08.04.2022
Die derzeitigen Liefer- und Versorgungsschwierigkeiten sowie die geopolitischen Umbrüche führen in vielen Bereichen zu Engpässen bei der Versorgung mit Waren aller Art. Nach einer aktuellen Umfrage des DIHK rechnen rund 60 % der Unternehmen mit zusätzlichen Störungen in der Lieferkette und Logistik als Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine – und schon vorher waren die Probleme offenkundig. Das führt für viele Unternehmen zu einer neuartigen Frage, die sich in der globalisierten Welt lange Zeit nicht (mehr) gestellt hat: Welche meiner (Bestands-)Kunden soll, darf oder muss ich in welchem Umfang beliefern, wenn meine Lieferfähigkeit begrenzt ist? Und umgekehrt: Darf mein Lieferant die mit mir konkurrierenden Abnehmer bevorzugt mit Waren versorgen?
Die Antwort auf diese Fragen muss unter Umständen das kartellrechtliche Missbrauchs- und Diskriminierungsverbot beachten. Danach dürfen u. a. gleichartige Unternehmen nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund ungleich behandelt werden, also z. B. einzelne (Bestands-)Kunden nicht ohne weiteres von der Belieferung völlig abgeschnitten werden. Zwar gelten diese Vorschriften nach europäischem Kartellrecht nur für marktbeherrschende Unternehmen – damit dürften bereits die meisten Lieferanten nicht in den Anwendungsbereich dieser Norm fallen. Vielen ist jedoch nicht bewusst: Das nationale Missbrauchsrecht darf strengere Regelungen vorsehen.
So gilt das Diskriminierungsverbot des deutschen Kartellrechts zusätzlich auch für Unternehmen mit lediglich „relativer Marktmacht“. Selbst ohne marktbeherrschende Stellung ist deshalb ein Lieferant dem Diskriminierungsverbot im Hinblick auf solche Abnehmer unterworfen, die (a) keine „ausreichenden und zumutbaren [Ausweich-]Möglichkeiten“ haben (also von dem Lieferanten abhängig sind) unddie(b) nicht mit ausreichender Gegenmacht ausgestattet sind, so dass „ein deutliches Ungleichgewicht“ zum Lieferanten besteht (§ 20 Abs. 1 Satz 1 GWB).
Eingeführt wurde die ursprüngliche Fassung dieser Vorschrift im Zusammenhang mit der „Öl-Krise“ 1973, als Mineralölkonzerne angesichts knapper Benzinvorräte begannen, bevorzugt das eigene Vertriebsnetz zu Lasten der freien Tankstellen zu beliefern. Letztlich kam das Diskriminierungsverbot in solchen Fällen sogenannter mangelbedingter Abhängigkeit aber selten zur Anwendung. Praxisrelevant waren eher Konstellationen, in denen es um die Vergabe von Möglichkeiten zur Nutzung sonstiger knapper Ressourcen ging (z. B. räumlich begrenzter Flächen für Ausstellungen oder Messen).
Die Vorschrift könnte nun eine Renaissance erleben: Eine mangelbedingte Abhängigkeit kann bei allgemeinen Versorgungsengpässen schnell eintreten, weil die Nachfrager in der Regel im Markt keine alternativen Bezugsmöglichkeiten haben. Ein Abnehmer muss dann nachweisen, dass kein anderer Lieferant seine zusätzliche Nachfrage decken kann – was angesichts der aktuellen Verknappung bestimmter Rohstoffe und Waren zunehmend leichter fallen dürfte.
Schwieriger kann im Einzelfall der Nachweis eines „deutlichen Ungleichgewichts“ werden. Fehlen dürfte es bei einer wechselseitigen, weitgehend symmetrischen Abhängigkeit zwischen Lieferant und Abnehmer. Umgekehrt ist es ein Indiz für ein „deutliches Ungleichgewicht“, wenn eine Nichtbelieferung für die beiden Vertragspartner sehr unterschiedliche Folgen hätte. Eine solche Situation dürfte indessen in vielen Branchen derzeit in Betracht kommen, insbesondere wo sogenannte „Hidden Champions“ in Lieferketten eingebunden sind.
Nicht mehr erforderlich ist, dass es sich bei den Abnehmern um „kleine oder mittlere Unternehmen“ handelt. Diese Voraussetzung wurde mit der 10. GWB-Novelle zum 19. Januar 2021 aufgegeben. Das deutsche Kartellrecht schützt jetzt auch „große“ Abnehmer vor relativ marktmächtigen „kleinen“ Lieferanten.
Rechtsfolge einer festgestellten relativen Marktmacht ist regelmäßig, dass der Lieferant gegenüber den betreffenden Abnehmern eine sogenannte Repartierungspflicht hat. Er muss also alle gleichartigen Nachfrager gleichmäßig (anteilig) beliefern. Bei der Auswahl der zu beliefernden Unternehmen und der jeweiligen Liefermengen darf er jedoch differenzieren, soweit er dabei sachgerechte und einheitliche Maßstäbe anwendet. Das kann bedeuten, dass er die Liefermengen für alle Bestandskunden um denselben Prozentsatz reduziert. Möglich erscheint aber auch – bei entsprechender Begründung – ein Lieferstopp für einzelne abhängige Abnehmer zugunsten anderer Kunden. Insoweit kommt es sehr auf die Umstände des Einzelfalls an.
Interessant dürfte dabei die Frage werden, inwieweit vertikal integrierte Lieferanten die mit ihnen verbundenen Abnehmer bevorzugt beliefern dürfen. In der Gesetzesbegründung von 1973 zur erstmaligen Erstreckung des Diskriminierungsverbots auf Fälle relativer Marktmacht wurde das ausdrücklich verneint. Allerdings hat die Rechtsprechung zum allgemeinen Diskriminierungsverbot die Bevorzugung konzerneigener Abnehmer stets für zulässig gehalten. Wichtig dürfte deshalb auch heute sein, dass ein – nachgewiesen oder nur mutmaßlich – relativ marktmächtiger Lieferant eine Reduzierung von Liefermengen in jedem Fall gut begründet und dabei im Vorhinein dem Vorwurf begegnet, bei dieser Gelegenheit gleichzeitig „unliebsame Wettbewerber“ benachteiligen zu wollen.
Dr. Guido Jansen
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