06.08.2024

Mit Tempo zur CO2-Neutralität: Wie der Net-Zero Industry Act Genehmigungsverfahren beschleunigen soll

A. Einleitung

Für Betreiber von und Investoren in Industrieanlagen heißt es in Europa nun: „Jetzt geht’s los.“ So zumindest der Wunsch der Europäischen Union, die den „Net-Zero Industry Act“, „NZIA“ oder auch „Netto-Null-Industrie-Verordnung“ auf den Weg gebracht hat. Diese Verordnung soll sie nun voranbringen, die herbeigesehnte und für den Kampf gegen den Klimawandel unerlässliche Transformation der europäischen Industrie hin zur CO2-Neutralität. Die Europäische Union hat einen ganzen Koffer voll Ideen in eine Verordnung gegossen. Doch steckt in ihr wirklich so viel Tempo wie angepriesen? Nachfolgend wird dargestellt, welche Beschleunigungspotenziale der Net-Zero Industry Act enthält und welche Vorteile sie der Industrie bei der Transformation bieten sollen:

B. Wer profitiert?

Es sollen solche Technologien von den neuen Beschleunigungsmaßnahmen profitieren, die zur Erreichung der Klimaziele der Union unverzichtbar sind. Solche sind zum Beispiel Solartechnologien, On- und Offshore Windenergie, Wärmepumpen, Wasserstofftechnologien, Biogas- und Biomethantechnologie, aber auch Kohlendioxidabscheidung und -speicherung

C. Höchstdauer von Genehmigungsverfahren

Zunächst sollen Höchstdauern für Genehmigungsverfahren zur Beschleunigung beitragen. Der europäische Begriff des Genehmigungsverfahrens beschreibt eines, das alle einschlägigen Genehmigungen für den Bau, die Ausweisung, die Umwandlung und den Betrieb von Projekten oben genannter Technologien abdeckt. Die genaue Dauer, die höchstens erreicht werden darf, hängt von der Komplexität des Projekts ab. Um Komplexität messbar zu machen, hat die EU sich Fertigungskapazitätsschwellen bedient. Wenn es sich um Projekte zur Fertigung von Netto-Null-Technologien mit einer jährlichen Fertigungskapazität von weniger als 1 GW handelt, darf die Verfahrensdauer nicht mehr als zwölf, bei einer Kapazität von mindestens 1 GW nicht mehr als 18 Monate betragen. Diese Fristen dürfen unter bestimmten Bedingungen maximal um drei bzw. sechs Monate verlängert werden. Interessant dürften diese Höchstdauern für Projekte sein, die der Planfeststellung bedürfen. Denn diese benötigen in der Praxis regelmäßig mehrere Jahre. Für Genehmigungsverfahren nach dem Immissionsschutzrecht hingegen dürften sie fast unambitioniert klingen: So ist über den immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsantrag innerhalb von sieben Monaten, bei vereinfachten Verfahren sogar innerhalb von drei Monaten zu entscheiden.

D. Strategische Projekte

Noch schneller soll es bei sogenannten „strategischen Projekten“ gehen, bei denen teilweise Fristen von neun Monaten einzuhalten sind. Projektträger und alle betreffenden Behörden stellen nach der Vorgabe des NZIA sicher, dass bei strategischen Projekten die einschlägigen Verfahren so schnell wie möglich behandelt werden. Ihnen ist die höchstmögliche nationale Bedeutung einzuräumen. Strategische Projekte sollen als im öffentlichen Interesse und im Interesse der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit liegend behandelt werden, was ihnen bei Abwägungsentscheidungen besonderes Gewicht beimisst. Sofern solche Verfahren Gegenstand von Gerichtsverfahren werden, werden sie als dringlich behandelt.

Strategische Projekte müssen verschiedene Kriterien erfüllen, um diesen Status verliehen zu bekommen. Es muss sich um ein Projekt zur Fertigung von Netto-Null-Technologien, zur CO2-Abscheidung, -speicherung oder um ein CO2-Transportinfrastrukturprojekt handeln. Es muss in der Union angesiedelt sein und von einem Mitgliedstaat als strategisches Projekt für Netto-Null-Technologien anerkannt sein. Die Mitgliedstaaten sind bei der Anerkennung von strategischen Projekten nicht frei. Vielmehr sieht der NZIA konkrete Kriterien vor. Weitere Leitlinien sollen durch die Kommission bis zum 1. März 2025 festgelegt werden. Bisher lassen sich die Kriterien so zusammenfassen:

