30.05.2022
Das BAG verzichtet bei Eingriffen in Versorgungsanwartschaften im Falle von steuerbefreiten Berufsverbänden weiterhin auf das im Rahmen der 3-Stufen-Theorie ansonsten geforderte Merkmal der sog. „Proportionalität“.
I. Hintergrund
Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit dürfen bei Eingriffen in bestehende Versorgungszusagen nicht verletzt werden. Die Gründe, die den Eingriff rechtfertigen sollen, müssen umso gewichtiger sein, je stärker der Besitzstand ist, in den eingegriffen wird (stRspr, vgl. etwa BAG 12.2.2013 – 3 AZR 414/12). Dies ist der Grundsatz der „Proportionalität“. Für Eingriffe in Versorgungsanwartschaften hat das BAG daher ein dreistufiges Prüfungsschema entwickelt (stRspr seit BAG 17.4.1985 – 3 AZR 72/83).
1. Stufe: Bereits erdiente Anwartschaften
Bis zum Änderungsstichtag erdiente und entsprechend § 2 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 Betriebsrentengesetz (BetrAVG) ermittelte Teilbeträge können nur in seltenen Ausnahmefällen und nur aus zwingenden Gründen entzogen werden.
2. Stufe: Bereits erdiente Dynamik
Zuwächse, die sich insbesondere bei endgehaltsbezogenen Zusagen aus variablen Berechnungsfaktoren ergeben (erdiente Dynamik), können nur aus triftigen Gründen geschmälert werden.
3. Stufe: Noch nicht erdiente dienstzeitabhängige Zuwachsraten
Für Eingriffe in dienstzeitabhängige, noch nicht erdiente Zuwachsraten genügen sachlich-proportionale Gründe (z.B. wirtschaftlich ungünstige Entwicklung des Unternehmens oder Fehlentwicklung der betrieblichen Altersversorgung).
Die Wirkung der Beendigung einer Betriebsvereinbarung über betriebliche Altersversorgung ist anhand dieser Maßstäbe zu überprüfen (BAG 18.9.2001 – 3 AZR 728/00).
II. Sachverhalt
Die Beklagte ist als Gewerkschaft ein nichtgewerblich tätiges Dienstleistungsunternehmen. Der übergeordnete Verband wird durch Beiträge der Einzelgewerkschaften finanziert und unterhält eine Gruppenunterstützungskasse.
Der Kläger war bei der Beklagten beschäftigt und wurde bei der Unterstützungskasse angemeldet. Für ihn galten die Unterstützungsrichtlinien 1983 (im Folgenden: UR 83).
Am 14.7.1995 wurde eine Betriebsvereinbarung mit dem Ziel einer Neuregelung der zwischenzeitlich geltenden Versorgungsordnung 1995 geschlossen, die u.a. die Ablösung der UR 83 vorsah. Die Mitgliederzahlen und Beitragseinnahmen der Beklagten entwickelten sich über die Jahre rückläufig, so dass die Beklagte alle bestehenden Vereinbarungen zur betrieblichen Altersversorgung im Jahr 2012 kündigte.
Seit 2017 erhält der Kläger von der Unterstützungskasse eine monatliche Betriebsrente in Höhe von 744,97 EUR. Mit seiner Klage hat der Kläger eine ausschließlich nach den UR 83 berechnete monatliche Betriebsrente in Höhe von 1.394,08 EUR geltend gemacht.
III. Entscheidung
Das LAG Düsseldorf hielt die Berufung des Klägers für unbegründet. Es kam zu dem Schluss, dass die UR 83 formell wirksam abgelöst wurden. Es bedurfte keiner Betriebsvereinbarung. Die Ablösung konnte vielmehr auch durch eine einseitige Regelung des Arbeitgebers erfolgen (vgl. auch BAG v. 12.02.2013 - 3 AZR 414/12 - Rn. 46).
Auch in materieller Hinsicht wurden die UR 83 wirksam abgelöst, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes wurden beachtet. Es konnte aus rein sachlichen Gründen – hier: wirtschaftlichen Schwierigkeiten – eine Ablösung der in Rede stehenden Versorgungsordnung erfolgen.
Zur Begründung führte das LAG Düsseldorf aus, dass einem nicht am Markt zur Gewinnerzielung tätigen, steuerbefreiten Berufsverband im Wesentlichen nur Beiträge der Mitglieder als Einkünfte zur Verfügung stehen. Darüber hinaus genießen Gewerkschaften den verfassungsrechtlichen Schutz der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG. Damit haben sie die Freiheit, ihre koalitionspolitischen Aufgaben und die Form, die Art und Weise sowie die Intensität der Aufgabenerfüllung festzulegen. Dies führt dazu, dass es den Gerichten für Arbeitssachen grundsätzlich untersagt ist, die Verwendung ihrer Einkünfte im Einzelnen zu überprüfen oder gar zu bewerten. Dies gilt es – so das LAG Düsseldorf – bei der Anwendung des dreistufigen Prüfungsschemas zu beachten. Wird lediglich in noch nicht erdiente, dienstzeitabhängige Zuwächse eingegriffen, reichen daher rein sachliche Gründe aus. Auf die Proportionalität des Eingriffs kommt es nicht an. Ein Verstoß gegen den betriebsverfassungsrechtlichen oder allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz lag nach Ansicht des LAG Düsseldorf überdies nicht vor.
Das BAG bestätigte diese Entscheidung nunmehr mit seinem Urteil vom 3.5.2022 – 3 AZR 472/21 und wies die Revision des Klägers gegen das Berufungsurteil des LAG Düsseldorf zurück.
