15.09.2021
Der Brancheninformationsdienst energate befragte Luther Partner und Energierechtsexperte Dr. Holger Stappert zur Entscheidung des EuGH zur Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde (Rechtssache C-718/18, EU-Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland zur Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde (NRB))
Am 2. September urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Bundesnetzagentur in ihrem Handeln nicht unabhängig genug aufgestellt ist. Kläger war die EU-Kommission, die die europäische Erdgas- und Stromrichtlinie aus dem Jahr 2009 nur unzureichend in deutsches Energierecht umgesetzt sieht. energate befragte Holger Stappert, Partner bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH und Leiter der Practice Group Energy zu dem folgenschweren Urteil.
energate: Herr Stappert, das neue EuGH-Urteil hat für viel Aufregung im Markt gesorgt und schürt Ängste vor einer Superbehörde. Zu Recht?
Stappert: Der EuGH hat sich mit Richtlinienbestimmungen befasst, die seit vielen Jahren für alle Mitgliedstaaten der EU gelten. Die Umsetzung durch andere Mitgliedstaaten hat die Kommission nicht beanstandet. Ob diesbezüglich diesbezüglich
rechtsstaatliche Bedenken geäußert wurden, weiß ich nicht. Ich persönlich halte die demokratietheoretischen und rechtsstaatlichen Bedenken für im Ergebnis nicht durchgreifend. Wer mit der Stellung einer unabhängigen Regulierungsbehörde nicht einverstanden ist, kann - und muss aus meiner Sicht - auf eine Änderung der Richtlinie hinwirken. Er sollte nicht auf ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts hoffen. Die Kommission will im Dezember den Entwurf der Gasbinnenmarktrichtlinie vorlegen. Die Mitgliedstaaten haben somit schon bald die Gelegenheit zu einer Korrektur, wenn sie wollen.
Aus rein rechtlicher Sicht sehe ich auf der verfassungsrechtlichen Ebene keine dramatische oder gar beängstigende ntwicklung. Zugegeben, einige von mir sehr geschätzte Kollegen vertreten eine andere Auffassung. Das energierechtliche Unbehagen, dass eine Behörde ohne Determinierung der Maßstäbe sich autonom Regeln geben darf, die sie anschließend umsetzt und deren richterliche Kontrolle wenig dicht ist, schlägt meines Erachtens aber nicht durch auf die Beurteilung des Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzips. Werden die Binnenmarktrichtlinien nicht geändert, bedeutet das EuGH-Urteil eine Zäsur für das deutsche Regulierungsrecht. Es scheint mir sehr weitreichend formuliert. In den Kern des deutschen Energieregulierungsrechts muss also eingegriffen werden. Trotz allem bin ich aber noch unschlüssig, dass das Urteil des EuGH am Ende wirklich zwingend zu gravierenden praktischen Änderungen führen muss. Das wird genau zu prüfen sein.
energate: Wie wird das Urteil den Alltag Ihrer Kanzlei voraussichtlich verändern und fürchten Sie, dass die Entscheidungen der Bundesnetzagentur vor dem OLG Düsseldorf tatsächlich weniger angreifbar werden?
Stappert: Der EuGH meint, die Binnenmarktrichtlinien und das sonstige europäische Netzregulierungsrecht enthielten ein ausreichend konkretisiertes Normprogramm, das auf nationaler Ebene durch eine unabhängige Regulierungsbehörde umzusetzen sei. Zugegebenermaßen war und bin ich bislang nicht der Ansicht, dass dies der Fall ist. Wenn man jedoch den Ausgangspunkt des EuGH nachvollzieht, liegt es nahe, zukünftige Regulierungsentscheidungen an europäischen Vorgaben zu messen. Die Gerichte werden in Zweifelsfällen den EuGH per Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung des europäischen Rechts anrufen. Eine steigende Kontrolldichte durch nationale Gerichte erwarte ich nicht. Der EuGH hat die Überprüfung durch Gerichte zwar betont. Aber es fehlen zumindest zunächst einmal praktisch jegliche Maßstäbe, an denen eine Rechtsprüfung ansetzen könnte.
Wie der deutsche Gesetzgeber in der nächsten Legislaturperiode auf das Urteil reagiert, ist völlig offen. Aus dem Kreise von Fachkollegen habe ich schon sehr unterschiedliche Meinungen gehört, wie man auf das Urteil reagieren könnte. Auffällig finde ich, dass niemand eine Analyse angeregt hat, wie andere EU-Mitgliedstaaten das EU-Recht umgesetzt haben oder ob man in Anerkennung des Urteils zu dem Schluss gelangen muss, dass auch diese die europäischen Vorgaben missachten. Mir schiene eine solche Analyse naheliegend. Überraschend fand ich den Gedanken des EuGH, die Unabhängigkeit nationaler Regulierungsbehörden von Verordnungsvorgaben deutscher Ministerien würde die Entscheidungen von politischen Einflüssen freier machen. Die zu treffenden Entscheidungen sind auch bei Bemühung aller Sachlichkeit und Neutralität nicht unpolitisch. Aus meiner Sicht ist es notwendig, die Maßstäbe für die Netzregulierung gesetzlich zu konkretisieren, sei es auf nationaler oder europäischer Ebene. Auch eine unabhängige Regulierungsbehörde muss hinreichend determiniert werden. Darüber hinaus sehe ich die Notwendigkeit, das Verwaltungshandeln so transparent wie möglich zu gestalten und durch Verfahrensregeln und Rechtsschutzmöglichkeiten rechtsstaatlich einzuhegen.
energate: Abgesehen von der Rolle der Bundesnetzagentur, welche Folgen könnte das EuGH-Urteil noch für den deutschen Energiemarkt haben?
Stappert: Die Urteilsgründe zu den übrigen Beschwerdepunkten haben für die deutsche Rechtsanwendungspraxis unmittelbar Bedeutung. Betroffene Unternehmen sowie Anteilseigner und Investoren müssen sich unverzüglich damit auseinandersetzen, sofern das nicht bereits geschehen ist. Dies gilt insbesondere für den Begriff des "vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens", dem nunmehr Aktivitäten außerhalb der EU zuzurechnen sind. International agierende Infrastrukturinvestoren können dadurch unwissentlich in den Bereich der Entflechtungsvorgaben geraten sein, wenn außerhalb der EU Energie erzeugt oder vertrieben wird. Damit werden auch bestimmte EVUs aus Drittstaaten als Bieter für Infrastrukturinvestments zukünftig ausscheiden.
Die Fragen stellte Michaela Tix.
Dr. Holger Stappert
Partner
Düsseldorf
holger.stappert@luther-lawfirm.com
+49 211 5660 24843