28.05.2024
Die Transformation der Industrie kommt nur langsam in Gang. Das liegt nicht an fehlenden Mühen auf Seiten der Industrie. Vielmehr stocken vor allem die Genehmigungs- und Planverfahren, die nötig sind, um die Projekte von der bereits deutlich fortgeschrittenen Konzeptionierungsphase auf die Straße zu bringen. Der Bremsklotz Bürokratie soll weichen. So sieht es jedenfalls die Europäische Union, die mit ihrer Netto-Null-Industrie-Verordnung nun die Verwaltungen der Mitgliedsstaaten zu mehr Beschleunigung zwingen will. Von festen Fristen bei Genehmigungsverfahren, über einen prioritären Status von „strategischen Projekten“ bis zu „Beschleunigungstälern“ und „Reallaboren“ sieht die Union nun zahlreiche Wege vor, wie die Transformation schneller und unbürokratischer werden soll. Während diese Verordnung vor allem Erleichterungen schaffen soll, werden mit ihr für die Erdgas- und Erdölbranche gleichzeitig neue Pflichten geschaffen. Sie ist es nämlich, die maßgeblich die Speicherung von Kohlenstoffdioxid in der Europäischen Union vorantreiben soll.
Das allgemeine Ziel der Netto-Null-Industrie-Verordnung(nachfolgend: NNIV) besteht darin, eine sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Versorgung mit sogenannten Netto-Null-Technologien zu gewährleisten und die Widerstandsfähigkeit der Union und ihrer Lieferketten in diesem Bereich zu stärken. Hierzu sollen vor allem Produktionskapazitäten für entsprechende Technologien sowie ihre Lieferketten ausgebaut werden, die essenziell sind, um die ambitionierten Klimaziele zu erreichen. Es sollen zudem hochwertige Arbeitsplätze geschaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Union verbessert werden. Hierzu ist unter anderem beabsichtigt, einen Europäischen Markt für CO2-Speicherdienste zu schaffen.
Der Anwendungsbereich der Verordnung erstreckt sich dabei auf verschiedene Technologien, die zur Erreichung der Klimaziele unverzichtbar sind. Solche sind zum Beispiel Solartechnologien, On- und Offshore Windenergie, Wärmepumpen, Wasserstofftechnologie, Biogas- und Biomethantechnologie, aber auch Kohlendioxidabscheidung und -speicherung. Kritische Rohstoffe, die der am 23. Mai 2024 in Kraft getretenen Europäischen Verordnung zu kritischen Rohstoffen unterfallen, sind vom Anwendungsbereich hierbei jedoch ausgenommen. Dies betrifft vor allem den neuen „Trendrohstoff“ Lithium.
Die Europäische Union will die strategischen Abhängigkeiten von Netto-Null-Technologien und ihren Lieferketten in der Union verringern: Mindestens 40 % des jährlichen Bedarfs der Union entsprechender Technologien sollen innerhalb der Union erzeugt werden. Zudem soll grundsätzlich bis 2040 15 % der Weltproduktion an solcher Industrie aus der Union stammen.
Um diese Ziele – vor allem zügig – zu erreichen, ist eine Straffung der Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren vorgesehen. Die NNIV bringt für das deutsche System insoweit eine bedeutende Veränderung mit sich: Während in der Praxis der Vorhabenträger überwiegend allein für die Projektsteuerung verantwortlich ist, soll durch die NNIV die Verwaltung beinahe in Richtung „Dienstleisterin“ umgestaltet werden. Denn zum einen wird ihr die Rolle der Projektkoordination und zum anderen des Unterstützens der Vorhabenträger bei der Erfüllung von Pflichten auferlegt. Nach diesem Vorbild soll eine Behörde als zentrale Kontaktstelle und im Idealfall gleichzeitig als Projektkoordinatorin fungieren. Dieser Ansatz soll mit sogenannten Once-Only Systemen verbunden werden, damit Informationen nicht mehrfach an Behörden übermittelt werden müssen. Es werden zudem ähnlich wie im Immissionsschutzrecht Fristen festgesetzt, innerhalb derer Genehmigungsverfahren abgeschlossen sein müssen. Diese liegen je nach Bedeutung des Vorhaben zwischen neun und 18 Monaten.
