16.09.2022

EuGH trifft Grundsatzentscheidung zur Beteiligung von in einer wirtschaftlichen Einheit verbundenen Bietern mit jeweils eigenem Angebot an öffentlichen Ausschreibungsverfahren

Hintergrund

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 15.09.2022 in einem sog. Vorabentscheidungsverfahren des Bayerischen Obersten Landesgerichts in der Sache „Linienbündel Wittelsbacher Land“ (Rs. C-416/21) eine wichtige Grundsatzentscheidung getroffen zu der Frage, ob sich in einer wirtschaftlichen Einheit verbundene Bieter trotz wechselseitiger Kenntnis vom Angebotsinhalt jeweils mit einem eigenen Angebot an einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren beteiligen dürfen. Nach dem EuGH kann dies jedenfalls ein Grund sein, die verbundenen Unternehmen von der Ausschreibung auszuschließen. Das Urteil hat weitreichende Folgen für die Beteiligung von Unternehmen an Ausschreibungen in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten, da die Entscheidung eine verbindliche Auslegung zur sog. EU-Vergaberechts-Richtlinie (RL 2014/24/EU) trifft, die in allen Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt wurde.

Der Ausgangsfall

Am 19. Dezember 2019 veröffentlichte der Landkreis Aichach-Friedberg eine Bekanntmachung über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags für öffentliche Busverkehrsdienstleistungen in einem EU-weiten offenen Verfahren. J ist ein Kaufmann, der unter seiner Firma auftritt; K. Reisen ist eine Busverkehrsgesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Geschäftsführer und Alleingesellschafter J ist. Über das Vermögen von J war zuvor ein Insolvenzverfahren eröffnet worden, in welchem der Insolvenzverwalter die selbständige Tätigkeit von J freigegeben hatte. In seinem Angebot gab J dabei an, dass hinsichtlich seines Unternehmens kein Insolvenzverfahren beantragt oder eröffnet worden sei.

Sowohl J als auch K. Reisen gaben über dieselbe Person, nämlich J, fristgerecht Angebote ab. Daneben beteiligten sich andere Verkehrsdienstleister an der Ausschreibung, u.a. die E. GmbH & Co. KG.

Nach Auswertung sämtlicher Angebote teilte der Auftraggeber J und K. Reisen mit, dass ihre Angebote – da von derselben Person gefertigt – wegen Verstoßes gegen Wettbewerbsregeln ausgeschlossen worden seien und dass der in Rede stehende Auftrag an die E. GmbH & Co. KG vergeben werden solle. Nachdem ihre Rügen zurückgewiesen worden waren, stellten J und K. Reisen bei der Vergabekammer Südbayern einen sog. Nachprüfungsantrag. Dieser Rechtsbehelf führt zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vergabeentscheidung des Auftraggebers.

Mit Beschluss vom 12. Januar 2021 gab die Vergabekammer dem Antrag statt und verpflichtete den Landkreis, die Angebote dieser Bieter wieder in das in Rede stehende Vergabeverfahren aufzunehmen. Deren Verhalten sei nach Ansicht der Vergabekammer nicht als unzulässige wettbewerbsbeschränkende Abrede i. S. von § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB zu bewerten, da sie eine wirtschaftliche Einheit bildeten und das „Konzernprivileg“ für sich in Anspruch nehmen könnten. Diese Vorschrift sieht einen sog. „fakultativen Ausschlussgrund“ vor, also die Möglichkeit des öffentlichen Auftraggebers zum Ausschluss bestimmter Bieter, sofern es hinreichende Anhaltspunkte dafür gibt, dass das bietende Unternehmen mit anderen Unternehmen Vereinbarungen getroffen oder Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt hat, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Sofern das Konzernprivileg greift, gibt es aber keine „anderen“ Unternehmen, mit denen man sich abstimmen könnte, so dass dieser Ausschlussgrund nicht greife.

Ein Ausschluss könne nach Ansicht der Vergabekammer auch nicht auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt werden, weil dieser neben den abschließenden fakultativen Ausschlussgründen gem. § 124 Abs. 1 GWB keine Anwendung finde.

Der Landkreis Aichach-Friedberg legte gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde beim Bayerischen Obersten Landesgericht (BayObLG) ein. Er machte geltend, dass es gegen die Interessen der übrigen Bieter verstoße und den Gleichbehandlungsgrundsatz sowie die Wettbewerbsregeln verletze, wenn zwei Bietern, die eine wirtschaftliche Einheit bildeten, gestattet würde, an dem Vergabeverfahren teilzunehmen, und zwar insbesondere deshalb, weil diese Bieter ihre jeweiligen Angebote abstimmen konnten und dies im vorliegenden Fall auch unstrittig taten.

