28.08.2024

Kohlenstoffspeicherung: Die Auswirkungen des Net-Zero-Industry-Acts für Erdgas- und Erdölunternehmen und damit einhergehende kartellrechtliche Fragen

A. Einleitung

Erdöl- und Erdgasunternehmen sollen zukünftig Kohlenstoff einspeichern. Und wenn nicht selbst, dann wenigstens dafür zahlen. Diese neue, in die unternehmerische Freiheit der betroffenen Betriebe intensiv eingreifende Pflicht ergibt sich aus der neuen Netto-Null-Industrien-Verordnung (englisch: net-zero-industry-act; kurz: „NZIA“, seit dem 29. Juni 2024 in Kraft). Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, eine jährliche Injektionskapazität von 50 Millionen Tonnen CO2 bis 2030 zu schaffen bzw. eher schaffen zu lassen.

Damit diese Ziele erreicht werden können, werden nun Erdgas- und Erdölunternehmen in die Pflicht genommen, sich in einem völlig neuen Geschäftsfeld weiterzuentwickeln. Dabei erklärt der NZIA es für möglich, mit anderen Unternehmen der Branche zusammenzuarbeiten. Dies wiederum wirft verschiedene kartellrechtliche Fragen auf.

B. Wer ist überhaupt verpflichtet?

Spannend ist zunächst die Frage, wer überhaupt die Unternehmen sind, die sich diesen neuen Pflichten ausgesetzt sehen. Vereinfacht gesagt sind es solche, die eine bergrechtliche Bewilligung oder Bergrechtseigentum aufweisen, um Erdgas oder Erdöl zu fördern. Auf Betriebsplanzulassungen hingegen kommt es nicht an. Dass die Inanspruchnahme solcher Unternehmen für die Schaffung von CO2-Injektionskapazitäten europarechtlich zulässig ist, dürfte aus verschiedenen Gründen stark anzuzweifeln sein. So unterstellen die europäischen Organe, dass diese Unternehmen über besondere Expertise und Ressourcen verfügen, derer es für die CO2-Speicherung bedarf. Zudem dürfte mindestens kritisch sein, dass die Machbarkeit und Profitabilität solcher Projekte noch überhaupt nicht geklärt sind. Ein entsprechendes Transportnetz für CO2 steht jedenfalls noch nicht zur Verfügung und soll nach derzeitigem politischen Willen auch nicht von staatlicher Seite geschaffen werden.

C. Pflicht zu eigenen „Beiträgen“

Die verpflichteten Unternehmen, in der Verordnung „Einrichtungen“ genannt, unterliegen einem individuellen Beitrag zur Erreichung des unionsweiten Ziels zur Schaffung von CO2-Injektionskapazitäten. Diese individuellen Beiträge werden anteilig auf der Grundlage des Anteils jeder Einrichtung an der Rohöl- und Erdgasförderung der Union vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2023 berechnet. Sie bestehen aus CO2-Injektionskapazitäten in einer im Sinne der Europäischen CCS-Richtlinie zugelassenen Speicherstätte. Die Beiträge, die zu erbringen sind, sowie eine Schwelle, ab der diese Pflicht überhaupt gilt, werden durch die Europäische Kommission noch festgesetzt.

D. Der Weg zum Speicherziel

Wie läuft das Ganze ab? Die Mitgliedsstaaten übermitteln der Europäischen Kommission („Kommission“) die Namen der verpflichteten Einrichtungen und ihre relevanten Rohöl- und Erdgasförderungsmengen. Auf dieser Basis gibt die Kommission den jeweils bis 2030 zu erbringenden Beitrag an bzw. legt die Schwelle fest, ab der eine Verpflichtung überhaupt besteht. Bis Juni 2025 müssen die verpflichteten Einrichtungen der Kommission einen Plan vorlegen, aus dem genau hervorgeht, wie sie ihren Beitrag leisten wollen. Danach ist jährlich gegenüber der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erbringung des Beitrags zu leisten. Bis spätestens Juni 2026 müssen die Mitgliedsstaaten Sanktionen für den Fall festlegen, dass die Beiträge nicht erfüllt werden.