  • Das Projekt trägt zur technologischen und industriellen Widerstandsfähigkeit der Union bei, z.B. indem Fertigungskapazitäten in einem Bereich geschaffen werden, in dem die Union zu mehr als 50% von Einfuhren aus Drittländern abhängig ist.
  • Das Projekt hat eindeutig positive Auswirkungen auf die Lieferkette der Netto-Null-Industrie der Union oder auf nachgelagerte Sektoren, indem es Zugang zu den besten verfügbaren Technologien oder Produkten schafft, die in einer neuartigen Fertigungsanlage hergestellt werden.
  • Das Projekt trägt zur Verwirklichung der Klima- oder Energieziele der Union bei, indem Netto-Null-Technologien durch Verfahren gefertigt werden, mit denen eine verbesserte ökologische Nachhaltigkeit und Umweltleistung oder die Merkmale der Kreislauffähigkeit umgesetzt werden.

Diese doch eher schillernden und unbestimmten Kriterien zeigen, warum es eines weiteren Durchführungsaktes der EU Kommission zur Konkretisierung bedarf.

E. CCS als strategisches Projekt

Eine besondere Bedeutung kommt insoweit Kohlenstoffspeicherprojekten zu. Diese müssen die oben genannten Kriterien nicht erfüllen. Sie sind bereits dann als strategische Projekte anzuerkennen, wenn sich die CO2-Speicherstätte im Hoheitsgebiet der Union sowie ihren ausschließlichen Wirtschaftszonen oder Festlandsockeln befindet, das Projekt zur Verwirklichung des gesteckten Speicherziels der Union von jährlich 50 Millionen Tonnen CO2 beiträgt und eine Genehmigung im Sinne der CCS-Richtlinie der Union beantragt wurde.

F. Zentrale Kontaktstelle

Weiterer Bestandteil des Rundumschlags der EU ist die Einführung „zentraler Kontaktstellen“. Die EU zwingt die Mitgliedstaaten auf der jeweils einschlägigen Verwaltungsebene zur Einrichtung oder Benennung von solchen Stellen, deren Aufgabe es sein wird, Verfahren zu erleichtern und zu koordinieren. Diese Stellen sollen als einzige Kontaktstelle für den Projektträger in dem Genehmigungsverfahren dienen. Sie sollen vor allem die Einreichung aller relevanten Unterlagen und Informationen erleichtern. Während in der Praxis Genehmigungsanträge in Behörden mangels ausreichendem Personal liegen bleiben, ordnet der NZIA damit an, dass Behörden nun auch bei der Erstellung der Antragsunterlagen den Vorhabenträgern unter die Arme greifen sollen. Dass dies mit den derzeitigen Ressourcen kaum möglich sein wird, erkennt auch die EU. Deshalb werden die Mitgliedstaaten im gleichen Atemzug dazu verpflichtet, zuständige Behörden mit ausreichend qualifiziertem Personal und finanziellen, technischen und technologischen Ressourcen auszustatten. Gerade Letzteres dürfte für den Beschleunigungserfolg und die Einhaltung der neuen Verfahrenshöchstdauern entscheidend sein.Weiterer Bestandteil des Rundumschlags der EU ist die Einführung „zentraler Kontaktstellen“. Die EU zwingt die Mitgliedstaaten auf der jeweils einschlägigen Verwaltungsebene zur Einrichtung oder Benennung von solchen Stellen, deren Aufgabe es sein wird, Verfahren zu erleichtern und zu koordinieren. Diese Stellen sollen als einzige Kontaktstelle für den Projektträger in dem Genehmigungsverfahren dienen. Sie sollen vor allem die Einreichung aller relevanten Unterlagen und Informationen erleichtern. Während in der Praxis Genehmigungsanträge in Behörden mangels ausreichendem Personal liegen bleiben, ordnet der NZIA damit an, dass Behörden nun auch bei der Erstellung der Antragsunterlagen den Vorhabenträgern unter die Arme greifen sollen. Dass dies mit den derzeitigen Ressourcen kaum möglich sein wird, erkennt auch die EU. Deshalb werden die Mitgliedstaaten im gleichen Atemzug dazu verpflichtet, zuständige Behörden mit ausreichend qualifiziertem Personal und finanziellen, technischen und technologischen Ressourcen auszustatten. Gerade Letzteres dürfte für den Beschleunigungserfolg und die Einhaltung der neuen Verfahrenshöchstdauern entscheidend sein.

