24.07.2023
Mit Blick auf den Klimaschutz, die UN Sustainability Development Goals (SDG) sowie die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft wird zunehmend das Verhältnis von Wettbewerb und Kartellrecht auf der einen Seite und Nachhaltigkeit auf der anderen Seite diskutiert. Im Mittelpunkt dieser Diskussionen stehen zumeist sog. „Nachhaltigkeitskooperationen“ (sog. Sustainability Agreements), also von miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen geschlossene Vereinbarungen, die Nachhaltigkeitsziele zum Gegenstand haben. Grundsätzlich gilt, dass Kooperationen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen dem Kartellverbot unterliegen, im EU-Wettbewerbsrecht also Art. 101 AEUV.
Ausgangspunkt der Diskussionen ist in der Regel die Prämisse, dass nur ein gut funktionierender und durch das Kartellrecht geschützter Wettbewerb in der Lage sei, Nachhaltigkeitsziele effektiv und effizient zu erreichen. Wettbewerbsschutz diene somit auch der Nachhaltigkeit. Versage der Markt im Hinblick auf einen Nachhaltigkeitsaspekt, sei es nicht zuallererst die Aufgabe des Kartellrechts und der Kartellbehörden, dieses Marktversagen zu beheben. Ein Spannungsverhältnis zwischen Wettbewerb und Kartellrecht auf der einen und Nachhaltigkeit auf der anderen Seite bestehe grundsätzlich nicht. Allerdings könne das Kartellrecht durchaus einen Beitrag zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen leisten: Kooperationen zwischen Unternehmen könnten im Einzelfall ein wirksames Instrument sein, um Skaleneffekte zu erzielen oder einen „First-Mover-Disadvantage“ zu Lasten eines Marktteilnehmers zu vermeiden. Unternehmenskooperationen könnten auch dort unterstützen, wo insbesondere nationale hoheitliche Maßnahmen an ihre Grenzen stießen.
Als erste nationale Kartellbehörde in der EU veröffentlichte die niederländische Autoriteit Consument & Markt im Jahr 2020 ihren Leitlinienentwurf zum konkreten Umgang mit Nachhaltigkeitskooperationen (vgl. dazu https://www.acm.nl/en/publications/draft-guidelines-sustainability-agreements). In Österreich wurde das Kartellgesetz mittlerweile dahingehend ergänzt, dass eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zwischen Unternehmen dann vom Kartellverbot ausgenommen ist, wenn ein angemessener Verbrauchervorteil durch die Vereinbarung generiert wird und dieser Vorteil „zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft“ wesentlich beiträgt (vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 KartG); Leitlinien zur Anwendung des § 2 Abs. 1 KartG auf Nachhaltigkeitskooperationen hat die Bundeswettbewerbsbehörde im September 2022 veröffentlicht (abrufbar unter https://www.bwb.gv.at/recht-publikationen/standpunkte). In Deutschland erwägt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), das Kartellrecht auf „Nachhaltigkeitslücken“ hin zu prüfen und diese zu schließen; eine vom BMWK in diesem Zusammenhang in Auftrag gegebene Studie „Wettbewerb und Nachhaltigkeit in Deutschland und der EU“ wurde im März 2023 veröffentlicht (abrufbar unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Wirtschaft/transformation-zu-einer-sozial-okologischen-marktwirtschaft.html).
Auch die Europäische Kommission (Kommission) ist nicht untätig geblieben. In den am 1. Juni 2023 von der Kommission angenommenen Leitlinien über die Anwendbarkeit von Artikel 101 AEUV über die horizontale Zusammenarbeit (Horizontalleitlinien) findet sich im Gegensatz zu den Horizontalleitlinien von 2011 ein eigenes Kapitel zu Nachhaltigkeitskooperationen. Dieser Blogbeitrag stellt im Folgenden das einschlägige Kapitel vor und wirft einen Blick auf Folgen für die Praxis.
Nachhaltigkeitskooperationen behandelt die Kommission im 9. Kapitel ihrer Horizontalleitlinien. Dass die Kommission dem Thema „Nachhaltigkeit“ ein eigenes Kapitel widmet, ist genau genommen nichts Neues: Bereits die Horizontalleitlinien von 2001 (2001/C 3/02) enthielten ein Kapitel über „Umweltschutzvereinbarungen“. Dieses Kapitel fehlte in den Horizontalleitlinien von 2011.
In den neuen Horizontalleitlinien geht die Kommission über „Umweltschutzvereinbarungen“ hinaus. Unter Nachhaltigkeitskooperationen fasst sie nun alle Kooperationsformen zwischen Wettbewerbern mit denen diese einen Nachhaltigkeitszweck verfolgen; Nachhaltigkeit geht dabei über Umwelt- und Klimaschutz hinaus, lehnt sich vielmehr an den Nachhaltigkeitsbegriff der SDG der Vereinten Nationen an (vgl. zu den 17 SDG der UN auch unter https://sdgs.un.org/goals). Nachhaltigkeitskooperationen im Sinne der Horizontalleitlinien können somit beispielsweise auch den Arbeitnehmerschutz oder Menschenrechte zum Gegenstand haben.
