27.10.2023
Die EU-Kommission hat angekündigt, die Gruppenfreistellungsverordnung für Konsortien, nach der gewisse Konsortialvereinbarungen im Linienverkehr vom Kartellverbot ausgenommen werden, nicht zu verlängern. Die Verordnung wird daher zum 25. April 2024 endgültig auslaufen. Zwar können Konsortien auch weiterhin bestehen und neu entstehen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für deren Zulässigkeit werden jedoch zukünftig den allgemeinen EU-Kartellvorschriften ohne die bisherige – erleichterte – Sonderregelung unterstellt und damit erschwert sein.
Grundsätzlich verbietet das europäische Wettbewerbsrecht Vereinbarungen zwischen Unternehmen mit zwischenstaatlichem Bezug, die den Wettbewerb spürbar beeinträchtigen (Art. 101 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – „AEUV“). Absatz 3 des Artikels sieht jedoch vor, dass bestimmte Vereinbarungen oder Gruppen von diesem Verbot ausgenommen werden können. Hiervon machte die EU-Kommission für Konsortialvereinbarungen in der Linienschifffahrt Gebrauch, indem sie im Jahr 2009 die Verordnung (EG) Nr. 906/2009, die sogenannte Gruppenfreistellungsverordnung für Konsortien zwischen Schifffahrtsunternehmern (nachfolgend „GVO“) erließ. Diese sieht vor, dass sich Seeschifffahrtsunternehmen unter bestimmten Voraussetzungen zu Konsortien (häufig in Form von „Allianzen“) zusammenschließen dürfen, um gemeinsam internationale Seeverkehrsliniendienste von oder nach einem oder mehreren Häfen der europäischen Gemeinschaft anzubieten und zu erbringen. Diese sektorspezifische Gruppenfreistellung befreit also zahlreiche Konsortien pauschal von dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Klauseln.
Ein Konsortium ist ein Zusammenschluss von Schifffahrtsunternehmen, die vereinbaren, ihre jeweiligen Schiffskapazitäten zu bündeln und den Linienverkehr gemeinsam zu organisieren. Linienschifffahrtsdienste, auf die die GVO beschränkt ist, sind regelmäßige, fahrplangebundene Seeverkehrsdienste zur Beförderung von Gütern. Konsortien nutzen ihre Schiffe also gemeinsam und stimmen die Fahrpläne untereinander ab. Die weltweit größten Reedereien sind im Linienverkehr allesamt in Konsortien organisiert. Voraussetzung der Freistellung ist, dass der gemeinsame Marktanteil der Mitglieder des Konsortiums auf dem betreffenden Markt nicht mehr als 30% der insgesamt beförderten Gütermenge beträgt.
Die Schifffahrtsunternehmen sollten im Bereich des Linienverkehrs in den Genuss der kartellrechtlichen Sonderbehandlung kommen, weil dort die Investitionen besonders hoch sind. Mit der Verordnung sollten Effizienzgewinne für Reedereien durch eine erhöhte Auslastung der Schiffe sowie eine Steigerung der zusätzlichen Abfahrten und Direktverbindungen, mithin eine verbesserte Leistungsfähigkeit und -qualität, die den Kunden zu Gute kommen sollten, ermöglicht werden. Sie sollte die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Linienschifffahrtsbranche und den Handel fördern.
Nach dem Erlass der GVO im Jahr 2009 hatte die EU-Kommission diese nach entsprechenden Evaluierungen der Marktbedingungen und öffentlichen Konsultationsverfahren in den Jahren 2014 und 2020 jeweils verlängert. Die letzte Verlängerung begründete die EU-Kommission damit, dass in den vorangegangenen Jahren sowohl die Kosten für die Schifffahrtsunternehmen als auch die Preise für ihre Kunden pro 20-Fuß-Container (TEU) bei gleichbleibend stabiler Qualität der Dienstleistungen um rund 30 % gesunken seien. Den Zweck der GVO sah sie damit weiterhin als erfüllt und die Sonderregelung daher als gerechtfertigt an.
