Zeitpunkt der Entscheidung ca. 1.600 Arbeitnehmer in Deutschland, weltweit (größtenteils in anderen EU-Ländern) allerdings mehr als 2.000 Arbeitnehmer.
Entgegen der bislang absolut herrschenden Auffassung entschied das LG Frankfurt, dass sich die Arbeitgeberin (hier: die Deutsche Börse AG) auch die im Ausland bei ihren Tochtergesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer zurechnen lasse müsse, sodass sie in mitbestimmungsrechtlicher Hinsicht mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftige. Aus diesem Grunde sei der Aufsichtsrat der Deutschen Börse AG nicht lediglich zu einem Drittel, sondern zur Hälfte mit Vertretern der Arbeitnehmer zu besetzen.
Das LG Frankfurt begründet seine Auffassung damit, dass die gesetzlichen Vorschriften des Mitbestimmungsrechts keine Beschränkung auf nur im Inland beschäftigte Arbeitnehmer enthalten. Vielmehr sei der allgemeine Konzernbegriff maßgeblich und insofern sei unstreitig, dass auch ausländische Unternehmen erfasst würden. Darüber hinaus verstoße eine Ungleichbehandlung von im EU-Ausland ansässigen Unternehmen gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot.
Bislang war anerkannt, dass bei der Berechnung der maßgeblichen Schwellenwerte ausschließlich die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer mitzuzählen sind; Ausnahmen hiervon wurden grundsätzlich nur im Rahmen von Entsendungen gemacht. Mit dieser jahrzehntelangen Praxis bricht nun das LG Frankfurt a.M. Nach dem Beschluss des LG Frankfurt a.M. sind auch im Ausland beschäftigte Mitarbeiter mitzuzählen.
Es liegt auf der Hand, dass nunmehr zahlreiche deutsche Unternehmen mit grenzüberschreitenden Geschäftsaktivitäten nachrechnen werden, wie viele Arbeitnehmer sie, einschließlich der im Ausland tätigen Mitarbeiter, tatsächlich beschäftigen. Gelangen sie dabei zu der Erkenntnis, dass die obengenannten Schwellenwerte bereits überschritten werden oder in absehbarer Zeit überschritten werden könnten, und möchten sie ihren gegenwärtigen faktischen Status beibehalten, sollten bereits jetzt präventiv entsprechende Gestaltungsoptionen (Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE), grenzüberschreitende Verschmelzung etc.) geprüft werden, sodass diese ggf. schnell umgesetzt werden können.
Die Entscheidung des LG Frankfurt ist noch nicht rechtskräftig. Nichtdestotrotz sind Unternehmen mit Geschäftsaktivitäten im Ausland gut beraten, bereits jetzt proaktiv über mögliche Handlungs- und Gestaltungsoptionen nachzudenken. Die Entscheidung des LG Frankfurt dürfte insbesondere auch bei laufenden oder vor kurzem abgeschlossenen Transaktionen zu berücksichtigen sein, da durch einen Unternehmenskauf – anders als im Fall organischen Wachstums – die maßgeblichen Schwellenwerte im Einzelfall schnell schlagartig überschritten sein können. Schließlich wird bereits diskutiert, wie sich die Entscheidung auf Europäische Aktiengesellschaften (SE) und diesbezüglich auf die Verhandlung entsprechender Beteiligungsvereinbarungen mit Arbeitnehmervertretern auswirken wird.
Klaus Thönißen
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Das mutterschutzrechtliche Kündigungsverbot gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG beginnt bei einer In-vitro-Fertilisation (Befruchtung außerhalb des Körpers) bereits ab dem Zeitpunkt der Einsetzung der befruchteten Eizelle und nicht erst mit ihrer erfolgreichen Einnistung (Nidation).