E. Allein oder Gemeinsam?

Um ihre Beiträge zu leisten, können die Einrichtungen folgende Maßnahmen ergreifen:

  • Sie können allein oder in Zusammenarbeit in Projekte zur CO2-Speicherung investieren oder derartige Projekte entwickeln,
  • Vereinbarungen mit anderen verpflichteten Einrichtungen schließen oder
  • Vereinbarungen mit dritten Projektentwicklern oder Investoren für Speicheranlagen schließen, um ihren Beitrag zu erbringen.

Die Möglichkeit des Investments in Projekte anderer hilft allerdings dann nicht weiter, wenn der Mitgliedsstaat, in dem sich das Projekt befindet, von einer Ausnahmeregelung Gebrauch macht. Denn der NZIA sieht vor, dass Mitgliedstaaten für die Einrichtungen, die in seinem Hoheitsgebiet tätig sind, eine Befreiung beantragen können. Eine solche setzt vereinfacht gesagt voraus, dass die in diesem Mitgliedsstaat bereits genehmigten Injektionskapazitäten die durch den NZIA geforderten Kapazitäten übersteigen. Investiert man also jetzt in bereits angelaufene Kohlenstoffspeicherprojekte in der Union, droht, dass dieses Investment bei der Erfüllung der Pflichten nach NZIA letztlich doch nicht hilft. Neben diesem Risiko sind etwaige kartellrechtliche Grenzen zu beachten.

F. Kartellrechtliche Einordnung

Wie dargestellt, werden Öl- und Gasproduzenten in die Pflicht genommen, einen Beitrag zu leisten – allein oder gemeinsam. Der NZIA sieht somit die Möglichkeit vor, Kooperationen – auch und gerade mit Wettbewerbern – einzugehen. Bedarf es dann überhaupt noch einer kartellrechtlichen Prüfung? Die Antwort ist eindeutig: Ja! Derartige Kooperationen sind am Kartellverbot zu messen (Art. 101 AEUV; § 1 GWB). Ein kartellrechtlicher „Freifahrtschein“ folgt aus dem NZIA nicht. Gleichwohl ist dessen klare Weichenstellung bei der kartellrechtlichen Prüfung besonders zu gewichten, wie nachfolgend aufgezeigt:

I. Kartellrechtliche Zulässigkeit („ob“)?

1. Umsetzung NZIA

Dass Unternehmen die Vorgaben des NZIA erfüllen und hierzu – wie im NZIA ausdrücklich vorgesehen – kooperieren, kann ihnen nicht als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung vorgeworfen werden. Dogmatisch könnte bereits eine Tatbestandsrestriktion diskutiert werden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass eine solche letztendlich nicht greifen wird. Ungeachtet dessen greifen die gleichen Erwägungen – bei Annahme einer jedenfalls bewirkten Wettbewerbsbeschränkung – auf Freistellungsebene (und werden von den Behörden vermutlich dort geprüft werden). Auf Freistellungsebene fällt der Status als strategisches Projekt bei der Prüfung der Effizienzvorteile besonders ins Gewicht. Denn der NZIA verlangt, dass die Mitgliedsstaaten strategischen Projekten den Status der höchstmöglichen nationalen Bedeutung gewähren. Der NZIA geht davon aus, dass diese Projekte zur Versorgungssicherheit in Bezug auf strategische Netto-Null-Technologien in der EU beitragen und im öffentlichen Interesse liegen. Solange solche Projekte somit zum Zwecke der Umsetzung des NZIA erfolgen, werden sie in der Regel kartellrechtlich wahrscheinlich unbedenklich sein – solange sich die Projekte nicht als überschießend gestalten. Eine andere Bewertung liefe Sinn und Zweck des NZIA zuwider und widerspräche erklärten Unionszielen. Insgesamt muss aber die Kooperation in jedem Einzelfall und in allen Aspekten nach den Grundsätzen zu Kooperationen zwischen Wettbewerbern gewürdigt werden.

