26.11.2018

Keine Angst vor der Verhandlung 2.0 - Der lange Weg zur zeitgemäßen Verfahrensgestaltung

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Hintergrund

26.11.2018

Keine Angst vor der Verhandlung 2.0 - Der lange Weg zur zeitgemäßen Verfahrensgestaltung

Schon immer wurde die ZPO mit technischem Fortschritt und einer veränderten Lebenswirklichkeit konfrontiert. Gerade einmal zwanzig Jahre nach ihrem Inkrafttreten im Jahr 1879 musste sich das Reichsgericht etwa mit der Frage beschäftigen, ob prozessvorbereitende Schriftsätze per Telegramm eingereicht werden dürfen. Im Rahmen einer umfassenden Reform des Zivilprozesses zur Jahrtausendwende wurde im Jahr 2002 auf Betreiben der Justizverwaltungen ein neuer § 128a ZPO geschaffen, der es ermöglichte, im Einvernehmen der Parteien per Videokonferenz mündlich zu verhandeln und Beweise aufzunehmen. Die viel diskutierte, in der Praxis aber nur zögerlich angenommene neue Möglichkeit wurde 2013 durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltlichen Verfahren aus gerichtlicher Sicht weiter liberalisiert. Eine Videoverhandlung konnte nun auch ohne Zustimmung aller Prozessparteien von Amts wegen gestattet oder angeordnet werden. Aber auch mit dieser neu gewonnenen Freiheit fristet die Norm weit über fünf Jahre nach ihrer Einführung eher ein Schattendasein.

Die im Jahr 2013 erfolgte Neufassung des im Jahre 2002 geschaffenen § 128a ZPO sollte den Prozessführungsaufwand verschlanken, Reisekosten senken und die Verfügbarkeit von beispielsweise Dolmetschern für seltene Sprachen verbessern, insgesamt also "ein Serviceangebot im Sinne einer kundenorientierten Justiz" (BT-Drs. 17/1224, S. 12) darstellen. In der anwaltlichen und gerichtlichen Praxis scheint sie jedoch noch nicht angekommen zu sein. Dabei tun sich gerade durch eine Beweisaufnahme nach dem aktualisierten Paragraphen verschiedenste Möglichkeiten auf - seien sie redlich oder nicht.

Wahrung der Verfahrensgrundsätze

Eine Verletzung der allgemeinen Verfahrensgrundsätze ist durch die Verhandlung und Beweisaufnahme per Videokonferenz nicht zu befürchten. Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist nicht berührt, da er sich nur auf den Gerichtssaal und das Gericht selbst bezieht. Die Durchbrechung des Mündlichkeitsgrundsatzes ist durch die allgemein anerkannte Gleichstellung von mündlichem Vorbringen im Rahmen technischer Einrichtungen mit der unmittelbaren Anwesenheit vor Gericht gerechtfertigt. Schließlich ist auch der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung in einer per Videokonferenz geführten Verhandlung gewahrt. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen kann der Richter bei einer Bildübertragung genauso anhand der Körpersprache, der Art des Sprechens und den Reaktionen des Befragten bewerten, wie er es bei dessen körperlichen Anwesenheit könnte. Überdies wird dem Grundsatz der Unmittelbarkeit besser Rechnung getragen, als wenn der Zeuge durch ein Rechtshilfegericht vernommen wird. Ferner ist die Videovernehmung kostengünstiger und erfordert jedenfalls bei weiten Entfernungen nicht so viel Aufwand wie die Anreise von Zeugen oder Sachverständigen.

Grauzone Prozesstaktik?

Doch stehen diesen Chancen auch prozesstaktische Gefahren gegenüber? Gerade bei der Vernehmung von Auslandszeugen eröffnet die Videokonferenztechnik neue Verzögerungsmöglichkeiten. Eine taktierende Partei könnte zur vermeintlichen Verfahrensbeschleunigung die Videovernehmung eines Auslandszeugen beantragen und damit herbeiführen, die Vernehmung jedoch immer wieder scheitern lassen. Der Zeuge, der sich im Ausland befindet, wäre gegen Zwangsmittel der deutschen Gerichtsbarkeit zunächst gefeit. Dem deutschen Gericht bliebe einzig der Weg über ein Rechtshilfeersuchen, das – abhängig von dem Aufenthaltsstaat – nur mehr oder weniger erfolgreich sein wird. Die technische Ausstattung des Gerichts garantiert also längst keinen Zugriff auf den Zeugen.Gleichwohl können solche Schwierigkeiten bei der Vernehmung von Auslandszeugen nicht dem Einsatz von Videotechnik zugeschrieben werden. Sie entstehen vielmehr durch die territoriale Begrenzung staatlicher Hoheitsrechte. Ein Gericht, das den Missbrauch einer einmal gestatten Vernehmung im Wege der Bild- und Tonübertragung erkennt, kann die Gestattung wieder aufheben und sich bemühen, des Zeugen auf herkömmlichem Wege habhaft zu werden. Im Rechtsverkehr mit dem europäischen Ausland – mit der Ausnahme Dänemarks – ist die Videokonferenz als Form der Beweisaufnahme zudem fest verankert und mit einem Instrumentarium von Zwangsmitteln versehen (vgl. zum Beispiel in Artikel 10 Absatz 4 und Artikel 13 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001), sodass die gerichtliche Durchsetzungsfähigkeit ein hohes Niveau erreicht.Letztlich muss das Gericht abwägen, welchen Weg es für gangbar hält, und welche Beweisangebote und Beweismittel es dabei aufgreift, um eine rechtsmittelfeste Entscheidung zu treffen. Die Gefahr prozesstaktischer Verzögerungen muss in diese Bewertung einfließen. Der Einsatz von Videotechnik für eine Beweisaufnahme dürfte jedoch nur selten wegen zu befürchtender Verzögerungen abzulehnen sein, denn in vielen relevanten Fällen ist das gerichtliche Instrumentarium zur Ahndung vom taktischen Missbrauch dieser Technik hinlänglich robust. Um Verfahren zu beschleunigen und Zeugen sowie Sachverständige zu schonen, wäre es folglich förderlich, häufiger auf § 128a ZPO zurückzugreifen und sich so wieder ein Stück mehr auf das Leitbild „einer kundenorientierten Justiz“ zu besinnen.

 

 

Prof. Dr. Notker Polley
Rechtsanwalt
Partner
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Erik von Kügelgen
Rechtsanwalt
Associate
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