Die Klägerin war bei dem Beklagten, neben zwei weiteren Arbeitnehmern, seit 2002 beschäftigt. Die Leistungen der Klägerin waren regelmäßig positiv beurteilt worden und die Klägerin hatte in der Vergangenheit keine Verwarnungen oder Abmahnungen erhalten. Am 14. oder 15. Januar 2013 erklärte die Klägerin gegenüber dem Beklagten in einem persönlichen Gespräch, dass sie seit Jahren einen unerfüllten Kinderwunsch hege und ein erneuter Versuch einer künstlichen Befruchtung anstehe. Am 31. Januar 2013 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin, ohne zuvor eine behördliche Zustimmung eingeholt zu haben. In der Folge besetzte er die Stelle der Klägerin mit einer älteren Arbeitnehmerin. Bei der Klägerin wurde am 7. Februar 2013 eine Frühschwangerschaft festgestellt. Der Mutterpass der Klägerin benannte als Datum des sog. Embryonentransfers im Rahmen der künstlichen Befruchtung den 24. Januar 2013. Die Klägerin informierte den Beklagten am 13. Februar 2013 über ihre Schwangerschaft und berief sich auf die Unwirksamkeit der Kündigung. Die Kündigungsschutzklage hatte in allen Instanzen Erfolg.
Das BAG begründete seine Auffassung der Unwirksamkeit der Kündigung damit, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Zustellung der streitgegenständlichen Kündigung bereits den besonderen Kündigungsschutz gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG genossen habe. Im Falle einer außerhalb des Körpers erfolgenden Befruchtung (In-vitro-Fertilisation), beginne der besondere Kündigungsschutz wegen Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Embryonentransfers, d.h. mit dem Zeitpunkt, in dem die befruchtete Eizelle eingesetzt wird und nicht erst mit dem Zeitpunkt der erfolgreichen Einnistung (Nidation). Das Gericht begründete seine Entscheidung, den besonderen Kündigungsschutz in diesen Fällen bereits mit dem zeitlich früher liegenden Zeitpunkt des Embryonentransfers beginnen zu lassen, mit der besonderen Bedeutung des Mutterschutzes. Zweck des Mutterschutzes sei es, die werdende Mutter vor arbeitsplatzbedingten Gefahren und Gesundheitsschäden zu bewahren. Die Erreichung dieses Zwecks erfordere es, vom frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft auszugehen. Dies sei der Zeitpunkt der Verbindung einer befruchteten Eizelle mit dem Organismus der werdenden Mutter durch den Embryonentransfer. Damit sei ein Zustand erreicht, der demjenigen nach der natürlichen Befruchtung entspricht. Zudem bedeute das Abstellen auf den Embryonentransfer Rechtssicherheit. So sei der Zeitpunkt der Nidation regelmäßig nur schwer bestimmbar, während der Zeitpunkt des Embryonentransfers leicht zu ermitteln sei.
Ferner vertrat das BAG die Ansicht, dass die Kündigung auch gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 i.V.m. §§ 1, 3 AGG verstoße. Das BAG bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 2008 (EuGH vom 26. Februar 2008, C-506/06), in welcher der EuGH festgestellt habe, dass eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts vorliegen könne, wenn eine Kündigung hauptsächlich aus dem Grund ausgesprochen werde, dass die Arbeitnehmerin sich einer Behandlung mit dem Ziel einer In-vitro-Fertilisation unterzogen habe. Das LAG habe aufgrund der gesamten Umstände des Falles zutreffend davon ausgehen können, dass die Kündigung der Klägerin wegen der Durchführung der In-vitro-Fertilisation und damit verbundenen möglichen Schwangerschaft erfolgt sei.
In Zeiten, in denen das Pro und Contra des Social Freezing ausgiebig diskutiert wird, ist die Entscheidung des BAG von bemerkenswerter Aktualität. Das Urteil des BAG schafft Klarheit im Hinblick auf die Frage, wann bei einer In-vitro-Fertilisation der gesetzliche Kündigungsschutz nach dem Mutterschutzgesetz beginnt. Die Argumentation des BAG, mit welcher es seine Entscheidung begründet, dass für den Beginn des Kündigungsschutzes auf den Zeitpunkt des Embryonentransfers abzustellen sei, überzeugt. Zutreffend geht das BAG davon aus, dass kein Widerspruch zu § 218 Abs. 1 Satz 2 StGB besteht, nach welchem ein strafbewehrter Schwangerschaftsabbruch erst vorliegt, wenn die Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutter (Nidation) abgeschlossen ist, da Schutzobjekt der Strafnorm ausschließlich die Leibesfrucht, während Schutzobjekt des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG die werdende Mutter sei.
