22.06.2023
Der As-Efficient-Competitor-Test lebt!
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 19. Januar 2023 in einem sog. Vorabentscheidungsverfahren (Rs. C-680/20 – Unilever Italia) entschieden, dass unter bestimmten Voraussetzungen das Verhalten von Vertriebshändlern einem Produkthersteller zugerechnet werden kann, insbesondere, wenn der Hersteller den Vertriebshändlern Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt. Zudem hat das Gericht geurteilt, dass eine Wettbewerbsbehörde dazu verpflichtet ist, zu überprüfen, ob solche Klauseln in Vertriebsverträgen die Wirkung haben, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie das marktbeherrschende Unternehmen vom Markt auszuschließen. Darüber hinaus führte der EuGH in seinem Urteil aus, dass Analysen zum sog. „As-Efficient-Competitor“-Test („AEC-Test“) zu berücksichtigen sind, insbesondere, wenn dies von dem betroffenen Unternehmen unter Vorlage solcher Analysen in einem Verfahren wegen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV vorgetragen wurde.
Das Urteil hat weitreichende Folgen – zum einen für die Haftung marktbeherrschender Unternehmen, zum anderen eröffnet es einem marktbeherrschenden Unternehmen aber auch die Möglichkeit, wirtschaftliche Analysen als Beweise gegen die Verdrängungseignung vorzulegen – selbst bei Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln.
Die Entscheidung betraf das Ausgangsverfahren zwischen Unilever Italia Mkt. Operations Srl. („Unilever“) und der italienischen Wettbewerbsbehörde Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato („AGCM“) vor dem Amministrativo Regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht für die Region Latium, Italien).
Gegenstand des Verfahrens war die Entscheidung der italienischen Wettbewerbsbehörde AGCM vom 31. Oktober 2017, mit der die AGCM eine Geldbuße gegen Unilever wegen Verstoßes gegen das Verbot marktmissbräuchlichen Verhaltens aus Art. 102 AEUV in Höhe von rund 61 Millionen Euro verhängt hatte.
In ihrer Entscheidung stellte die AGCM fest, dass Unilever seine marktbeherrschende Stellung auf dem Markt für den Vertrieb von abgepacktem Speiseeis missbraucht habe. Gegenstand dieser Feststellung waren Ausschließlichkeitsklauseln, die den Betreibern von Verkaufsstellen durch Unilevers Vertriebshändler auferlegt wurden und diese dazu verpflichteten, ihren gesamten Bedarf an abgepacktem Speiseeis ausschließlich von Unilever zu beziehen. Als Gegenleistung wurde diesen Abnehmern eine Vielzahl von Rabatten und Provisionen gewährt. Zwar habe Unilever das unmittelbar missbräuchliche Verhalten nicht selbst an den Tag gelegt, sondern seine Vertriebshändler. Das Verhalten der Vertriebshändler sei aber als eigenes Verhalten von Unilever zu werten, da Unilever mit ihnen eine wirtschaftliche Einheit bilde und Unilever in die Geschäftspolitik der Vertriebshändler eingegriffen habe, sodass diese nicht mehr eigenständig gehandelt hätten. Die AGCM war der Ansicht, Unilever habe hiermit eine Verdrängungsstrategie verfolgt, die nicht nur dazu geeignet gewesen sei, das Wachstum seiner Wettbewerber auf dem Markt zu behindern, sondern auch die Kunden dazu zu bewegen, ihre Ware weiterhin ausschließlich bei Unilever zu beziehen. Hierbei spiele es keine Rolle, ob Unilever selbst oder seine Vertriebshändler wettbewerbswidrig gehandelt haben.
Im Laufe der Untersuchung legte Unilever wirtschaftswissenschaftliche Analysen entsprechend des sog. AEC-Tests vor. Mit dem AEC-Test wird ermittelt, ob Verhaltensweisen im konkreten Fall geeignet sind, Wettbewerber des Marktbeherrschers zu behindern, die gleichermaßen effizient aufgestellt sind wie dieser. Die AGCM berücksichtigte diese Analysen jedoch nicht. Sie war vielmehr der Meinung, die vorgelegten Analysen seien bei Ausschließlichkeitsklauseln irrelevant, da bereits die Verwendung solcher Klauseln durch ein marktbeherrschendes Unternehmen für die Feststellung eines Missbrauches genüge.