G. Beschleunigungstäler

Ein noch recht neues Werkzeug, das die EU aus ihrem Koffer gezaubert hat, sind sogenannte „Beschleunigungstäler“ oder „Acceleration Valleys“. Der EU schwebt die Einrichtung einer Art „Silicon Valley“ für Netto-Null-Technologien vor, die mit entsprechender Infrastruktur ausgestattet werden sollen. Für diese soll eine übergeordnete Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden, damit doppelte Prüfungen vermieden werden können. Diese Täler sollen insbesondere dazu beitragen, schwache Standorte oder Industriebrachen attraktiver für Investoren zu gestalten. Im deutschen Rechtssystem dürften sie vor allem im Planungsrecht von Interesse sein. Offen ist, ob und wie der Gesetzgeber diese Täler in das bestehende enge Gefüge des Bauplanungsrechts integrieren wird.

H. Reallabore

Transformation funktioniert nicht ohne neue Technologien. Der NZIA enthält daher eine Regelung, nach der die Mitgliedstaaten alleine oder zusammen mit Behörden oder anderen Mitgliedstaaten sogenannte „Reallabore“ einrichten können. Hierbei handelt es sich um Programme, die es einem Unternehmen ermöglichen sollen, innovative Technologien in einem kontrollierten realen Umfeld im Rahmen eines spezifischen Plans zu testen. Dieser Plan wird zuvor von einer zuständigen Behörde entwickelt und während des Tests überwacht. Ob sich Reallabore tatsächlich als attraktiv erweisen werden, bleibt abzuwarten. Denn Abweichungen oder Ausnahmen von geltendem Recht können nur gewährt werden, „soweit dies nach dem einschlägigen Unionsrecht zulässig ist“. Damit schafft der NZIA keine eigene Möglichkeit, während der Testphase beispielsweise von dem Artenschutzrecht abzuweichen. Dieses sieht keine Ausnahmetatbestände für Testbetriebe vor, sodass Haselmaus, Kammmolch, Mauereidechse und Co. solchen weiterhin unter Umständen entgegenstehen könnten.

I. Umweltverträglichkeitsprüfungen und Planverfahren

Dort, wo richtig Beschleunigungspotenzial gesteckt hätte, bleibt die EU in ihrer Verordnung zurückhaltend. So hält sie insbesondere an der Umweltverträglichkeitsprüfung im bekannten Umfang fest. Allein durch das Vorsehen von Verfahrensfristen und Projektkoordination durch die zentralen Kontaktstellen versucht sie bei der Umweltverträglichkeitsprüfung Beschleunigung zu erreichen. Eine inhaltliche Entschlackung der Prüfungserfordernisse hingegen erfolgt durch den NZIA nicht. Hinsichtlich Planverfahren heißt es im NZIA bloß, dass Behörden „in Erwägung“ ziehen sollen, Bestimmungen für Netto-Null-Technologie-Projekte und Beschleunigungstäler in ihre Pläne aufzunehmen. Höchstdauern für Verfahren ordnet die Verordnung hingegen nicht an.

J. Fazit und Ausblick

Der NZIA bietet einiges Potenzial, um für Beschleunigung bedeutender Genehmigungsverfahren zu sorgen. So dürfte die Verordnung Anreiz bieten, den Fachkräftemangel in der Verwaltung anzugehen, Behörden effektiver zu strukturieren und aufzustocken. Scharfe Schwerter hingegen dürfte die Verordnung nicht aufweisen: so sieht die Verordnung keine Rechtsfolgen vor, wenn die ambitionierten Höchstdauern nicht eingehalten werden. Auch gibt es keinen gesonderten Rechtsbehelf, um die Behörden zum Handeln innerhalb der Fristen zu bewegen. Wer also wahre Beschleunigung erreichen will, der sollte weiterhin selbst nach Beschleunigungspotenzialen Ausschau halten und zu diesem Zwecke sich Mitteln wie eines effektiven juristischen Projektmanagements bedienen.


Siehe auch:

Netto-Null-Industrie-Verordnung – Die EU drückt bei der Transformation aufs Gas

Dekarbonisierung

Autor/in
Pauline Müller

Pauline Müller
Senior Associate
Düsseldorf
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