Das BayObLG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH mehrere entscheidungserhebliche Fragen zur Auslegung der § 124 Abs. 1 GWB im Wesentlichen entsprechenden Regelung des Art. 57 Abs. 4 der EU-Vergaberechts-Richtlinie zur Vorabentscheidung vor.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat hierzu Folgendes entschieden:

  • Der Gleichbehandlungsgrundsatz könne der Vergabe des in Rede stehenden Auftrags an Wirtschaftsteilnehmer, die – wie hier die Antragsteller J und K. Reisen – eine wirtschaftliche Einheit bilden und deren Angebote trotz getrennter Abgabe weder eigenständig noch unabhängig sind, entgegenstehen.
  • Die in § 124 Abs. 1 GWB (bzw. Art. 57 Abs. 4 RL 2014/24/EU) geregelten fakultativen Ausschlussgründe bezögen sich auf die berufliche Eignung des Bieters sowie auf einen Interessenkonflikt oder eine aus seiner Einbeziehung in dieses Verfahren resultierende Wettbewerbsverzerrung und seien insoweit abschließend aufgezählt.
  • Daraus ergebe sich jedoch nach Ansicht des EuGH – anders als es noch die Vergabekammer Südbayern entschieden hatte – keine Sperrwirkung für die Anwendung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Eine solche abschließende Aufzählung schließe nämlich nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten aus, materiell-rechtliche Vorschriften aufrechtzuerhalten oder einzuführen, durch die u. a. gewährleistet werden soll, dass auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge der Grundsatz der Gleichbehandlung und der daraus implizit folgende Grundsatz der Transparenz eingehalten werden, die von den Vergabestellen bei jedem Verfahren zur Vergabe eines solchen Auftrags zu beachten sind und die Grundlage der Unionsrichtlinien über die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge bilden; dies gelte allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.
  • Bei miteinander verbundenen Bietern, bei denen keine wirtschaftliche Einheit besteht, wäre der Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt, wenn man es zuließe, dass diese Bieter abgesprochene oder abgestimmte, d. h. weder eigenständige noch unabhängige, und ihnen deshalb gegenüber den anderen Bietern möglicherweise ungerechtfertigte Vorteile verschaffende Angebote einreichen könnten. In diesem Zusammenhang sei es zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geboten, dass die Vergabestelle verpflichtet ist, eine Prüfung und Würdigung der Tatsachen vorzunehmen, um zu bestimmen, ob das Verhältnis zwischen zwei Einheiten den Inhalt der einzelnen im Rahmen eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens abgegebenen Angebote konkret beeinflusst hat, wobei die Feststellung eines solchen wie auch immer gearteten Einflusses ausreiche, um die betreffenden Einheiten von dem Verfahren ausschließen zu können. Denn die Angebote müssten eigenständig und unabhängig abgegeben werden, wenn sie von miteinander verbundenen Bietern stammen.
  • Diese Erwägungen gelten nach Ansicht des EuGH erst recht für die Situation von Bietern, die nicht lediglich miteinander verbunden sind, sondern – wie hier die Antragsteller im Ausgangsfall – eine wirtschaftliche Einheit bilden.
Auswirkungen der Entscheidung des EuGH auf die Praxis

Das EuGH-Urteil ist für die Praxis von entscheidender Bedeutung. Da es eine verbindliche Aussage zur Auslegung der EU-Vergaberechts-Richtlinie trifft, müssen Unternehmen, die sich an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen, von nun an für sämtliche künftige Ausschreibungen in den EU-Mitgliedstaaten überprüfen, in welcher Form die Richtlinie in nationales Gesetz umgesetzt wurde, und ob die Regelungen des deutschen Gesetzgebers zum Schutz eines unverfälschten Bieterwettbewerbs entsprechend gesetzlich normiert wurden.

Insbesondere für Unternehmen, die sich – etwa durch starke regionale, unabhängig voneinander agierende Tochtergesellschaften – rege an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen, gilt es künftig genau darauf zu achten, dass der “Geheimwettbewerb“ nicht verletzt wird. Noch lässt sich nicht abschätzen, ob Vergabekammern und nationale Gerichte künftig einen noch strengeren Maßstab anwenden werden. In der Vergangenheit haben etwa Vergabekammern postuliert, dass verbundene Unternehmen Zweifel an der Unabhängigkeit ihrer Angebote ausräumen müssen (siehe etwa VK Rheinland, Beschluss vom 01.03.2022 – VK 48/21). Bereits die Tatsache, dass es sich bei zwei Bietern um verbundene Unternehmen handelt, sei ein Anhaltspunkt, der Zweifel an der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Angebotserstellung aufkommen lässt, was allerdings nicht per se zum Ausschluss der verbundenen Unternehmen von öffentlichen Ausschreibungen führe.

Mit dem EuGH-Urteil dürfte diese Lesart Rückenwind bekommen und Auftraggebern weitreichendere Ausschlussmöglichkeiten einräumen, insbesondere wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Konzerngesellschaften eben gerade nicht unabhängig voneinander agiert haben.

Unternehmen in einem Konzernverbund, die an ihrer Praxis einer parallelen, unabhängigen Beteiligung an Ausschreibungen festhalten wollen, ist anzuraten, klare Strukturen und Sicherheitsvorkehrungen zu schaffen, um einen Ausschluss von der Ausschreibung durch den Auftraggeber zu verhindern.

Wegen der weiteren Einzelheiten verweisen wir auf das Urteil des EuGH, abrufbar hier.  

Die Autoren vertreten im Verfahren vor dem BayObLG und dem EuGH die Beigeladene
(E. GmbH & Co. KG), die nach der bisherigen Vergabeentscheidung des Auftraggebers den Zuschlag erhalten soll.

Autor/in
Dr. Sebastian Felix Janka, LL.M. (Stellenbosch)

Dr. Sebastian Felix Janka, LL.M. (Stellenbosch)
Partner
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Ulf-Dieter Pape

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Dr. Henning Holz, LL.M.

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