2. Horizontal-Leitlinien der Kommission zu Nachhaltigkeitskooperationen

Dies steht im Einklang mit den Aussagen der Kommission zu Nachhaltigkeitskooperationen. Die am 1. Juni 2023 von der Kommission angenommenen Horizontal-Leitlinien (vgl. Luther Blogpost 07/2023) zu Kooperationen unter Wettbewerbern enthalten hierzu ein eigenes Kapitel. Darin stellt die Kommission klar, dass Nachhaltigkeitskooperationen nicht per se vom Kartellverbot ausgenommen sind (anders z.B. die Bereichsausnahme im Agrarrecht, vgl. Art. 210a GMO). Beeinträchtigen Nachhaltigkeitskooperationen einen Wettbewerbsparameter wie Preis, Menge, Qualität, Auswahl oder Innovation, müssen sie (möglicherweise) nach Art. 101 Abs. 1 AEUV gewürdigt werden.

Nach Ansicht der Kommission ist die Beteiligung staatlicher oder lokaler Behörden am Abschluss von Nachhaltigkeitsvereinbarungen oder die Kenntnis dieser Behörden von solchen Vereinbarungen „an sich“ kein Grund, solche Vereinbarungen als mit den Wettbewerbsvorschriften vereinbar anzusehen. Die Parteien einer wettbewerbsbeschränkenden Nachhaltigkeitsvereinbarung sollen nach Ansicht der Kommission aber nicht für Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht haftbar gemacht werden, wenn sie von den Behörden zum Abschluss der Vereinbarung gezwungen oder verpflichtet wurden oder wenn die Behörden die Auswirkungen der Vereinbarung verstärken. Ob eine Art Anreiz zur Kooperation ausreicht – wie hier – wird nicht beantwortet.

Die Kommission erkennt aber an, dass Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu Effizienzgewinnen führen können, wie z.B. sauberen Produktions- oder Vertriebstechnologien. Als Beispiel für Nachhaltigkeitsvereinbarungen, die kartellrechtlich wahrscheinlich unbedenklich sind, nennt sie gerade Vereinbarungen, die die Einhaltung von Vorgaben aus internationalen Verträgen, Vereinbarungen oder Übereinkommen sichern sollen und auch die beteiligten Unternehmen, ihre Lieferanten und/oder Händler verpflichten. Ergänzend verweist die Kommission auf die Rspr. des EuGH, wonach die Verfolgung von Zielen des Unionsrechts als Rechtfertigungsgrund anerkannt werden – solange die Parteien  das hierfür erforderliche Maß nicht überschreiten (Horizontal-Leitlinien, FN 315). Neben dem Vorliegen eines legitimen Zwecks muss das konkrete Mittel also auch geeignet, erforderlich und angemessen sein. Kurzum: Jeder einzelne Kooperationsbeitrag zum Zwecke der Zielerreichung muss abseits des legitimen Zwecks erforderlich sein. Keinesfalls darf es zu einer Ausschaltung (ganz oder teilweise) des Wettbewerbs kommen.

3. Bundeskartellamt zu Nachhaltigkeitsinitiativen

Das Bundeskartellamt hat ebenfalls anerkannt, dass „Nachhaltigkeit“ zunehmend zum Wettbewerbsparameter wird (vgl. z.B. Anfragen i.S. Initiative Tierwohl, Fairtrade, Grüner Knopf, Forum nachhaltiger Kakao, Initiative für existenzsichernde Löhne bei Bananen; vgl. Jahresbericht 2023/2024 oder Pressemitteilungen vom 25. Mai 2023 und 18. Januar 2022). Zuletzt hat das Amt „grünes Licht“ für eine Nachhaltigkeitsinitiative zur Einführung eines Mehrwegsystems im Pflanzenhandel zwecks Reduzierung des Plastikmülls gegeben (vgl. Pressemitteilung vom 8. Mai 2024). Allgemeingültig sind derartige Einzelfallentscheidungen jedoch nicht. Die bisherigen Entscheidungen lassen vielmehr gerade nicht erkennen, dass die Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen einen besonders großzügigen Prüfungsmaßstab rechtfertigen würde.

