10.06.2020

Krisenbewältigung in der Automobilindustrie: Bundeskartellamt wird gewisse Kooperationen beim Anlauf der Produktion und in der Restrukturierung zeitweilig dulden

Das Bundeskartellamt hat am 9. Juni 2020 eines seiner seltenen Vorsitzendenschreiben an den VDA gerichtet, in dem es die von der Automobilindustrie hervorgehobene Notwendigkeit für ein erhöhtes Maß an kurzfristiger und schneller Kooperation in der Branche adressiert: Das Bundeskartellamt hat angekündigt, unter gewissen Voraussetzung für einen begrenzten Zeitraum bestimmte Corona-bedingte Kooperationsformen in der Automobilindustrie auch zwischen Wettbewerbern nicht aufzugreifen, d.h. keine entsprechenden Untersuchungen oder Verfahren gegen die kooperierenden Unternehmen einzuleiten. Diese faktische Duldung betrifft ein gewisses (höheres) Maß an Abstimmung und Austausch von Informationen zum einen beim Wiederanfahren der Produktion und zum anderen bei der etwaigen Restrukturierung von Unternehmen. Das Schreiben stellt allerdings nur eine informelle Leitlinie dar. Es schützt Unternehmen, die sich „in good faith“ innerhalb dieses Rahmens bewegen, während des im Schreiben genannten Zeitraums vor der Einleitung eines Bußgeldverfahrens. Daraus ergibt sich aber kein Freifahrtschein für jegliche Art der Kooperation und jegliche Art des Informationsaustausches. Unternehmen dürfen die allgemein beschriebenen Maßnahmen daher nur mit Bedacht und unter Berücksichtigung der vom Bundeskartellamt hierfür gesetzten Rahmenbedingungen für den Einzelfall (z.B. der Einsetzung von Clean Teams für den Informationsaustausch) umsetzen.

Hintergrund

Während der Corona-Krise haben sämtliche OEM (Original Equipment Manufacturer) in Deutschland ihre Produktion in großen Teilen heruntergefahren – was einen entsprechenden Stillstand bei hunderten von Automobilzulieferern bedingt hat. Die nun anstehende, z.T. schon angelaufene Wiederaufnahme der Produktion stellt die Automobilbranche, deren reibungslose Produktion auf „just-in-time“ delivery tausender unterschiedlicher international produzierter Teile ausgerichtet ist, vor besondere Schwierigkeiten. Es bedarf eines ausgeklügelten Logistikkonzepts und einer gleichzeitigen Verfügbarkeit aller für die Produktion notwendigen Teile. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass der Verlust von Einnahmen während des Lock-Downs bei einer Vielzahl von Unternehmen kurz- oder mittelfristig zu Liquiditätsengpässen führen wird (oder schon geführt hat), die weder durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen noch durch Zugeständnisse nur eines einzigen Kunden aufgefangen werden. Werden in solchen Krisensituationen nicht kurzfristig Lösungen unter Einbindung aller Stakeholder gefunden (sämtlicher Banken, aller – miteinander konkurrierender – Kunden (die OEM oder nachgelagerte Zulieferer) und Eigentümer), kann es zum vollständigen Ausfall dieses Lieferanten und damit zu entsprechenden Lieferengpässen führen. Dies kann wiederum ganze Produktionen zeitweilig stilllegen und zu weiteren Milliardenverlusten führen. Bei einem Marktaustritt des betreffenden Lieferanten kann dies zu einer Kettenreaktion führen und dürfte in eine verschlechterte Wettbewerbsstruktur nicht nur während, sondern auch nach der Corona-Krise münden.