Die Frage, ob durch den Embryonentransfer lediglich der Beginn des besonderen Kündigungsschutzes für den Fall bestimmt wird, dass es in der Folge zu einer Nidation kommt, oder ob das Kündigungsverbot mit dem Embryonentransfer „unbedingt“ eingreift und – ohne Nachwirkung – endet, wenn eine Nidation ausbleibt, ließ das BAG dagegen unentschieden. Das Gericht deutete in seiner Entscheidung allerdings an, dass einige Argumente für die letztgenannte Sichtweise sprechen. Zwar seien die Erfolgsaussichten von In-vitro-Fertilisationen mitunter sehr gering, allerdings komme es auch bei natürlichen Befruchtungen vor, dass eine Nidation – häufig unbemerkt – ausbleibe.
Nadine Ceruti
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Die Parteien streiten über die Frage, auf welche Gehaltsbestandteile der gesetzliche Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG) anwendbar ist.
Vor Einführung des MiLoG erhielt die Klägerin einen Stundenlohn in Höhe von EUR 8,10 brutto. Daneben zahlte die Arbeitgeberin einen „freiwilligen Brutto/Leistungsbonus von max. EUR 1,00, der sich nach der jeweilig gültigen Bonusregelung“ richtete. Anlässlich der Einführung des MiLoG teilte die Arbeitgeberin der Klägerin mit, die Grundvergütung betrage weiterhin EUR 8,10 brutto pro Stunde, der Brutto/Leistungsbonus max. EUR 1,00 pro Stunde. Vom Bonus würden allerdings 40 Cent pro Stunde fix ausgezahlt, so dass insgesamt betrachtet jede Stunde mit EUR 8,50 brutto vergütet würde. Die Klägerin hatte geltend gemacht, der Leistungsbonus dürfe in die Berechnung des Mindestlohns nicht einfließen. Er sei zusätzlich zu einer Grundvergütung in Höhe von EUR 8,50 pro Stunde zu zahlen.
Das Arbeitsgericht Düsseldorf hat die Klage abgewiesen. Zweck des MiLoG sei es, dem Arbeitnehmer durch eigenes Einkommen die Sicherung eines angemessenen Lebensunterhalts zu ermöglichen. Es komme – unabhängig von der Bezeichnung einzelner Leistungen – allein auf das Verhältnis zwischen dem tatsächlich an den Arbeitnehmer ausgezahlten Lohn und dessen geleisteter Arbeitszeit an. Mindestlohnwirksam seien daher alle Zahlungen, die als Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung mit Entgeltcharakter gezahlt würden. Da ein Leistungsbonus, anders als beispielsweise vermögenswirksame Leistungen, einen unmittelbaren Bezug zur Arbeitsleistung aufweise, handele es sich um „Lohn im eigentlichen Sinn“, der in die Berechnung des Mindestlohns einzubeziehen sei.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Düsseldorf liegt bislang nur in Form einer Pressemitteilung vor und ist zudem noch nicht rechtskräftig. Es bleibt somit abzuwarten, wie die Entscheidungsgründe ausfallen und wie sich ggf. das LAG Düsseldorf hierzu positioniert.
Prinzipiell steht das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, wonach Vergütungsbestandteile in den Mindestlohn einbezogen werden können, wenn sie das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers auf der einen und der Gegenleistung, die er dafür erhält, auf der anderen Seite nicht verändern. Das BAG geht in einem Urteil zum Arbeitnehmerentsendegesetz von einer Anrechnung aus, wenn der Zweck der Leistung des Arbeitgebers mit dem Zweck des Mindestlohns funktionell gleichwertig ist. Dies ist der Fall, wenn die Zahlung des Arbeitgebers die „Normalleistung“ des Arbeitnehmers abgelten möchte.
