20.11.2023
Beim Verkauf von Immobilien stellt sich aus Sicht des Verkäufers die Frage, über welche Eigenschaften und Umstände der Immobilie der Käufer ungefragt aufgeklärt werden muss. Die Rechtsprechung hat in den vergangenen Jahren den Kreis solcher „offenbarungspflichtigen Umstände“ zum Schutze des Käufers stetig ausgeweitet. Den Immobilienverkäufer trifft hiermit eine vorvertragliche Aufklärungspflicht bei Vertragsverhandlungen, deren Verletzung einen Schadensersatzanspruch des Käufers auslösen kann. Verschweigt der Verkäufer den offenbarungspflichtigen Umstand vorsätzlich, ist der Käufer darüber hinaus berechtigt, den Kaufvertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten.
(Auch) Zur Vermeidung dieser Haftungsrisiken sind Verkäufer schon seit Längerem dazu übergegangen, die in Bezug auf die Immobilie vorhandenen Unterlagen in einem virtuellen Datenraum einzustellen und dem Käufer hierdurch zu ermöglichen, – etwa mit der Durchführung einer Due Diligence – selbst Kenntnis von den offenbarungspflichtigen Umständen zu nehmen. Ob dies aus Sicht des Verkäufers zur Erfüllung seiner vorvertraglichen Aufklärungspflicht gegenüber dem Käufer genügt oder ob der Verkäufer den Käufer dennoch ungefragt und ausdrücklich über die offenbarungspflichtigen Umstände aufklären muss, hat der BGH mit Urteil vom 15. September 2023 (Az. V ZR 77/22) erstmals beantwortet. Das Urteil betrifft nicht nur den Immobilienbereich, sondern die gesamte M&A-Praxis.
Es ging um den Verkauf mehrerer Gewerbeeinheiten (nach WEG) in einem großen Gebäudekomplex. Im Rahmen der Kaufvertragsverhandlungen wurde der Käuferin Zugriff zu einem virtuellen Datenraum, der verschiedene Unterlagen zur Immobilie enthielt, gewährt.
Die Verkäuferin hatte in dem notariellen Kaufvertrag vom 25. März 2019 (Montag) versichert, dass keine Beschlüsse gefasst seien, aus denen sich für die Käuferin eine künftig fällige Sonderumlage ergebe und dass nach Kenntnis der Verkäuferin weder außergewöhnliche Kosten im laufenden Wirtschaftsjahr angefallen seien noch solche Kosten bevorstünden oder weitere Sonderumlagen beschlossen worden seien. Tatsächlich wurde in einer Eigentümerversammlung am 1. November 2016 zur Umsetzung eines bereits im Jahre 2006 gefassten Umbau- und Revitalisierungsbeschlusses aber beschlossen, die frühere Mehrheitseigentümerin auf Zahlung von 50.000.000 EUR in Anspruch zu nehmen; zugleich war die Erhebung einer Sonderumlage von den Eigentümern der Gewerbeeinheiten abgelehnt worden. Nur im Falle der erfolgslosen Inanspruchnahme der früheren Mehrheitseigentümerin sollten die Kosten – wozu es letztlich auch kam – von den übrigen Eigentümern (subsidiär) getragen werden. Eine andere Eigentümerin hatte daraufhin Klage erhoben, um die Erhebung einer Sonderumlage durchzusetzen. Das Verfahren endete im Januar 2020 mit einem Vergleich. Demzufolge sollte von den Eigentümern der Gewerbeeinheiten – und somit auch von der Käuferin – eine Sonderumlage von zunächst 750.000 EUR erhoben und dieser Betrag „nach Verbrauch wieder aufgefüllt“ werden.
Nachdem die Käuferin auf Grundlage des gerichtlichen Vergleichs in Anspruch genommen wurde, machte sie Ansprüche gegen die Verkäuferin geltend, weil sie nicht hinreichend über die konkret drohende Sonderumlage in Höhe von bis zu 50.000.000 EUR aufgeklärt worden sei. Schließlich hatte die Verkäuferin das maßgebliche Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 erst am 22. März 2019, also an dem Freitag vor der Beurkundung des Kaufvertrags (montags, am 25. März 2019) ohne besonderen Hinweis in den virtuellen Datenraum eingestellt.
