20.01.2022
Mit Urteil vom 18. Januar 2022 (Rs. C-261/20) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass das Unionsrecht nationale Gerichte nicht dazu verpflichtet, die Mindest- und Höchstsätze der (mittlerweile durch die HOAI 2021 ersetzten) HOAI 2013 unangewendet zu lassen, wenn es um Verträge zwischen Privatpersonen geht.
Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass in Rechtsstreiten über sog. „Altverträge“, an denen die öffentliche Hand nicht beteiligt ist, die Mindest- und Höchstsätze HOAI 2013 voraussichtlich noch anwendbar sind. Spannend kann sein, dass der EuGH in der Entscheidung auch über die Frage nachdenkt, ob und inwieweit sich die Bundesrepublik schadenersatzpflichtig gemacht haben könnte.
Der Generalanwalt beim EuGH hatte dies noch anders beurteilt, sodass die Entscheidung durchaus überraschend ist. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte diese Frage in einem laufenden Verfahren dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt und muss nun entscheiden, wie mit der Antwort umzugehen ist. Es ist jedoch zu erwarten, dass der BGH die HOAI-Mindest- und Höchstsätze für Altverträge zwischen Privaten weiterhin anwenden wird.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Entscheidung: Der EuGH denkt in den Entscheidungsgründen darüber nach, ob die – jedenfalls zeitweise – Aufrechterhaltung der Mindest- und Höchstsätze ein potentieller Anknüpfungspunkt für einen Anspruch auf Schadenersatz der geschädigten Partei sein kann, ohne diese Frage im Einzelfall zu entscheiden. Es lohnt sich sicher, diesen Ausführungen noch weiter nachzugehen. Es bleibt abzuwarten, ob auch dieser Aspekt von deutschen Gerichten in konkreten Fällen auch so gesehen wird und welche konkreten Schäden sich aus der Unionsrechtswidrigkeit ableiten lassen.
Mit Urteil vom 4. Juli 2019 (Rs. C-377/17) hatte der EuGH zunächst entschieden, dass die verbindlichen Honorare in der HOAI mit Mindest- und Höchstsätzen für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren im Verhältnis zwischen Privaten und öffentlichen Auftraggebern gegen die sog. Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG) verstoßen und damit unionsrechtswidrig sind.
In Reaktion auf die Entscheidung wurde die HOAI vom deutschen Normgeber angepasst. Die ehemals verbindlichen Preisbindungen stellen seit dem 1. Januar 2021 nur noch unverbindliche Empfehlungen dar. Fehlt es an einer Regelung, so finden die ehemaligen Mindestsätze Anwendung, die in der HOAI jetzt als Basissätze bezeichnet werden.
Indes war noch nicht hinreichend geklärt, wie mit Verträgen ohne Beteiligung eines öffentlichen Auftraggebers umzugehen ist, welche vor dem 1. Januar 2021 in Anwendung der Altfassungen der HOAI 2013 geschlossen wurden (sog. HOAI - Altverträge). Nach Uneinigkeit in Literatur und Rechtsprechung – zahlreiche Architekten und Ingenieure machten in sog. Aufstockungsklagen das Mindestsatzhonorar (§ 7 HOAI) geltend – hatte der BGH mit Beschluss vom 14. Mai 2020 (Az.: VII ZR 174/19) die Frage dem EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren vorgelegt.
Der EuGH kommt zu dem eingangs dargestellten Ergebnis. Zwar verstoße § 7 HOAI 2013 durch die Festsetzung von Mindesthonoraren gegen die Dienstleistungsrichtlinie, dennoch können Richtlinien nicht selbst unmittelbare Rechte und Pflichten für einen Einzelnen begründen. Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV besteht die Verbindlichkeit einer Richtlinie nur in Bezug auf jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist. Entsprechend ist dem Einzelnen eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor dem nationalen Gericht nicht möglich. Die Gerichte dürften nicht im Widerspruch zum insoweit eindeutigen Wortlaut der nationalen Regelung entscheiden.
Nichts anderes ergebe sich aus dem eingangs erwähnten Urteil des EuGH vom 4. Juli 2019, in welchem der EuGH entschieden hatte, dass die Bundesrepublik durch Beibehaltung der Regelung in § 7 HOAI seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verletzt hat. Urteile des Gerichtshofs verpflichten den nationalen Gesetzgeber zum Handeln, sollen aber dem Einzelnen keine Recht verleihen.
Gleichzeitig weist der Gerichtshof aber auch darauf hin, dass die nationalen Gerichte – vor dem Hintergrund ihrer Pflicht zur unionsrechtsfreundlichen Auslegung – die Anwendung der strittigen Regelungen in der HOAI aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen können.
Unbeschadet dessen schließt der EuGH nicht aus, dass ein Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland denkbar sein könnte. Jeder EU-Mitgliedsstaat muss sicherstellen, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, welcher ihm durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrechts entstanden ist. Gegenständlich stellt – so der EuGH – die Beibehaltung der in § 7 HOAI statuierten verbindlichen Honorare einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen Unionsrecht dar, der eine Haftung des deutschen Staates rechtfertigen kann. Näher zu prüfen könnte jetzt sein, ab welchem Zeitpunkt von einem solchen „Beibehalten“ ausgegangen werden könnte und worin genau der Schaden liegt.
Entgegen mancher Schlagzeilen bedeutet das Urteil rechtlich nicht automatisch, dass die Mindest- und Höchstsatzregelungen nach § 7 HOAI (2013) schlechthin auf alle HOAI-Altverträge anzuwenden sind. Die Entscheidung besagt lediglich, dass keine unionsrechtliche Pflicht der Gerichte zur Nichtanwendung besteht. Letztendlich wird die Entscheidung über eine Anwendung der Regelung damit den nationalen Gerichten, also in erster Linie dem BGH überantwortet. Praktisch wird die Entscheidung aber wohl zur Anwendbarkeit der HOAI 2013 auf sog. „Altverträge“, an denen nur Private beteiligt sind, führen. Es ist zu erwarten, dass der BGH die Mindestsatzregelung für diese Sachverhalte aufrecht erhalten wird. Dennoch sollte vor Erhebung einer Aufstockungsklage die Entscheidung des BGH abgewartet werden.
Stephan Finck
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