II. Kartellrechtliche Zulässigkeit der Art und Weise der Projektdurchführung („wie“)?

In der Praxis wird die Herausforderung für Unternehmen wahrscheinlich aber vielmehr darin liegen, durch geeignete Compliance-Maßnahmen sicherzustellen, dass bei der Projektdurchführung (einschl. der Planung) das zur Umsetzung der Vorgaben des NZIA erforderliche Maß nicht überschritten wird. Das gilt nicht nur in Bezug auf die einzelnen Kooperationsbeiträge. Vielmehr darf es insbesondere auch nicht zu einer weitergehenden Koordinierung bzw. einem „überschießenden“, kartellrechtswidrigen Informationsaustausch „bei Gelegenheit“ der „an sich“ zulässigen Kooperation kommen. Typisches Mittel einer verbotenen Abstimmung ist der Austausch von Informationen über wettbewerbsrelevante Parameter mit dem Ziel, die Ungewissheit über das zukünftige Marktverhalten des Mitbewerbers auszuräumen (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2020 – KRB 99/19 – Bierkartell).

Nach dem EuGH ist ein Informationsaustausch unzulässig, wenn die ausgetauschten Informationen derart sensibel sind, dass sie geeignet sein können, den Grad der Ungewissheit über das fragliche Marktgeschehen zu verringern bzw. Aufschluss über Marktstrategien der Wettbewerber geben und dadurch zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führen (vgl. EuGH, Urt.v. 4. Juni  2009, C 8/08 – T-Mobile Netherlands, Rn. 35). Wettbewerblich sensible Daten sind typischer Weise Preise, Mengen, Kundenlisten, Produktionskosten, Kapazitäten, Umsätze, Verkaufszahlen, Marketingpläne, Investitionen, Technologien oder FuE-Programme.

Das bedeutet, dass nur die für eine Kooperation zum Zwecke des NZIA erforderlichen Informationen geteilt werden dürfen („need-to-know“), ggf. unter Anwendung sog. Clean Team Principles. Erfolgt die Umsetzung der Vorgaben des NZIA z.B. über ein gemeinsames Joint Venture, dürfen die Mütter das Joint Venture betreffende Daten grundsätzlich einsehen, keinesfalls aber über das Joint Venture wettbewerblich sensible Daten miteinander austauschen. Wie ein geeignetes Compliance-Konzept auszugestalten ist, ist im Einzelfall genau zu prüfen. Der NZIA liefert hierfür wenig Anhaltspunkte und hält lediglich fest, dass zulässiger Weise erhaltene Daten nur zum Zwecke des NZIA verwendet werden dürfen. Die Kosten, die auf die betroffenen Unternehmen zukommen, um geeignete Compliance-Konzepte zu implementieren, werden jedenfalls nicht unerheblich sein und Unternehmen möglicherweise zusätzlich belasten.

G. Fazit

Der NZIA soll durch geeignete Rahmenbedingungen die CO2-Speicherung vorantreiben; das ist erklärtes Unionsziel. Dementsprechend ist auch die kartellrechtliche Bewertung in diesem Lichte vorzunehmen. Wenngleich hierfür eingegangene Kooperationen nicht per se vom Kartellverbot ausgenommen sind, dürften diese in der Regel kartellrechtlich wahrscheinlich unbedenklich sein. Dies gilt jedenfalls, wenn und soweit die Parteien das hierfür erforderliche Maß nicht überschreiten. Unternehmen sollten neben genehmigungs- und planfeststellungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Kooperationsplanung daher auch frühzeitig die kartellrechtliche Zulässigkeit und flankierende Compliance-Maßnahmen prüfen lassen.

Die Dimensionen des NZIA sind jedenfalls enorm, wird der weltweite CCS-Anstieg doch auf wahrscheinlich 80 Mio. Tonnen und 2040 mind. 300 Mio. Tonnen geschätzt (vgl. Infographic zum NZIA).

Siehe auch:
Mit Tempo zur CO2-Neutralität: Wie der Net-Zero Industry Act Genehmigungsverfahren beschleunigen soll | LUTHER Rechtsanwaltsgesellschaft mbH (luther-lawfirm.com)

Autor/in
Dr. Stefan Altenschmidt, LL.M. (Nottingham)

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Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)

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Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition)

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