Der BGH entschied, dass der Käuferin gegen die Verkäuferin ein Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung ihrer vorvertraglichen Aufklärungspflicht (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) zustehe.
3.1 Bestehen einer Aufklärungspflicht
Die Verkäuferin habe die Käuferin darüber aufklären müssen, dass Sanierungsmaßnahmen mit einem Kostenumfang von 50.000.000 EUR ausstanden. Hierbei handele es sich um einen offenbarungspflichtigen Umstand. Zwar bestehe keine allgemeine Verpflichtung, den Verhandlungspartner über alle Einzelheiten aufzuklären. Vielmehr sei Jeder für sich selbst verantwortlich und müsse daher die notwendigen Informationen auf eigene Kosten und eigenes Risiko selbst beschaffen. Allerdings bestehe auch bei Vertragsverhandlungen, in denen die Parteien entgegengesetzte Interessen verfolgen, für jeden Vertragspartner die Pflicht, den anderen Teil über solche Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und für seinen Entschluss von wesentlicher Bedeutung sind. So liege es hinsichtlich der drohenden Kostenbelastung der Käuferin.
3.2 Keine Erfüllung der Aufklärungspflicht durch Offenlegung im Datenraum
Diese Aufklärungspflicht habe die Verkäuferin auch nicht dadurch erfüllen können, dass sie das Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016, aus der sich die drohende Kostenbelastung ergab, am 22. März 2019 in den virtuellen Datenraum einstellte.
Die Frage, ob der Verkäufer eines bebauten Grundstücks mit der Einrichtung eines Datenraums seine vorvertragliche Aufklärungspflicht gegenüber dem späteren Käufer erfüllt, könne nicht allgemein beantwortet werden. Entscheidend sei, ob der Verkäufer die berechtigte Erwartung haben dürfe, dass der Käufer durch Einsichtnahme in den Datenraum Kenntnis von dem offenbarungspflichtigen Umstand erlangen werde. Ob dies der Fall sei, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, (a.) ob und in welchem Umfang der Käufer eine Due Diligence (also die technische, wirtschaftliche und rechtliche Überprüfung der Immobilie) durchführe, (b.) wie der Datenraum und der Zugriff hierauf strukturiert und organisiert sei und welche Vereinbarungen hierzu getroffen seien sowie (c.) welcher Art die Information sei, um deren Offenbarung es gehe, und die Unterlage, in der sie enthalten sei.
In Anwendung dieser Maßstäbe habe die Verkäuferin nicht berechtigterweise davon ausgehen dürfen, dass die Käuferin die in dem Protokoll der Eigentümerversammlung vom 1. November 2016 enthaltenen Informationen noch rechtzeitig vor Vertragsschluss zur Kenntnis nehme. Die Käuferin habe ohne gesonderten Hinweis auf das neu eingestellte Dokument keinen Anlass gehabt, in dem Zeitfenster zwischen Einstellen des Protokolls am Freitag und dem Notartermin am darauffolgenden Montag noch einmal Einsicht in den Datenraum zu nehmen. Die Käuferin habe nicht am letzten Arbeitstag vor dem Notartermin mit neu eingestellten Dokumenten rechnen müssen.
Das Urteil ist eine Fortführung der bisherigen BGH-Rechtsprechung, etwa zur Besichtigung des Kaufgegenstands (Az. V ZR 178/92) oder zur Übergabe von Dokumenten (Az. V ZR 181/09). Das Novum des Urteils liegt in der Benennung der Kriterien, unter denen eine Erfüllung der vorvertraglichen Aufklärungspflicht des Verkäufers durch die Einrichtung eines Datenraums in Betracht kommt. Dass dies nur unter engen Voraussetzungen der Fall ist, zeigt exemplarisch, dass der Grundsatz der Eigenverantwortung des Käufers nicht unbeschränkt gilt, sondern den Rücksichtnahme- und Aufklärungspflichten des Verkäufers (§§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) in der Rechtsprechung des BGH ein hoher Stellenwert zukommt.