Vor diesem Hintergrund besteht in der Branche ein verstärktes Bedürfnis zur Kommunikation und Kooperation, nicht nur im Verhältnis zwischen Zulieferern und den Herstellern, sondern auch unter Einbeziehung der jeweiligen Wettbewerber in beide Prozesse. Der VDA hat diese Situation eingehend mit dem Bundeskartellamt besprochen, welches ein Bedürfnis nach verstärkter, unbürokratischer Zusammenarbeit sowohl beim Anlauf der Produktion (z.B. Regelungen im Hinblick auf Kapazitätsengpässe und Schließzeiten) als auch im Rahmen von Corona-bedingten Restrukturierungsmaßnahmen derzeit anerkannt hat. Die Aussage zu den Corona-Restrukturierungsmaßnahmen sind allerdings beschränkt auf Verfahren, in denen das erste Stakeholder-Meeting bis zum 31.12.2020 einberufen wurde, wobei die Restrukturierungen im Laufe des Jahres 2021 abgeschlossen sein sollten. Erfasst sind nur Unternehmen, deren Hauptsitz in Deutschland ist oder ausländische Unternehmen, deren Tochterunternehmen oder Betriebsstätten sich in Deutschland befinden.

Das Bundeskartellamt hat mit seinem Vorsitzendenschreiben erklärt, Kooperationen, die sich im Rahmen des vom VDA vorgestellten Konzepts und der Auflagen des Vorsitzendenschreibens halten, im Rahmen seines Aufgreifermessens nicht untersuchen zu wollen. De facto bedeutet das Schreiben, dass Unternehmen, welche in diesem Kontext kooperieren, zwar nicht rechtlich gänzlich vor der Einleitung eines Verfahrens durch das Bundeskartellamt geschützt sind, in dem überprüft werden könnte, ob sich eine Kooperation (und das nicht nur auf dem Papier) in diesem Rahmen hält. Solange Unternehmen sich jedoch gutgläubig in dem gesteckten Rahmen bewegen, brauchen sie die Verhängung eines Bußgeldes nicht zu befürchten. Damit ist das Bundeskartellamt mit einem Schritt zur unbürokratischen Unterstützung der mit einer nie dagewesenen Situation konfrontierten Branche vorangegangen. Insbesondere standen OEM aufgrund der unklaren kartellrechtlichen Rechtslage in deutschen Sanierungsverfahren z.T. derartigen Kooperationen bisher ablehnend gegenüber.

Das Schreiben bindet jedoch nur das Bundeskartellamt selbst, nicht aber andere Kartellbehörden (oder die deutschen oder ausländischen Gerichte). Allerdings sind die Inhalte mit der EU Kommission besprochen worden; man darf wohl annehmen, dass das Bundeskartellamt das Schreiben nicht (so) veröffentlicht hätte, wenn die EU Kommission hieran massive Bedenken geäußert hätte. Das Konzept dürfte allerdings in einigen anderen Jurisdiktionen (unabhängig von der Branche) andererseits kein Novum sein (z.B. Chapter 11 Verfahren in den USA). Es erscheint dennoch angesichts der internationalen Dimension des Themas wahrscheinlich, dass weitere Europäische Kartellbehörden mit ähnlichen Statements (oder ihrer ggf. abweichenden Position) nachziehen werden. In jedem Fall hat das Bundeskartellamt mit dem Schreiben dafür einen „Benchmark“ gesetzt.

Wenngleich das Amt mit der Einleitung von Verfahren zurückhaltend sein dürfte, muss gerade vor dem Hintergrund, dass das Amt für die Automobilbranche in der EU mit einer klaren Position vorangegangen ist, damit gerechnet werden, dass das Bundeskartellamt die Praxis genau beobachten und dort einschreiten wird, wo der Eindruck entsteht, dass diese Rahmenbedingungen (ersichtlich) nicht eingehalten werden. So weist das Bundeskartellamt ausdrücklich darauf hin, dass sämtliche Unternehmen, die sich an dieser Art von Maßnahme beteiligen, verpflichtet bleiben, auf die Einhaltung der kartellrechtlichen Vorschriften zu achten. Dies fügt sich nahtlos in die bisher veröffentlichten – ernstzunehmenden – Statements der Kartellbehörden ein, dass niemand die Krise dazu ausnützen dürfe, um sich unter deren Deckmantel zu kartellieren (siehe hier). Unternehmen werden daher in Zweifelsfällen darlegen müssen, dass sie (i) das Maß der erforderlichen Kooperation nicht überschritten haben und (ii) die Auflagen, die das Bundeskartellamt in seinem Schreiben aufführt, laufend eingehalten wurden und werden.