Unilever erhob gegen die Entscheidung der AGCM Klage beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio, welches die Klage in vollem Umfang abwies.
Gegen dieses Urteil legte Unilever Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) ein, welcher das Verfahren aussetzte und dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorlegte.
Die erste Vorlagefrage betraf die Vorabentscheidung darüber, inwieweit das Verhalten eines Vertriebshändlers dem Hersteller mit beherrschender Stellung zugerechnet werden kann. Zweitens hatte sich das Gericht mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Wettbewerbsbehörde bei der Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen per se von einer Verdrängung anderer, ebenso effizienter Wettbewerber ausgehen kann, oder ob sie dies anhand des AEC-Tests im Einzelnen zu überprüfen hat.
Der EuGH hat hierzu Folgendes entschieden:
I. Zurechnung des Verhaltens der Vertriebshändler gegenüber dem Hersteller
Die erste Vorlagefrage beantwortet der EuGH dahingehend, dass dem marktbeherrschenden Unternehmen missbräuchliches Verhalten seiner Vertriebspartner grundsätzlich zugerechnet werden kann.
Entscheidend hierfür sei, dass das Vertriebsunternehmen gemäß den spezifischen Weisungen des marktbeherrschenden Unternehmens gehandelt habe und damit eine von diesem Unternehmen einseitig beschlossene Politik umgesetzt habe. Aufgrund der einseitigen Vorgabe der beschlossenen Maßnahmen könne das missbräuchliche Verhalten dem Unternehmen eindeutig zugeordnet werden und damit für die Anwendung von Art. 102 AEUV als für dieses Verhalten allein verantwortlich angesehen werden. Vertriebshändler und das Vertriebsnetz seien in einem solchen Fall als bloßes Instrument zur territorialen Verbreitung der Geschäftspolitik des Unternehmens anzusehen. Dies gelte insbesondere dann, wenn (i) ein solches Verhalten über von den Vertriebshändlern zu verwendende Standardverträgen umgesetzt werde, welche (ii) vollständig und einseitig von dem Hersteller abgefasst worden seien, (iii) ohne Zustimmung des Herstellers nicht abgeändert werden dürften und die (iv) zugunsten seiner Produkte Ausschließlichkeitsklauseln enthielten. Dabei gelte die Zurechenbarkeit unabhängig davon, ob die Vertriebshändler zu der Unternehmensgruppe gehörten oder ob eine hierarchische Verbindung zwischen den Unternehmen bestehe.
II. Würdigung wirtschaftlicher Analysen durch Wettbewerbsbehörden
Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage betonte der EuGH, dass die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen zwar naturgemäß eine Ausnutzung einer beherrschenden Stellung indizieren, die Wettbewerbsbehörden aber dennoch verpflichtet sind, konkret zu beurteilen, ob diese Klauseln geeignet sind, den Wettbewerb zu beschränken. Hierbei haben die Wettbewerbsbehörden insbesondere auch wirtschaftliche Analysen zu berücksichtigen, die von dem marktbeherrschenden Unternehmen vorgelegt werden.
Der EuGH führte in seiner Begründung unter anderem an, dass die Verwendung von Rabattsystemen und Ausschließlichkeitsklauseln objektiv gerechtfertigt sein kann; dies könne z.B. durch die Vorlage von wirtschaftswissenschaftlichen Analysen zur (fehlenden) Verdrängungswirkung belegt werden. Die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln sei daher zwar ein Indiz, begründe aber nicht per se einen Marktmissbrauch. Auch habe nicht jede Verdrängungswirkung eine Verzerrung des Marktes zur Folge. Schließlich verfolge Art. 102 AEUV nicht das Ziel zu gewährleisten, dass sich weniger effiziente Wettbewerber auf dem Markt halten könnten. Im Hinblick auf Rabattpraktiken und Ausschließlichkeitsklauseln sei insoweit für den konkreten Einzelfall zu prüfen, ob das vorgeworfene nachteilige Verhalten nicht durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden könne. Der AEC-Test könne in diesem Zusammenhang insbesondere bei Ausschließlichkeitsklauseln ein Indiz für die Auswirkungen einiger dieser Praktiken sein. Auch wenn die Wettbewerbsbehörde hierbei nicht selbst zur Durchführung des Tests verpflichtet sei, so müsse sie dennoch – nicht zuletzt zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – das Unternehmen in beherrschender Stellung anhören, die von ihm vorgelegten Beweise zur Kenntnis zu nehmen und auf ihren Beweiswert untersuchen.
