28.04.2021
Was im deutschen Zivilrecht als ausgeschlossen erscheint, nämlich eine zivilrechtliche Haftung der Kinder für ihre Eltern, könnte für Konzerne bei Anwendung des europäischen Kartellrechts demnächst Wirklichkeit werden. In einem aktuellen Vorabentscheidungsverfahren zur zivilrechtlichen Kartellschadensersatzhaftung schlägt Generalanwalt Giovanni Pitruzzella dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in seinen Schlussanträgen vom 15. April 2021 vor, die Theorie der wirtschaftlichen Einheit nicht nur für eine Haftungsbegründung im Konzern „nach oben“ anzuwenden, sondern sie auch für eine Haftungsbegründung „nach unten“ fruchtbar zu machen. Dafür müssten Tochter- und Muttergesellschaft auf dem Markt wie ein einziges Unternehmen aufgetreten sein und die Tochtergesellschaft müsse dazu beigetragen haben, das Ziel dieses Verhaltens zu verwirklichen und dessen Wirkungen zu erreichen (EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts in der Rs. C-882/19, Sumal, S.L./Mercedes Benz Trucks España, S.L.).
Die Europäische Kommission verhängte im Jahr 2016 gegen die Daimler AG („Daimler“) eine Geldbuße von über EUR 1 Mrd. wegen eines Kartells mit anderen LKW-Herstellern. Während der Dauer des Kartells erwarb ein Container-Hersteller aus Barcelona, die Sumal S. L. („Sumal“), zwei LKW von einer spanischen Daimler-Tochtergesellschaft, der Mercedes Benz Trucks España S. L. („MB Trucks España“). Die spanische Daimler-Tochter war nicht Adressatin der Bußgeldentscheidung, auch wird sie darin nicht erwähnt.
Sumal verklagte die MB Trucks España vor einem spanischen Zivilgericht auf Schadensersatz mit der Begründung, der Preis für die beiden erworbenen LKW sei – verursacht durch das Kartell – überhöht gewesen. Das Gericht wies die Klage ab – die MB Trucks España könne nicht Verpflichtete eines Anspruchs der Klägerin sein, anders ausgedrückt: der Beklagten fehle die Passivlegitimation. Der Verstoß der Muttergesellschaft sei der Tochtergesellschaft nicht zuzurechnen. Das Berufungsgericht legte dem EuGH diese Frage vor (Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Provincial de Barcelona (Spanien), Sumal, S.L./Mercedes Benz Trucks España, S.L. (Rs. C-882/19)).
In seinen Schlussanträgen vom 15. April 2021 plädiert Generalanwalt Giovanni Pitruzzella dafür, dass die Tochtergesellschaft unter gewissen Voraussetzungen zivilrechtlich für Verstöße der Muttergesellschaft haften müsse. Es gebe eine „absteigende“ (top down) Haftung der Tochtergesellschaft für das wettbewerbswidrige Verhalten der Muttergesellschaft.
Der Generalanwalt folgert dies aus dem Konzept der wirtschaftlichen Einheit, welches in gefestigter Rechtsprechung des EuGH für kontrollierende Muttergesellschaften anerkannt ist und bei bestimmender Einflussnahme zu einer „aufsteigenden“ (bottom up) Haftung führe.
Der Generalanwalt führt aus, dass sich die Rechtsprechung für diese „aufsteigenden“ Haftung auf zwei verschiedene Faktoren gestützt habe: erstens den bestimmenden Einfluss, den die Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft, die lediglich die Weisungen von oben befolge, ausübe, und zweitens das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft, die sich jenseits des formalen „Schleiers“ der unterschiedlichen Rechtspersönlichkeit auf dem Markt einheitlich verhielten.
Denke man dieses Konzept weiter, führe das auch in der umgekehrten Situation zu einer Haftung (nämlich der Tochtergesellschaft): Zwar übe die Tochtergesellschaft definitionsgemäß keinen bestimmenden Einfluss auf die Muttergesellschaft aus. Der bestimmende Einfluss sei indes notwendige Voraussetzung für das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit. Liege eine wirtschaftliche Einheit vor, könne auf dieser Grundlage auch die „absteigende“ Haftung der Tochtergesellschaft begründet werden. Erforderlich sei hierfür, dass die Tätigkeit der Tochtergesellschaft für die Verwirklichung des wettbewerbswidrigen Verhaltens „gewissermaßen […] erforderlich“ sei (z.B. weil die Tochtergesellschaft die kartellbefangenen Güter verkaufe). Die Tochtergesellschaft müsse daher in demselben Bereich tätig sein, in dem sich die Muttergesellschaft wettbewerbswidrig verhalten habe, und durch ihr Marktverhalten die Konkretisierung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung ermöglicht haben.