Vor diesem Hintergrund wären Leistungsprämien, die tatsächlich davon abhängen, dass die geschuldete Arbeitsleistung besonders gut erbracht wird, eigentlich nicht berücksichtigungsfähig, weil sie für eine über die Normalleistung hinausgehende Arbeitsleistung gezahlt werden.
Umso überraschender ist vordergründig die Entscheidung des Arbeitsgerichts Düsseldorf. Vermutlich hat das Arbeitsgericht Düsseldorf sich nicht an dem Begriff „Leistungsbonus“ orientiert, sondern darauf abgestellt, dass der Klägerin – unabhängig von der Qualität ihrer Leistung – für jede Stunde ein Leistungsbonus in Höhe von 40 Cent garantiert wird. Damit handelt es sich formal betrachtet nicht um einen Leistungsbonus, sondern um die reguläre Vergütung der Normalleistung.
Dr. Sarah Zimmermann
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Die Klägerin hatte im Arbeitsverhältnis bei einer 5-Tage-Woche einen Urlaubsanspruch von 36 Tagen im Kalenderjahr. Nach der Geburt ihres Sohnes befand sich die Klägerin ab Mitte Februar 2011 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 15. Mai 2012 in Elternzeit. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Klägerin von der Beklagten ohne Erfolg die Abrechnung und Abgeltung ihrer Urlaubsansprüche aus den Jahren 2010 bis 2012. Im September 2012 erklärte die Beklagte die Kürzung des Erholungsurlaubs der Klägerin für die Zeit der Elternzeit. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Klägerin die nachträgliche Kürzung des Erholungsurlaubs für unwirksam erachtet und ihr Urlaubsabgeltung zugesprochen. Das BAG bestätigte das Urteil des Landesarbeitsgerichts.
Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann der Arbeitgeber den Erholungsurlaub wegen Elternzeit nicht mehr kürzen. Die Norm des § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG, wonach der Arbeitgeber den Erholungsurlaub, der dem Arbeitnehmer für das Urlaubsjahr zusteht für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel kürzen kann, setzt voraus, dass der Anspruch auf Erholungsurlaub besteht. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses besteht der Anspruch auf Erholungsurlaub nicht mehr, dieser hat sich in einen Urlaubsabgeltungsanspruch gewandelt. Urlaubsabgeltung ist nach der neuen Rechtsprechung des Senats nicht mehr Surrogat des Urlaubsanspruchs, sondern reiner Geldanspruch. Damit ist der Abgeltungsanspruch Teil des Vermögens des Arbeitnehmers und unterscheidet sich in rechtlicher Hinsicht nicht von anderen Zahlungsansprüchen des Arbeitsnehmers gegen den Arbeitgeber. Eine Kürzung des Erholungsurlaubs kann daher nicht mehr erfolgen.
Der beklagte Arbeitgeber ist ein gemeinnütziger Verein mit dem Zweck der Förderung der qualifizierten Berufsausbildung. Der Beklagte schließt Berufsausbildungsverträge ab. Die Ausbildung der Auszubildenden erfolgt jedoch nicht bei dem Beklagten selbst, sondern in seinen Mitgliedsunternehmen. Der Kläger war Auszubildender bei einem der Mitgliedsunternehmen. Der Berufsausbildungsvertrag wurde mit dem Beklagten geschlossen. Während des Ausbildungsverhältnisses erhielt der Kläger nur ca. 55 % der Ausbildungsvergütung der einschlägigen Tarifverträge. Er verlangt klageweise die Zahlung von Ausbildungsvergütung auf Grundlage der einschlägigen Tarifverträge. Die Klage hatte in allen Instanzen Erfolg.
