14.07.2020
Autorinnen und Autoren: Christian Kuss, LL.M., Katharina Klenk, Dipl.Reg.-Wiss., Matthias Bergmann
Der New Deal for Consumers wird handfester, die EU-Verbandsklage kommt. Der Rat der EU einigte sich am 30.06. auf einen Entwurf für eine Richtlinie, der auf einem Kompromiss zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedsstaaten beruht. Die Beteiligten betonen, nicht nur die Durchsetzung von Rechten der Verbraucher/-innen zu stärken, sondern auch Unternehmen vor Missbrauch des neuen Instruments zu schützen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit sich aufgrund der bereits existierenden Musterfeststellungsklage am deutschen Recht überhaupt etwas ändert. Und: Müssen Unternehmen nun mit einer verstärkten Klageindustrie und Klagewellen rechnen?
Der Richtlinienentwurf macht den Mitgliedsstaaten Vorgaben zur Regelung einer Verbandsklage. Ein Verfahren muss eingerichtet werden, um Verfügungen und Abhilfen zugunsten von Verbraucher/-innen zu erreichen. Durch Verfügungen können Unternehmen – wie schon durch die im deutschen Recht bereits vorhandene, in ihrem Anwendungsbereich jedoch beschränkte Unterlassungsklage – zur Unterlassung rechtswidriger Praktiken verpflichtet werden. Interessanter sind die Abhilfen, durch welche unmittelbar eine Leistung erlangt werden kann. Als Beispiele nennt der Richtlinienentwurf konkret Entschädigung, Reparatur, Ersatzleistung, Preisminderung, Vertragskündigung und Kaufpreiserstattung.
Auch inhaltlich ist die Richtlinie breit aufgestellt. Neben allgemeinem Verbraucherschutz sollen EU-Verbandsklagen auch speziell in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Energie, Telekommunikation, Reisen und Tourismus, Flug- und Fahrgastrechte sowie Umwelt und Gesundheit erhoben werden können. Ausdrücklich ist auch der Datenschutz als Klagegegenstand angesprochen.
Die Verbraucher/-innen erstreiten ihre Rechte in der EU-Verbandsklage nicht selbst oder mit einer von ihnen gewählten (Groß-)Kanzlei. Diese Aufgabe übernehmen ausschließlich besonders qualifizierte Verbraucherschutzorganisationen, weshalb man von einer Verbandsklage spricht. In jedem Mitgliedsstaat muss es mindestens eine entsprechende Institution geben. Die Anforderungen an die Verbraucherschutzorganisation müssen den Zielen der Richtlinie entsprechen, wobei sich die Mitgliedsstaaten an den Bedingungen orientieren können, welche die Richtlinie selbst für grenzüberschreitende Fälle definiert. Demnach muss die Verbraucherschutzorganisation seit mindestens 12 Monaten im Verbraucherinteresse aktiv sein, es muss sich um eine Non-Profit-Organisation handeln und sie muss unabhängig von wirtschaftlichen Interessen arbeiten, die den Verbraucherinteressen entgegenstehen. Diese Anforderungen sind ähnlich der im deutschen Recht bereits vorhandenen Musterfeststellungsklage, welche ebenfalls eine Verbandsklage ist, die nur durch qualifizierte Einrichtungen erhoben werden kann.
Anders als eine Verordnung, wie z.B. die DSGVO, ist eine Richtlinie der EU nicht unmittelbar geltendes Recht, sondern muss von den Mitgliedsstaaten durch eigene Gesetze umgesetzt werden. Die Mühe können sie sich sparen, wenn die Regelungen der Richtlinie bereits im nationalen Recht entsprechend vorhanden sind. Im Zuge der Klagewelle im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik hat der deutsche Gesetzgeber bereits die Musterfeststellungsklage eingeführt. Er war dabei ebenso wie die EU darum bemüht, den Verbraucher/-innen einerseits ein effizientes Schutzinstrument an die Hand zu geben, andererseits eine Klageindustrie zu verhindern.
Fraglich ist aber, ob die Musterfeststellungsklage der EU-Verbandsklage entspricht. Ein wesentlicher Unterschied zeichnet sich dabei jedoch unmittelbar ab: Die EU-Verbandsklage ist ein Verfahren, an dessen Ende eine Verfügung oder eine Abhilfe steht. Wie oben beschrieben ist die Abhilfe eine handfeste Entschädigung. Es geht also nicht bloß darum, abstrakte Verstöße festzustellen, die dann zum Beispiel zu einer Änderung der Unternehmens-AGB führen oder einen späteren individuellen Prozess erleichtern. Vielmehr erhalten die betroffenen Verbraucher/-innen am Ende – so sie im Recht sind – konkreten Schadensersatz. Anders die Musterfeststellungsklage: Sie stellt lediglich fest, ob eine bestimmte rechtliche oder tatsächliche Voraussetzung für das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs vorliegt, § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO – das Ergebnis sind also bindende Feststellungen für nachfolgende Individualverfahren. Über den Anspruch selbst, und damit z.B. über den Schadensersatz, entscheidet im Streitfall ein Gericht in einem weiteren Prozess, bei dem es aber im Hinblick auf die Feststellungen in der Musterfeststellungsklage gebunden ist. Hier geht die EU-Verbandsklage deutlich über die Musterfeststellungsklage hinaus.