Der Generalanwalt hebt hervor, dass Mutter- und Tochtergesellschaft sowie alle weiteren Gesellschaften derselben wirtschaftlichen Einheit nach diesen Grundsätzen gesamtschuldnerisch zur Haftung herangezogen werden können. Dies gelte seiner Auffassung nach nicht nur für das ordnungsbehördliche Bußgeldverfahren, sondern auch für die zivilrechtliche Schadensersatzhaftung. Dass der geschädigten privaten Partei die Möglichkeit eingeräumt werde, die im eigenen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft zu verklagen, vermeide außerdem praktische Schwierigkeiten bei Auslandszustellungen und der etwaigen Vollstreckung eines Urteils. Dem Geschädigten die Wahl der Gesellschaft zu überlassen, gegen die er vorgehe, erhöhe zudem seine Chancen auf volle Erfüllung seiner Schadensersatzansprüche.
Es ist nicht unüblich, dass Kläger die (solventen) Muttergesellschaften der Kartellanten in Anspruch nehmen. Der umgekehrte Fall, sprich die Inanspruchnahme von Tochtergesellschaften eines Kartellanten – wie im dem EuGH vorgelegten Fall –, scheint deswegen zunächst ungewöhnlich. Fremd ist dieses Vorgehen aber auch in deutschen Schadensersatzprozessen nicht. Die Landgerichte in Mannheim, Stuttgart und München hatten Fälle zu entscheiden, in denen Kläger nicht (nur) gegen einen Kartellanten, sondern (auch) gegen verbundene Unternehmen des Kartellanten gerichtlich vorgingen. Alle drei Gerichte lehnten mit Verweis auf das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip eine zivilrechtliche Haftungserstreckung auf Konzerngesellschaften jedoch ab (LG Mannheim, Az. 14 O 117/18 Kart, NZKart 2019, 389; LG München I, Az. 37 O 6039/17, NZKart 2019, 392; LG Stuttgart, Az. 30 O 27/17, NZKart 2020, 88). Wenn der EuGH dem Generalanwalt folgen würde, könnten sich Töchter von Kartellanten zukünftig bei grenzüberschreitenden Sachverhalten vermutlich nicht mehr allein mit dem Argument des (nationalen) gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips verteidigen, da dann das unionsrechtliche Konzept der wirtschaftlichen Einheit auch in der top down Haftungskonstellation ausschlaggebend wäre.
Es ist allerdings offen, ob der EuGH in diesem weitreichenden Sinne entscheiden wird. Schon in der Rs. Skanska (EuGH, Urt. v. 14. März 2019, Az. C-724/17) begrenzte der EuGH seine Feststellungen ausdrücklich auf eine „Situation wie der des Ausgangsverfahrens“, nämlich auf einen Fall der Rechtsnachfolge (die an sich haftende Gesellschaft war liquidiert worden und der neue Träger desselben Unternehmens hätte nach nationalem Recht nicht in Anspruch genommen werden). Hält der EuGH an dieser Vorgehensweise fest, so ist auch im vorliegenden Fall kein obiter dictum zu erwarten, welches die Haftung ganzer wirtschaftlicher Einheiten für kartellbedingte Schäden proklamiert.
Fraglich ist zudem, welche Kriterien für eine solche Haftungserstreckung maßgeblich sein sollen. Eine Tochter- oder Schwestergesellschaft kann naturgemäß keinen bestimmenden Einfluss ausüben. Es müssten daher andere Kriterien identifiziert werden, die eine Haftungserstreckung rechtfertigen. Die Ausführungen des Generalanwalts Pitruzzella, wonach die Tochtergesellschaft „durch ihr Marktverhalten die Konkretisierung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung ermöglicht haben“ muss, bleiben insofern vage. Ein Ansatzpunkt könnte sein, wenn die Tochtergesellschaft konkret in Vertragserfüllungshandlungen eingebunden war oder sonst eine aktive und organisatorische Rolle bei der Umsetzung der kartellrechtswidrigen Verhaltensweisen gespielt hat. Eine radikale – von der Rechtswissenschaft aber schon geforderte – Alternative wäre, sämtliche Gesellschaften, die einen Konzernverbund (genauer: eine wirtschaftliche Einheit“ im Sinne des Kartellrechts) bilden, haftbar zu machen: dann haftet nicht nur die Tochter für die Mutter, sondern alle Mitglieder der Großfamilie füreinander.
Kartellanten werden mit gewisser Besorgnis beobachten müssen, ob Geschädigte im Fall der Anerkennung einer top down-Haftung durch den EuGH zu ihrem Vorteil gezielt bestimmte Gerichtsstände aufsuchen werden (sog. forum shopping) und welches Recht dann zur Anwendung kommt, gibt es doch – trotz einer gewissen Vereinheitlichung durch die Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU– Unterschiede in den nationalen Schadenersatznormen und der Gerichtspraxis der einzelnen EU-Mitgliedstaaten (bspw. klar definierte Vermutungsregelungen zur Höhe des Kartellschadens, etwa in Ungarn, Lettland oder Rumänien).
Dr. Sebastian Felix Janka, LL.M. (Stellenbosch)
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Dr. Helmut Janssen, LL.M. (King's College London)
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