Das Urteil des EuGH ergänzt die Fallgruppen, in denen einem marktbeherrschenden Anbieter das Verhalten gesellschaftsrechtlich unabhängiger Dritter zugerechnet werden kann und erweitert damit den Haftungsumfang marktbeherrschender Unternehmen nach Art. 102 AEUV. Bereits in der Vergangenheit haben sich die Gerichte mit der Zurechnung kartellrechtswidrigen Verhaltens und der Frage, unter welchen Voraussetzungen formal autonome Wirtschaftsteilnehmer eine wirtschaftliche Einheit bilden, befasst. Das Gericht der Europäischen Union hat in diesem Zusammenhang etwa darüber entschieden, dass Unternehmen für die kartellrechtswidrigen Handlungen ihrer Handelsvertreter haften können, auch wenn diese für mehrere Unternehmen tätig sind und das Unternehmen keine Kenntnis von den wettbewerbswidrigen Handlungen des Handelsvertreters hat (EuG, Urteil vom 15.07.2015, Az. T-418/10 – voestalpine). Eine Haftung sei jedenfalls dann zu bejahen, wenn das Unternehmen das wirtschaftliche Risiko für die Tätigkeiten des Handelsvertreters übernommen habe und der Handelsvertreter nicht unabhängig vom Unternehmen agieren könne. Im vorliegenden Fall hat der EuGH eine Zurechnung des Verhaltens Dritter an marktbeherrschende Unternehmen schon dann bejaht, wenn und soweit diese ihren Vertriebshändlern auferlegen, ihre (wettbewerbswidrige) Geschäftspolitik durchzusetzen.
Gleichzeitig bekräftigt das Urteil, dass bestimmte wettbewerblich relevante Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens aus Effizienzgründen im Einzelfall gerechtfertigt sein können. Hiermit bestätigt der EuGH die bereits im Intel-Urteil (EuGH, Urteil vom 06.09.2017, Rs. C-413/14 P – Intel) verfolgte Linie, wonach auch bei der Verwendung von Ausschließlichkeitsbindungen und Treuerabatten eine wettbewerbswidrige Verdrängungswirkung durch das betroffene Unternehmen durch Vorlage entsprechender Beweise widerlegt werden kann.
Im Fall Unilever bestätigt der EuGH noch einmal seine Tendenz zu einer umfassenderen und Analyse der Auswirkungen von Rabattsystemen und gibt marktbeherrschenden Unternehmen darüber hinaus mehr Spielraum, nachzuweisen, dass die von ihnen auferlegten Ausschließlichkeitsklauseln keine Verdrängungswirkungen haben. Es bleibt abzuwarten, wie die Wettbewerbsbehörden die vorgelegten Beweise im Einzelfall würdigen. Der EuGH deutet in seinem Urteil jedoch bereits an, dass Analysen und Tests, wie der AEC-Test, alleine nicht ausreichen, um das Vorliegen einer Verdrängungswirkung zu beurteilen. Andere Faktoren, durch welche die konkreten Umstände des Falles gewürdigt werden, wie der Umfang des Marktverhaltens, Kapazitätsengpässe von Rohstofflieferanten sowie die Frage, ob das beherrschende Unternehmen (teilweise) ein unersetzbarer Anbieter ist, spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle.
Insgesamt sind marktbeherrschende Unternehmen gut beraten, wenn sie schon bei der Vertragsgestaltung rechtlichen und ökonomischen Rat einholen, um beurteilen zu können, ob die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln im konkreten Fall gerechtfertigt ist. Spätestens wenn ein entsprechendes Verfahren nach Art. 102 AEUV bereits eingeleitet wurde, erscheint es vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung sehr ratsam, entsprechende Analysen zu erstellen und vorzulegen.
Dr. Sebastian Felix Janka, LL.M. (Stellenbosch)
Partner
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Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)
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Tamara Hefner