Durch die NNIV wird überdies ein neuer prioritärer Status für „strategische Projekte“ eingeführt. Dieser Status kann einem Projekt auf Antrag eingeräumt werden. Mitgliedstaaten räumen nach der Verordnung strategischen Projekten die höchstmögliche nationale Bedeutung ein. Sie sollen insoweit als im öffentlichen Interesse und im Interesse der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit liegend behandelt werden. Dies räumt ihnen bei Abwägungsentscheidungen eine erhebliche Bedeutung ein. Zudem sollen sie priorisiert behandelt werden, wodurch sich die Genehmigungsdauer soweit wie möglich reduzieren soll.
Projekte, die von diesem Status profitieren können sollen, sollen solche zur Fertigung von Netto-Null-Technologien sein, die zur Widerstandsfähigkeit der Union beitragen. Ein solches Projekt liegt vor, wenn es die Fertigungskapazität für ein Bauteil oder ein Segment der Lieferkette der jeweiligen Technologie erhöht. Da dies für die meisten Netto-Null-Technologie-Projekte zutreffen dürfte, müssen weitere Kriterien erfüllt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Fertigung eines Bauteils, von dem die Union mehr als 50 % von Einfuhren aus Drittländern abhängig ist, wie es z. B. derzeit bei Photovoltaikpanelen der Fall ist.
Ein neuer Ansatz, der sich schon im Kontext Wasserstoffe aufgetan hat, ist die Schaffung von sogenannten „Beschleunigungstälern“. Der EU schwebt vor, dass die Mitgliedstaaten eine Art „Silicon Valley“ für Netto-Null-Industrien einrichten, die mit entsprechender Infrastruktur ausgestattet werden sollen. Für diese soll eine übergeordnete Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden, damit Unternehmen, die sich in diesem Tal niederlassen, eine solche im Idealfall nicht mehr durchführen müssen. Hierdurch sollen zum Beispiel strukturschwache Standorte oder Industriebrachen attraktiver für Investoren werden.
Die Mitgliedstaaten können daneben gegebenenfalls zusammen mit lokalen und regionalen Behörden und anderen Mitgliedstaaten auf eigene Initiative Reallabore einrichten. Hierbei handelt es sich um Programme, die es einem Unternehmen ermöglichen, innovative Netto-Null-Technologien und andere innovative Technologien in einem kontrollierten realen Umfeld im Rahmen eines spezifischen Plans zu testen, der von einer zuständigen Behörde entwickelt und überwacht wird.
Neben all diesen Maßnahmen, die vor allem darauf gerichtet sind, schnell neue Technologien zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, dient die NNIV zudem als Hebel, Kohlendioxidspeicherung voranzutreiben. Denn das Ziel der Union ist es, bis 2030 jährlich 50 Mio. Tonnen CO2 einzuspeisen. Damit dieses ambitionierte Ziel erreicht werden kann, will die Europäische Union vor allem Erdgas- und Erdölunternehmen in die Pflicht nehmen. Diese sollen einerseits dazu beitragen, die notwendigen Daten zu Speicherkapazitäten zusammenzustellen. Andererseits schwebt der EU vor, zukünftig erschöpfte Erdgas- und Erdölfelder zu Kohlenstoffdioxidspeichern umzunutzen. Insgesamt sieht sich die Branche durch die NNIV neuen Herausforderungen ausgesetzt. Denn die EU wird spätestens durch einen delegierten Rechtsakt der Europäischen Kommission genau definieren, welche Beiträge Erdöl- und Erdgasunternehmen zur Erreichung der Speicherziele zu leisten haben.
Wer Kohlenstoffdioxid einspeichern will, der muss es auch transportieren können. Dies hat auch die EU erkannt, weshalb mit der NNIV der Union und ihren Mitgliedstaaten auferlegt wird, alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um die erforderliche CO2-Transportinfrastruktur zu entwickeln. Zudem adressiert die Verordnung Themen wie den Fachkräftemangel, die Modifikation von Vergabeverfahren sowie die Schaffung eines Markts für abgeschiedenes CO2. Es bleibt abzuwarten, ob es der Europäischen Union gelingt, mit ihrer gewollt ganzheitlichen Verordnung die gewünschte Beschleunigung bei der Transformation der Industrie zu erreichen.
Pauline Müller
Senior Associate
Düsseldorf
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