Auszubildende haben gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Maßgeblich für die Angemessenheit ist die Verkehrsanschauung. Für die Verkehrsanschauung sind grundlegend die einschlägigen Tarifverträge. Eine Ausbildungsvergütung, die die in einschlägigen Tarifverträgen geregelte Vergütung um mehr als 20 % unterschreitet ist in der Regel nicht mehr angemessen. Allein der Status des ausbildenden Unternehmens als gemeinnützige juristische Person rechtefertigt nicht, bei der Angemessenheitsprüfung von den einschlägigen Tarifverträgen abzusehen. Die Unterschreitung des tariflichen Ausbildungssatzes um fast 50 % begründet die Vermutung der Unangemessenheit der vom Beklagten gezahlten Ausbildungsvergütung. Der Beklagte hat grundsätzlich die Möglichkeit, die Vermutung der Unangemessenheit zu wiederlegen, indem er darlegt, dass besondere Umstände die niedrigere Ausbildungsvergütung rechtfertigen. Solche besonderen Umstände hat der Beklagte vorliegend jedoch nicht vorgetragen.
Der beklagte Arbeitgeber kündigte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis mehrfach außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich fristgemäß. Das BAG erachtete alle Kündigung für unwirksam. Während des gekündigten Arbeitsverhältnisses nahm der Kläger eine vertragswidrige Konkurrenztätigkeit auf und wurde deshalb vom Arbeitgeber erneut außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich gekündigt. Das BAG hielt auch diese Kündigung für unwirksam.
Eine Konkurrenztätigkeit kann auch im gekündigten Arbeitsverhältnis „an sich“ als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung in Betracht kommen. Der Arbeitnehmer kann hiergegen auch nicht einwenden, ihm obliege nach § 615 Satz 2 BGB die Pflicht, einen anderweitigen Erwerb auszuüben, denn das Unterlassen vertragswidriger Konkurrenztätigkeit ist kein böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs im Sinne dieser Norm. Doch auch ein wichtiger Grund rechtfertigt nicht automatisch eine außerordentliche Kündigung, wenn die Abwägung der beiderseitigen Interessen zugunsten des Arbeitnehmers ausfällt. Hierbei sei nach Auffassung des BAG zu berücksichtigen, dass sich beide Seiten objektiv vertragswidrig und widersprüchlich verhalten haben. Der Arbeitgeber beruft sich auf die Wirksamkeit einer zuvor erklärten Kündigung und erwartet vom Arbeitnehmer ein Verhalten, dass dieser nur bei der Unwirksamkeit der Kündigung schuldet. Der Arbeitnehmer hingegen erstrebt die Feststellung einer Unwirksamkeit der früheren Kündigung, verstößt aber mit der Aufnahme der Konkurrenztätigkeit gegen dann bestehende Unterlassungspflichten. Dabei wertet das BAG zugunsten der Interessen des Arbeitnehmers, dass dieser ohne die zuvor ausgesprochene unwirksame außerordentliche Kündigung des Arbeitgebers keinen Anlass gehabt hätte, die Konkurrenztätigkeit aufzunehmen. Das BAG sah keinen Anhaltspunkt dafür, dass es dem Arbeitnehmer auf eine dauerhafte Konkurrenztätigkeit ankam, vielmehr sah das BAG in der Konkurrenztätigkeit eine Übergangslösung. Auch sei dem Arbeitgeber kein Schaden entstanden. Eine nur abstrakte Gefährdung geschäftlicher Interessen des Arbeitgebers, habe kein ausschlaggebendes Gewicht bei der Interessenabwägung, nachdem der Arbeitgeber selbst eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen und damit zu verstehen gegeben hat, sich selbst nicht mehr an vertragliche Pflichten halten zu wollen.
Der Kläger arbeitet bei der Beklagten seit 2006 mit einer Wochenarbeitszeit von 38,75 Stunden. Sein Bruttomonatsgehalt liegt bei € 3.287,08. Der Kläger ist im Februar 1972 geboren, verheiratet und zwei minderjährigen Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Die Beklagte beschäftigt außer dem Kläger u.a. seit 2003 die 1970 geborene, ledige und kinderlose Arbeitnehmerin K. Mit Schreiben vom 5. November 2012 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 28. Februar 2013 aus betriebsbedingten Gründen und bot ihm zugleich ab dem 1. März 2013 die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit einer Arbeitszeit von 10 Wochenstunden und einer Bruttomonatsvergütung von € 848,28 an. Der Kläger hat das Änderungsangebot abgelehnt und fristgerecht Klage gegen die Kündigung erhoben. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die von der Beklagten eingelegte Revision hatte vor dem BAG keinen Erfolg.
