18.12.2023
BGH-Urteil vom 19. Oktober 2023, IX ZR 249/22
Der BGH hat sich mit Urteil vom 19. Oktober 2023 (IX ZR 249/22) erneut zur Zulässigkeit der Aufrechnung in Insolvenzverfahren geäußert. Dabei stellte er klar, dass die Herstellung einer Aufrechnungslage mit (Schadensersatz-)Forderungen aus anderen Vertragsverhältnissen gläubigerbenachteiligend sein kann. Dies gilt selbst dann, wenn eine im Voraus erklärte außerordentliche Kündigung wirksam ist.
Die Beklagte hatte die Insolvenzschuldnerin auf der Grundlage zweier Auftragsschreiben mit Metallbauarbeiten beauftragt. Sie kündigte – neben weiteren – diese Verträge außerordentlich und fristlos gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B nachdem sie von dem Insolvenzantrag der Schuldnerin Kenntnis erlangte und nahm die bis dahin erbrachten Arbeiten ab.
Der Insolvenzverwalter nahm die Beklagte auf Zahlung des restlichen Werklohns für Metallbauarbeiten der Schuldnerin auf der Grundlage der beiden Auftragsschreiben gemäß zweier Schlussrechnungen in Höhe von rd. EUR 182.000 in Anspruch. Die Beklagte rechnet mit streitigen Schadensersatzansprüchen aus einem anderen (ebenfalls außerordentlich und fristlos gekündigten) Bauvorhaben in Höhe von rd. EUR 383.000 auf.
Das Landgericht hatte unter Berücksichtigung von Abzügen wegen nicht erbrachter Teilleistungen der Klage in Höhe von rd. EUR 173.000 stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hatte nur insoweit Erfolg, als hinsichtlich eines Betrags von EUR 10.000 eine Verurteilung Zug um Zug gegen Stellung von Gewährleistungsbürgschaften ausgesprochen wurde. Mit der Revision verfolgte die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag daher weiter.
Im Grundsatz setzt die Aufrechnung zwei selbstständige Forderungen voraus, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen und gleichartig sind, § 387 BGB. Im Kontext eines Insolvenzverfahrens kann es jedoch zu einer Kollision des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung auf der einen Seite und dem Interesse des einzelnen Forderungsgläubigers auf der anderen Seite kommen. Dem versuchen die §§ 94 ff. InsO Rechnung zu tragen. Gemäß § 94 InsO wird das Recht zur Aufrechnung durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt, wenn ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung kraft Gesetzes oder auf Grund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt ist. Der Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Aufrechnungslage sind demnach entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbote greifen. Nicht schutzwürdig sind Gläubiger, die ihr Aufrechnungsrecht durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangen. Die Aufrechnung ist gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig. Da sich der § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO auf die allgemeinen Vorschriften über die Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) bezieht, sind sämtliche Merkmale einer anfechtbaren Rechtshandlung zu erfüllen. Es muss dementsprechend eine gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung und ein Anfechtungsgrund (z. B. § 130 InsO) vorliegen.
Der BGH stellte fest, dass die Aufrechnung der Beklagten nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO i.V.m. § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO unzulässig war. Aus der Wirksamkeit der Sonderkündigung folge nicht, dass die Beklagte mit ihrem an die Kündigung anknüpfenden Mehrkostenerstattungsanspruch aufrechnen könne. Die Aufrechnungslage mit etwaigen Gegenforderungen aus § 8 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 VOB/B wurde erst durch die in Kenntnis des Eigenantrags erklärte Kündigung hergestellt. Daher war die Aufrechnung der Beklagten gegenüber den Vergütungsansprüchen der Insolvenzschuldnerin unzulässig.
Nach Auffassung des BGH waren die Voraussetzungen der Anfechtung nach § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO gegeben, weil die Kündigung aus wichtigem Grund dazu geführt hat, dass sich die Forderung des Insolvenzschuldners auf Werklohn und die Gegenforderung auf Schadensersatz aus einem anderen Vertragsverhältnis aufrechenbar gegenüberstanden. Die Aufrechnung war aus Sicht des BGH auch gläubigerbenachteiligend. Die Gläubigerbenachteiligung war jedenfalls selbst dann geben, wenn die Rechtshandlung, die die Aufrechnungslage herbeiführt, der Insolvenzmasse auch Vorteile verschafft hat, weil die Forderungen aus unterschiedlichen Verträgen stammen.
Die Revision der Beklagten hatte daher keinen Erfolg.
Die Entscheidung des BGH ist vor allem mit Blick auf die Anzahl zunehmender Insolvenzverfahren im Baugewerbe beachtlich. Insolvenzverwalter können sich (auch weiterhin) unmittelbar auf die Unwirksamkeit einer Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO berufen. Der BGH betont dabei explizit die Trennung zwischen insolvenzrechtlich unwirksamen Rechtshandlungen und dem Grundgeschäft (wie hier der Kündigung).
Die Wirksamkeit des außerordentlichen Kündigungsrecht gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B bleibt daher im Grunde zwar bestehen. Allerdings steht sie der Unwirksamkeit der Aufrechnung nicht entgegen. Der aus einer außerordentlichen Kündigung entstehende Schadensersatzanspruch soll im Ergebnis also nicht dazu führen, dass Auftraggeber ihre Nachteile monetarisieren und sich so schadlos halten können. Zweifelsfrei kann das Recht zur außerordentlichen Kündigung zwar dazu beitragen, dass der Auftraggeber sich zügig vom Vertrag lösen und ohne Rücksicht auf das Insolvenzrecht das eigene Interesse verfolgen können. Zu einer wirtschaftlichen Aufwertung der Schadensposition (durch Aufrechnung statt Forderungsanmeldung zur Insolvenztabelle) führt das insolvenzfeste Kündigungsrecht aber nicht.
Daher sollten nach wie vor schon während der Vertragsverhandlungen geeignete Sicherheiten (z. B. Drittsicherheiten) in Betracht gezogen werden, um wirtschaftlichen Risiken, die im Zuge der Insolvenz des Vertragspartners entstehen können, abzusichern.
Christiane Kühn, LL.M. (Hong Kong)
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