Die Kommission betont in den Horizontalleitlinien explizit, dass Nachhaltigkeitskooperationen grundsätzlich keine eigene Kategorie horizontaler Kooperationsvereinbarungen für die Anwendung des Kartellverbots darstellen. Entspricht eine Nachhaltigkeitskooperation einer der in den vorangegangenen Kapiteln der Horizontalleitlinien behandelten Formen der Zusammenarbeit, ist die Kooperation anhand der einschlägigen vorangegangenen Kapiteln sowie dem Kapitel über Nachhaltigkeitskooperationen zu prüfen; im Fall von Widersprüchen können sich die Parteien der Vereinbarung auf das für sie günstigere Kapitel berufen.
Weiterhin stellen die Horizontalleitlinien unmissverständlich klar, dass horizontale Kooperationen, die den Wettbewerb beschränken, nicht allein deshalb dem Kartellverbot entgehen können, weil sie für die Verfolgung eines Nachhaltigkeitsziels notwendig sind. Die Kommission spricht sich damit klar dagegen aus, Nachhaltigkeitskooperationen generell vom Kartellverbot auszuschließen. Sie hält die Rechtsprechung des EuGH gemäß der legitime, vom EU-Recht anerkannte Ziele Wettbewerbsbeschränkungen rechtfertigen können, sofern der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird, nicht auf Nachhaltigkeitsziele für anwendbar. Der EuGH hat eine solche Rechtfertigung z. B. für Rechtsdienstleitungen (C-309/99, „Wouters“) oder im Sport (C-519/04, „Meca-Medina“) angenommen.
Das Kapitel über Nachhaltigkeitskooperationen ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden Beispiele für Nachhaltigkeitskooperationen genannt, bei denen eine Wettbewerbsbeschränkung unwahrscheinlich ist (2.1.). Im Anschluss daran werden bestimmte Aspekte der Prüfung gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV behandelt, insbesondere im Zusammenhang mit solchen Kooperationen, die Nachhaltigkeitsstandards festlegen (2.2.). Darüber hinaus befasst sich das Kapitel mit Aspekten der Prüfung von Effizienzen gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV (2.3.). Das Kapitel erörtert auch die Folgen der Beteiligung der öffentlichen Hand am Abschluss von Nachhaltigkeitsvereinbarungen und führt abschließend hypothetische Beispiele auf; darauf gehen wir im Folgenden nicht ein.
2.1. Nachhaltigkeitskooperationen, die in der Regel nicht unter Art. 101 AEUV fallen
Wirkt sich eine Nachhaltigkeitskooperation nicht negativ auf Wettbewerbsparameter wie Preis, Quantität, Qualität, Innovation oder Produktvielfalt aus, verstößt sie nicht gegen das Kartellverbot. Kooperationen, die etwa nur die Einhaltung präziser Anforderungen rechtsverbindlicher internationaler Übereinkommen sicherstellen wollen, die von einem Unterzeichnerstaat nicht vollständig umgesetzt oder durchgesetzt werden, fallen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV; Voraussetzung für den Ausschluss vom Kartellverbot ist jedoch, dass die Parteien die Anforderungen oder Verbote einhalten. Auch Kooperationen, die beispielsweise die Einrichtung einer Datenbank mit allgemeinen Informationen z. B. über nicht nachhaltige Wertschöpfungsketten zum Gegenstand haben, können aus dem Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen. Voraussetzung dafür ist, dass kein Kooperationspartner verpflichtet wird, nicht bei bestimmten Lieferanten zu kaufen oder nicht an bestimmte Händler zu verkaufen. Sofern eine Kooperation nicht auf eine gemeinsame Werbung- und Vermarktung für bestimmte Produkte hinausläuft, ist auch eine gemeinsame Sensibilisierungskampagne von Wettbewerbern für mehr Nachhaltigkeit in aller Regel unproblematisch.
2.2. Nachhaltigkeitsstandards
Kooperationen über gemeinsame Nachhaltigkeitsstandards werden in den Horizontalleitlinien in einem eigenen Abschnitt behandelt. Solche Kooperationen können beispielsweise die schrittweise Abschaffung, den Rückzug oder den Ersatz nicht nachhaltiger Produkte oder Produktionsmethoden oder die Harmonisierung von Nachhaltigkeitsstandards regeln. Unter bestimmten Umständen beschränken gemeinsame Nachhaltigkeitsstandards den Wettbewerb, etwa durch Preisabsprachen, Ausschluss alternativer Standards oder den Ausschluss bzw. die Diskriminierung von Wettbewerbern.