Die Berechtigung der GVO wurde jedoch schon vor der letzten Verlängerung im Jahr 2020 äußerst kontrovers gesehen:
Die Verbände der Reeder halten die kartellrechtliche Sonderbehandlung weiterhin für gerechtfertigt und notwendig. Die GVO gebe den Reedereien Rechtssicherheit, ihre Dienste weiterhin anbieten zu können. Sie führe zu dem bezweckten verbesserten Beförderungsangebot, zu niedrigeren Preisen und habe zudem erhebliche positive Umwelteffekte. Sie habe außerdem eine wichtige Bedeutung für Handelsrouten, auf denen nur wegen der gebündelten Frachtaufkommen noch mehrere Wettbewerber zu halten sein könnten.
Die Mehrheit der Verbände der Verlader, Speditions- und Hafenunternehmen hingegen übt massive Kritik an der GVO und an deren Auswirkungen auf den Markt. Die Verbände erklärten, immer weniger von den versprochenen Vorteilen zu profitieren. Im Gegenteil führe die Freistellung vor allem zu einer erheblichen Verhandlungs- und Marktmacht der Reedereien sowie zu steigenden Preisen; die Leistungsqualität habe eher abgenommen; durch die stetige Vergrößerung der Schiffe würden nicht mehr alle Häfen (direkt) angefahren werden; und es mangele an Transparenz für die Kunden. Ferner würden die Konsortien ihr Verhalten auch über den bestimmten Kernbereich, nämlich die operativen Absprachen für die Auslastung von Schiffen, hinaus koordinieren, so zum Beispiel in Bezug auf den Betrieb von Hafenterminals und auf Hinterlandverkehre.
In einer Stellungnahme vom 10. Oktober 2023 hat die EU-Kommission nun die Ergebnisse der im Jahr 2022 durchgeführten öffentlichen Konsultation und der Bewertung zusammengefasst. Sie schließt sich im Ergebnis den Kritikern der Regelung an, wonach eine weitere Verlängerung der GVO nicht mehr gerechtfertigt ist. Dies stützt sie insbesondere auf folgende Erwägungen:
Auch nach Auslaufen der GVO zum 25. April 2024 werden Konsortien weiterhin be- und entstehen dürfen. Allerdings gelten für deren Zulässigkeit dann nicht mehr die erleichterten Voraussetzungen der GVO, sondern die allgemeinen EU-Kartellvorschriften.
Unternehmen müssen daher im Wege der sogenannten Selbsteinschätzung mit Hilfe ihrer Anwälte zunächst prüfen, ob die konkrete praktizierte oder zukünftig ins Auge gefasste Kooperation eine (spürbare) Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt. Wenn dem so ist, muss weiter geprüft werden, ob die Voraussetzungen einer Einzelfreistellung vorliegen. Diese erfordert vier Voraussetzungen:
In einer Gesamtabwägung müssen die wettbewerblich positiven die negativen Wirkungen überwiegen. Die Erfüllung der vier Kriterien wird – anders als unter der GVO – bei den Kooperationen nun nicht mehr vermutet, sondern muss im Einzelfall analysiert werden und nachweisbar sein. Eine Hilfestellung für Unternehmen wie auch Wettbewerbsbehörden und nationale Gerichte zur Beurteilung sowohl der Frage, ob im konkreten Fall eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung vorliegt und wenn ja, ob dann die Kriterien der Einzelfreistellung erfüllt sind, geben die neuen Leitlinien der EU-Kommission für die Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit vom 1. Juni 2023 (siehe https://competition-policy.ec.europa.eu/system/files/2023-07/2023_revised_horizontal_guidelines_en.pdf).
Die Bildung von Konsortien wird daher weiter möglich sein, erfordert aber eben eine solche Einzelfallprüfung. Unternehmen, die derzeit Konsortien dieser Art bilden, sollten rechtzeitig vor Auslaufen der GVO prüfen, ob sie diese unverändert weiterführen können, oder ob Änderungen oder sogar die Beendigung der Kooperation geboten sind.
Jette Gustafsson, LL.M. (Boston)
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Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)
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