Zu diesen Auflagen gehören bei Kooperationen zum Wiederanlaufen insbesondere, dass Unternehmen frei darin bleiben müssen, wann und in welcher Weise sie die Produktion wieder aufnehmen werden. Für das sogenannte „Corona-Restrukturierungsverfahren“ ist u.a. (nicht abschließend) Folgendes zu beachten:

  • Der erforderliche Informationsaustausch und die Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Stakeholder-Gruppen muss sich auf das erforderliche Maß und die dafür erforderlichen Informationen beschränken.
  • Es sind (insbesondere mit Blick auf die Abstimmung unter den Kunden) Clean Teams zu bilden und Chinese Walls zu errichten; d.h. an der konkreten Abstimmung dürfen nur solche Mitarbeiter oder Vertreter (z.B. WPs, Mitarbeiter aus Controlling-Abteilungen, Rechtsanwälte oder sonstige berufliche Restrukturierungsexperten) teilnehmen, die während des Verfahrens und für ein Jahr danach keine Einkaufsverhandlungen mit den jeweils betroffenen Lieferanten durchführen.
  • Es dürfen den Unternehmen die kartellrechtlich sensitiven Informationen nur aggregiert offengelegt werden (durch das zu restrukturierende Unternehmen oder eine Clearing Stelle).
  • Es darf in keinem Fall ein Austausch oder eine Einigung über den Stückpreis pro Teil erfolgen. Die Details einer jeglichen Einigung sind jeweils bilateral zwischen den zu sanierenden Unternehmen und dem jeweiligen Kunden auszuhandeln.
  • Es muss jedem Stakeholder freistehen, an der Restrukturierungsverhandlung nicht teilzunehmen oder deren Ergebnis abzulehnen. Für nicht beteiligte Stakeholder dürfen keine Nachteile vereinbart werden.

Der VDA wird zu diesen Szenarien weitere Schritte mit dem Bundeskartellamt abstimmen, insbesondere einen Best Practice Leitfaden für die Kooperation zum Wiederanlaufen der Produktion veröffentlichen. Sowohl das Vorsitzendenschreiben, als auch der dem Bundeskartellamt dargelegte Sachverhalt sind auf der Webseite des VDA hier abrufbar.

Im Rahmen von M&A-Transaktionen werden mögliche Investoren beachten müssen, dass der Erwerb eines vor der Insolvenz stehenden Zulieferers sich komplexer gestalten dürfte und man dem besonderen rechtlichen Rahmen wird Rechnung tragen müssen, insbesondere mit Blick auf Einbeziehung der Stakeholder. 

Nicht nur die Automobilbranche wird eng beobachten, ob die Initiative den erhofften wirtschaftlichen Handlungsspielraum bringen wird und sich als Mittel zur Krisenbewältigung eignet. Es liegt insoweit  nahe, dass andere Branchen mit ähnlichen Anliegen an die Kartellbehörden herantreten werden. Es muss sich zeigen, ob die Behörden diesen ähnlich offen gegenüberstehen werden. Wie erwähnt betont das Bundeskartellamt, dass die Maßnahmen sich an kartellrechtliche Vorgaben halten müssen und dass seine Einschätzung zeitlich (vorerst) begrenzt ist. Diese Vorgehensweise soll daher offenbar nicht zu einer allgemein akzeptierten „neuen Normalität“ unabhängig von der Corona-Krise und der Branche werden. Es ist also davon auszugehen, dass die Behörde und auch die Europäische Kommission die Verhaltensweisen der Industrie genau im Blick behalten werden und ggf. im Einzelfall doch noch Bedenken aus Brüssel (oder Bonn) angemeldet werden könnten. Das gilt insbesondere, wenn sich Mitgliedstaaten-übergreifende Auswirkungen abzeichnen – oder Effekte, die aus Sicht der Behörden den Rahmen einer zulässigen Kooperation sprengen. Es ist Unternehmen der Branche daher dringend angeraten, trotz des erweiterten regulatorischen Rahmens  ihr Verhalten und dessen konkrete Auswirkungen laufend auf seine Kartellrechtskonformität zu prüfen.

Autor/in
Dr. Sebastian Felix Janka, LL.M. (Stellenbosch)

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Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)

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Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition)

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