IV. Fazit
Das BAG verzichtet weiterhin bei Eingriffen in Versorgungsanwartschaften im Falle von Gewerkschaften im Rahmen der 3-Stufen-Theorie darauf, lediglich einen proportionalen Eingriff zuzulassen. Stattdessen lässt das Gericht bei diesen Organisationen grds. eine modifizierte – d. h. erleichterte – Anwendung des von ihm selbst entwickelten Prüfungsmaßstabs bei der Ablösung von Versorgungsordnungen bzw. beim Eingriff in Versorgungsanwartschaften zu. Dies scheint im Hinblick auf die gegenwärtige Entwicklung der Mitgliederzahlen und Beitragseinnahmen von steuerbefreiten Berufsverbänden sachgerecht.
Die Entscheidungsgründe zum Urteil des BAG liegen aktuell noch nicht vor. Sollten sich daraus wesentliche neue rechtliche Inhalte ableiten lassen, informieren wir Sie gerne auf diesem Wege.
Die Anwendung der „Escape-Klausel“ in § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG auf Anpassungszeiträume vor dem 01. Januar 2016 war lange Zeit lebhaft umstritten. Das BAG hat die Frage nunmehr mit Urteil vom 03.05.2022 (Az. 3 AZR 408/21) geklärt. Betroffene Arbeitgeber können aufatmen: Falls die Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG vorliegen, bleibt es auch für Altzusagen bei dem Wegfall der Anpassungsprüfungspflicht.
I. Hintergrund
Nach § 16 Abs. 1 BetrAVG hat der Arbeitgeber alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden. Diese Verpflichtung entfällt u.a. gemäß § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG dann, wenn die betriebliche Altersversorgung über eine Direktversicherung oder ein Pensionskasse durchgeführt wird und ab Rentenbeginn sämtliche auf den Rentenbestand entfallende Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden. Die Diskussion um die zeitliche Anwendbarkeit ging auf eine Vorgängerfassung des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG zurück. Bis zu seiner Neufassung im Zug der Umsetzung der EU-Mobilitäts-Richtlinie zum 31.12.2015 sah § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG als zusätzliche Voraussetzung vor, dass bei der Berechnung der Deckungsrückstellung für die garantierte Leistung der versicherungsaufsichtsrechtlich festgelegte Höchstzinssatz nicht überschritten werden durfte. Hieraus hatte das BAG (Urteile v. 30.09.2014, 3 AZR 613/12 u.a.) seinerzeit geschlossen, dass bei Pensionskassenzusagen, die vor Inkrafttreten der Deckungsrückstellungsverordnung (DeckRV) am 16. Mai 1996 erteilt wurden stets eine turnusgemäße Anpassungsprüfung zu erfolgen habe. Mit Urteil vom 13.12.2016, 3 AZR 342/15 entschied das BAG, dass die Neufassung des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG – mangels ausdrücklicher Regelung – nur auf Anpassungsstichtage ab dem 01.01.2016 anwendbar sei. Auf diese Rechtsprechung reagierte der Gesetzgeber sodann mit dem zum 24.08.2017 neu eingeführten § 30c Abs. 1a BetrAVG, der eine Geltung des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG ausdrücklich auch für Anpassungszeiträume vor dem 1. Januar 2016 vorsieht. Die Frage , ob hierin eine verfassungswidrige Rückwirkung zu sehen ist hatte jetzt wiederum das BAG zu entscheiden.
II. Sachverhalt
Die Klägerin war bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen beschäftigt. Seit dem 01. Oktober 2011 bezieht die Klägerin Leistungen aus der betrieblichen Altersvorsoge. Die Beklagte führt diese über eine regulierte Pensionskasse durch. Eine Erhöhung der Betriebsrente erfolgte nach Renteneintritt nicht. Mit ihrer Klage hatte die Klägerin u.a. die Anpassung des auf Arbeitgeberbeiträgen beruhenden Teils ihrer Betriebsrente zum Stichtag 1. Oktober 2014 geltend gemacht.
Die Klage hatte – nach zwischenzeitlicher Zurückverweisung durch das BAG – in der Berufungsinstanz vor dem Hessischen LAG(Urt. v. 17.02.2021, 6 Sa 480/20) nur insoweit Erfolg, als die Betriebsrente auf einem Tarif der Pensionskasse beruht, für den die Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG nicht vorlagen.
Die erneute Revision der Klägerin blieb erfolglos.
III. Entscheidung
Ausweislich der Pressemitteilung des BAG vom 03.05.2022 vermochte sich der 3. Senat der Argumentation der Klägerin, wonach die Übergangsregelung des § 30c Abs. 1a BetrAVG eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung darstelle, nicht anzuschließen. Die Betriebsrentner hätten davon ausgehen müssen, dass eine Anpassungsprüfungspflicht nicht unverändert bestehen bleiben würde. Die Stichtagsregelung orientiere sich am Sachverhalt und sei – so die Wertung der Erfurter Richter – vertretbar. Auch dem Einwand, wonach die Neufassung des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG gegen das Verschlechterungsverbot aus Art. 7 der Mobilitäts-Richtlinie verstoße erteilte der Senat eine Absage, da bereits der Anwendungsbereich der Richtlinie – mangels grenzüberschreitendem Sachverhalt – nicht eröffnet sei.
IV. Fazit
Die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor. Fest steht allerdings bereits jetzt, dass das BAG bis dato bestehende Unsicherheiten vieler Arbeitgeber im Hinblick auf die Anpassungsprüfungspflicht beseitigt hat.
Anmerkung: Einen im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt hat das BAG (Urt. v. 03.05.2022, 3 AZR 374/21) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG Schleswig-Holstein zurückverwiesen, da dort das Vorliegen der Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2
BetrAVG nicht beschließend beurteilt werden konnte.
Jan Hansen
Senior Associate
Köln
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Sebastian Walthierer