In der Sache ist zu begrüßen, dass der BGH die grundsätzliche Möglichkeit der Erfüllung vorvertraglicher Aufklärungspflichten durch die Einrichtung eines virtuellen Datenraums sieht. Es entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten der professionellen Transaktionspraxis, dass Unterlagen zum Kaufgegenstand in einem virtuellen Datenraum zur Verfügung gestellt werden. Für den Verkäufer wäre es mit einem nicht unerheblichen Kosten- und Zeitaufwand verbunden, müsste er den Käufer trotz Einrichtung des Datenraums ausdrücklich und ungefragt über sämtliche offenbarungspflichtigen Umstände gesondert aufklären. In Anbetracht der weiten Aufklärungspflichten des Immobilienverkäufers muss dem Käufer ein Weg zur Verfügung stehen, um seine Aufklärungspflichten erfüllen zu können. Die Einrichtung eines virtuellen Datenraums ist ein solcher.
Zutreffend ist auch die Vorgabe des BGH, dass es keine allgemeinen Regeln gibt, sondern sämtliche Umstände des Einzelfalls umfassend zu würdigen sind. Kein Fall und kein Käufer ist wie der Andere. Die seitens des BGH genannten Kriterien fördern insoweit die Rechtssicherheit für die Praxis, verlagern aber das Risiko auf die Verkäufer. Ein Verkäufer kann und soll nicht beurteilen müssen, ob ein Umstand für einen Käufer kaufrelevant ist, er von Informationen Kenntnis nimmt und inwieweit ihm oder seinen Beratern die Kompetenz zum „richtigen“ Verstehen zukommt. Am Ende des Tages kann es nur auf die Kenntnismöglichkeit ankommen. Dies sieht der BGH, geprägt durch ein Verbraucherbild auf der Käuferseite, in Teilen anders.
Die BGH-Entscheidung erhöht die Pflichten für Verkäufer.
Es sollte stets klare Regelung für einen Ankaufsprozess vereinbart werden. Dabei empfiehlt sich, mit dem Käufer – etwa im Rahmen eines Letter of Intent – zu vereinbaren, dass der Käufer eine Due Diligence durchführt und er die Pflicht hat, sich über alle bis zum Ablauf eines festgelegten Cut-off-Dates im Datenraum eingestellten Unterlagen zu informieren, weil dies Grundlage des Vertrages wird.
Die Vorbereitung eines Datenraums bedarf besonderer Sorgfalt. Verkäufer einer Immobilie sind angehalten, den Verkaufsprozess – erforderlichenfalls (insbesondere bei Großprojekten) auch unter professioneller Hilfestellung – eingehend vorzubereiten und in jedem Einzelfall genau zu prüfen, welcher Maßnahmen es bedarf, um das eigene Haftungsrisiko wegen Aufklärungspflichtverletzungen ausschließen zu können.
Die Offenlegung über einen Datenraum ist eine grundsätzlich geeignete Maßnahme, genügt allein aber nicht. Offenlegungsbedürftige Unterlagen in Bezug auf die Immobilie sind zutreffend zu benennen und gut geordnet so rechtzeitig in den Datenraum einzustellen, dass mit einer rechtzeitigen Kenntnisnahme durch den Käufer vor Beurkundung des Kaufvertrags gerechnet werden kann. Der Datenraum sollte außerdem übersichtlich sein, eine Suchfunktion enthalten und den Käufer auf später eingestellte Dokumente gesondert hinweisen. Nicht ausreichend sind Klauseln, wonach der Käufer Kenntnis vom Inhalt des Datenraums genommen hat. Sie führen nach dem BGH zu keinem pauschalen Ausschluss der Verkäuferhaftung, sondern allenfalls zu einer Umkehr der Beweislast.
Der sicherste Weg für die Verkäufer besteht letztlich darin, als offenlegungsbedürftig identifizierte Umstände im Kaufvertrag selbst (nochmals) zu benennen und den Käufer so ausdrücklich darüber aufzuklären. Das setzt aber wiederum voraus, dass der Verkäufer die technischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse der Immobilie bereits selbst, z B mittels einer (Vendor) Due Diligence, identifiziert hat.
Dr. Thomas Gohrke
Partner
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