Nach Ansicht des BAG verlangt § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG vom Arbeitgeber nur eine ausreichende Berücksichtigung der dort aufgeführten Auswahlkriterien. Der Gesetzeswortlaut treffe keine Aussagen dazu, wie die genannten sozialen Auswahlkriterien ins Gewicht zu setzen sind. Kein Kriterium habe Priorität gegenüber einem anderen. Vielmehr seien stets die individuellen Unterschiede zwischen vergleichbaren Arbeitnehmern und deren Sozialdaten zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Dabei müsse der Arbeitgeber nicht die „bestmögliche“ Sozialauswahl treffen. Der Arbeitgeber habe einen Wertungsspielraum, der dazu führe, dass nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer sich mit Erfolg auf Auswahlfehler berufen können. Bei einer betriebsbedingten Änderungskündigung ist zu prüfen, ob der Arbeitgeber, statt der Arbeitsbedingungen des gekündigten Arbeitnehmers zu ändern, diese Änderungen einem vergleichbaren Arbeitnehmer hätte anbieten können, dem sie eher zumutbar gewesen wären. Das BAG entschied, dass das Landesarbeitsgericht in der Berufung ohne Rechtsfehler angenommen hat, dass die Beklagte angesichts des zwischen dem Kläger und der Arbeitnehmerin K bestehenden erheblichen Unterschieds bei den Unterhaltspflichten den ihr zugestandenen Wertungsspielraum bei der Auswahl des Klägers überschritten habe.
Der Kläger war seit dem Jahr 2001 bei der Beklagten beschäftigt. Nachdem die Beklagte dem Kläger vorgeworfen hatte, dass dieser zwei Fertigsuppen aus ihrem Lagerbestand entnommen und verzehrt habe und mit einer außerordentlichen Kündigung und einer Strafanzeige drohte, schlossen die Parteien am 28. Dezember 2012 einen Aufhebungsvertrag. Nach dem Aufhebungsvertrag endete das Arbeitsverhältnis am gleichen Tag ohne Zahlung einer Abfindung. zudem enthielt der Aufhebungsvertrag einen Widerrufs- und Klageverzicht. Der auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findende Manteltarifvertag für den Einzelhandel Nordrhein-Westfalen vom 25. Juli 2008 beinhaltet in § 11 Abs. 10 bei Aufhebungsverträgen ein Widerrufsrecht innerhalb von drei Werktagen, auf das schriftlich verzichtet werden kann. Nach am 28. Dezember 2012 focht der Kläger den Aufhebungsvertrag wegen widerrechtlicher Drohung an und begehrte im Kündigungsschutzprozess die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Der Kläger vertrat die Auffassung, dass angesichts des langjährigen unbelasteten Bestands des Arbeitsverhältnisses eine außerordentliche Kündigung nicht vertretbar gewesen sei. Das Arbeitsgericht hatte die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr auf die Berufung des Klägers stattgegeben. Das BAG hat das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Ein Klageverzicht in einem vom Arbeitgeber vorformulierten Aufhebungsvertrag unterliegt einer Inhaltskontrolle nach § 307 BGB. Ein solcher formularmäßige Klageverzicht, der in einem Aufhebungsvertrag zur Vermeidung einer vom Arbeitgeber angedrohten außerordentlichen Kündigung geschlossen wird, stellt eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers dar, wenn ein verständiger Arbeitgeber die angedrohte Kündigung nicht ernsthaft in Erwägung ziehen durfte. Die Drohung mit einer außerordentlichen Kündigung wäre dann widerrechtlich. Das Landesarbeitsgericht muss nun aufklären, ob die Drohung der Beklagten widerrechtlich war. Auf die Wirksamkeit des Verzichts auf die tarifvertragliche Widerrufsmöglichkeit kam es hingegen nicht an, weil der Kläger zwar den Aufhebungsvertrag angefochten, nicht aber innerhalb der tarifvertraglichen Frist den Widerruf des Aufhebungsvertrages erklärt hatte.