Insbesondere solche Kooperationen, die vorsehen, dass und wie erhöhte Kosten, die sich aus der Anpassung und Einhaltung von Nachhaltigkeitsstandards ergeben, an die Kunden weitergegeben werden können, sind bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen. Ebenso bezweckt eine Kooperation eine Wettbewerbsbeschränkung, wenn sie Wettbewerber unter Druck setzt, die Vermarktung eines nicht dem Standard entsprechenden Produkts zu unterlassen. Eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung ist beispielsweise auch die Begrenzung der technologischen Entwicklung auf gesetzlich vorgeschriebene Mindeststandards.
Für den Fall, dass eine Kooperation über gemeinsame Nachhaltigkeitsstandards eine Wettbewerbsbeschränkung zwar nicht bezweckt sondern nur bewirkt, sehen die Horizontalleitlinien einen sog. „Soft Safe Harbour“ vor. Unwahrscheinlich ist danach, dass eine Kooperation spürbare negative Auswirkungen auf den Wettbewerb verursacht, wenn kumulativ sechs Bedingungen erfüllt sind:
2.3. Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV
Eine wettbewerbsbeschränkende Nachhaltigkeitskooperation kann wie jede andere Vereinbarung auch in den Genuss der Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV kommen, wenn die Kooperationspartner vier kumulative Voraussetzungen nachweisen:
Bei der Anwendung der Wettbewerbsvorschriften und mithin auch des Art. 101 Abs. 3 AEUV verfolgt die Kommission spätestens seit dem Inkrafttreten der VO (EG) 1/2003 einen sog. „more economic approach“, der die Konsumentenwohlfahrt als primäres Ziel des Kartellrechts formuliert. Dies bedeutet u.a., dass Effizienzvorteile quantifiziert und konkret denjenigen Konsumenten zu Gute kommen müssen, die von einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung unmittelbar betroffen sind. Andernfalls ist für eine Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV kein Raum. An dieser Einstellung hat sich durch die neuen Horizontalleitlinien im Grunde nichts geändert. Gesamtgesellschaftliche und legitime außerwettbewerbliche Ziele wie Nachhaltigkeit werden zwar grundsätzlich als relevant anerkannt, der Verbrauchervorteil muss aber weiterhin vollständig denjenigen zukommen, die unmittelbar von der Nachhaltigkeitskooperation betroffen sind. Dazu müssen Effizienzen und Verbrauchervorteile quantifiziert werden. „Out-of-the-market-efficiencies“, Vorteile für zukünftige Generationen und nicht unmittelbar betroffene Stakeholder sowie allein gesamtgesellschaftliche Vorteile genügen nach den Horizontalleitlinien für eine Freistellung nicht.
Durch die Aufnahme eines Kapitels über Nachhaltigkeitskooperationen in die Horizontalleitlinien besteht mehr Klarheit darüber, wie die Kommission solche Kooperationen kartellrechtlich bewertet. Einen Freifahrtschein für die Zusammenarbeit zwischen Wettbewerben erteilt sie nicht. Unternehmen müssen weiterhin vorsichtig agieren. Allein der Umstand, dass Nachhaltigkeitsziele mit einer Kooperation verfolgt werden, schützt nicht vor der Anwendung des Kartellverbots. Hard-core-Kartelle wie Preisabsprachen können keinesfalls durch Nachhaltigkeitszeile gerechtfertigt werden. Auch rückt die Kommission im Grundsatz nicht von ihrer ökonomisch beeinflussten Anwendungspraxis des Art. 101 Abs. 3 AEUV ab. Wettbewerber, die mit dem Gedanken spielen, Kooperationsvereinbarungen miteinander abzuschließen, müssen also etwa darauf achten, Effizienzen für die betroffenen Verbraucher zu quantifizieren um diese ggfs. darlegen zu können. Positiv zu bewerten ist, dass die Horizontalleitlinien ausdrücklich die Bereitschaft der Kommission betonen, neue oder ungelöste Fragen zu einzelnen Nachhaltigkeitskooperationen gemeinsam mit den Parteien informell zu erörtern.
Dr. Helmut Janssen, LL.M. (King's College London)
Partner
Brüssel, Düsseldorf
helmut.janssen@luther-lawfirm.com
+32 2 627 7763 / +49 211 5660 18763 / +49 1520 16 18763
Lasse Langfeldt, LL.M. (Uppsala), LL.M. (Brussels School of Competition)
Senior Associate
Brüssel
lasse.langfeldt@luther-lawfirm.com
+32 2 627 7764
Martin Lawall, LL.M. (University of Glasgow)
Senior Associate
Brüssel
martin.lawall@luther-lawfirm.com
+32 2 627 7767