Auch gegenüber anderen Formen bereits existierender kollektiver Rechtsdurchsetzung in Deutschland, wie zum Beispiel dem Recht für Verbraucherschutzorganisationen, gegen Datenschutzverstöße vorgehen zu können, reicht die EU-Verbandsklage weiter. Sie können bisher vor allem Unterlassungs- oder Beseitigungspflichten bezüglich bestimmter Geschäftspraktiken durchsetzen, also Verbraucher/-innen auf einer allgemeinen Ebene schützen. Durch die EU-Verbandsklage könnte das konkreter werden. So sieht die DSGVO selbst Schadensersatzansprüche vor, die bisher eher ein Schattendasein führten, theoretisch aber durch die EU-Verbandsklage kollektiv durchgesetzt werden könnten.
Eine Klagewelle ist aber unwahrscheinlich; eine erneute Panik wie bei der Einführung der DSGVO vor zwei Jahren muss nicht aufkommen. Denn die meisten Unternehmen haben sich ohnehin bereits mit ihrem Datenschutz auseinandergesetzt, da die Aufsichtsbehörden mittlerweile auch schärfer kontrollieren und höhere Bußgelder verhängen. Und selbst wenn im Einzelfall eine Verbraucherschutzorganisation eine strengere Auslegung von Datenschutzvorschriften als die Aufsichtsbehörden vertritt, sieht die Richtlinie einen Schutz vor Missbrauch vor.
In den USA werben bei Verbraucherschutzverstößen große und kleine Kanzleien in Fernsehspots und auf Anzeigetafeln um Betroffene. Sie übernehmen das Prozessrisiko und erhalten im Gegenzug bei einem Sieg vor Gericht oder einem günstigen Vergleich einen Anteil. Das können, wie im Glyphosat-Fall gegen Monsanto-Bayer, auch mal mehrere Milliarden Dollar sein. Zwei besonders streitlustige Anwälte, die Kläger/-innen im Glyphosat-Streit gegen Monsanto Bayer vertreten hatten, wurden nun von einem Gericht in Virginia verurteilt. Sie hatten einen Zulieferer für Pflanzenschutzmittel damit erpresst, ihn in das Verfahren reinzuziehen.
Eine Klageindustrie nach US-amerikanischem Vorbild will die Richtlinie vermeiden. Um Unternehmen vor Missbrauch des neuen Instruments der EU-Verbandsklage zu schützen, sieht sie verschiedene Regelungen vor. So wird die bereits erwähnte Non-Profit Orientierung der prozessführenden Verbraucherschutzorganisation mäßigend wirken. Zudem dürfen Verwaltung und Gerichte offenkundig unbegründete Fälle frühzeitig abweisen. Vor allem aber muss die unterliegende Partei die Prozesskosten zahlen. Dieses finanzielle Risiko wird Verbraucherschutzorganisationen von leichtfertigen Klagen abschrecken.
Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Der Rat der EU hat sich auf den Text der Richtlinie geeinigt, es fehlt aber noch die formelle Festlegung. Anschließend muss das Europäische Parlament noch zustimmen. Der Richtlinienentwurf beruht aber auf einem Kompromiss zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedsstaaten, der bereits jetzt durch den Rat der EU und durch den Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments bestätigt wurde. Es handelt sich bei dem weiteren Verfahren also wahrscheinlich um eine Formsache. Nach dem Inkrafttreten der Richtlinie haben die nationalen Gesetzeber zwei Jahre Zeit, um ihr Recht anzupassen und weitere sechs Monate, bis es angewandt werden muss. Dabei wird sich zeigen, ob der deutsche Gesetzgeber die Anforderungen als bereits in der Musterfeststellungsklage erfüllt betrachtet, sie nachbessert oder ein ganz neues Instrument einführen wird.
Aus Verbrauchersicht wird die EU-Verbandsklage wohl über das Schutzniveau der Musterfeststellungsklage hinausgehen. Aufgrund der institutionellen Einhegung in Non-Profit-Verbraucherschutzorganisationen, der Abweisung offenkundig unbegründeter Fälle und vor allem dem Prozesskostenrisiko ist jedoch weder eine Klagewelle noch eine Klageindustrie zu befürchten. Zum Vergleich: Die Musterfeststellungsklage gibt es seit Ende 2018, im öffentlichen Register des Bundesamtes für Justiz finden sich bisher aber lediglich acht Verfahren. Zudem profitieren die verklagten Unternehmen sogar in gewisser Weise von einer stärkeren kollektiven Rechtsdurchsetzung der Verbraucher/-innen. So werden Prozesskosten durch die Bündelung gesenkt, wenn Verbraucher/-innen nicht parallel oder nachgelagert zahlreiche individuelle Klageverfahren anstrengen, die sich dann zu der befürchteten Welle summieren. Im aktuell besonders relevanten Bereich des Datenschutzes gibt es bereits Verbandsklagen und Aufsichtsbehörden, sodass durch die EU-Verbandsklage niemandem der Boden unter den Füßen weggerissen, sondern lediglich das ohnehin dünne Eis noch etwas dünner wird. Und bis es zu Änderungen kommt, werden sicher noch mindestens ein oder zwei Jahre vergehen. Für alle Beteiligten gilt also: Don’t panic!
Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss
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Christian Kuß, LL.M.
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