09.01.2024

Neue Schiedsregeln der CIETAC seit 1. Januar 2024 in Kraft

Hintergrund

Die 1956 gegründete China International Economic and Trade Arbitration Commission (CIETAC) gilt als die wichtigste und renommierteste Schiedsinstitution der Volksrepublik China (VR China) und zählt ferner zu den größten Schiedsinstitutionen der Welt. Die CIETAC hat ihren Sitz in Peking und Unterkommissionen in wichtigen chinesischen Metropolen wie Shanghai und Shenzhen. Durch die wirtschaftliche Bedeutung der asiatischen Region wächst die Zahl der Schiedsverfahren in der VR China rasant. Im Jahr 2022 registrierte die CIETAC ca. 4.000 neue Schiedsgerichtsfälle, wobei der Gesamtstreitwert ca. 126,9 Milliarden RMB (ca. 16,2 Milliarden EUR) erreichte. An ca. 30.000 von der CIETAC abgeschlossenen Schiedsverfahren waren Parteien aus mehr als 150 Ländern und Regionen außerhalb des chinesischen Festlands beteiligt. Im Einklang mit dem New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche werden die innerchinesischen Schiedssprüche der CIETAC in etwa 165 Ländern anerkannt und vollstreckt.

Die CIETAC aktualisiert ihre Schiedsgerichtsordnung regelmäßig, um mit den neuesten Entwicklungen in der internationalen Schiedspraxis Schritt zu halten und den Bedürfnissen der Parteien besser gerecht zu werden. Verglichen mit dem chinesischen Schiedsrecht waren die Schiedsregeln der CIETAC stets fortschrittlich und trieben Gesetzesentwicklungen weiter voran. Auf diese Weise hat die CIETAC in den vergangenen Jahrzehnten einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Schiedsgerichtspraxis in der VR China geleistet. Nun hat die CIETAC ihre Schiedsordnung nach der letzten Anpassung von 2015 erneut überarbeitet. Die neuen Schiedsregeln traten am 1. Januar 2024 in Kraft und sind ein weiterer Schritt in Richtung Internationalisierung der chinesischen Schiedspraxis: Sie erweitern die Befugnisse des Schiedsgerichts und enthalten u.a. Bestimmungen zu Beweismitteln, Drittfinanzierung, Konsolidierung von Schiedsverfahren, Digitalisierung und Unterstützungsleistungen bei Ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit.

Inhalt und Gegenstand der neuen Regeln

Im Vergleich zu den CIETAC-Schiedsregeln von 2015 wurden die bisher 84 Bestimmungen auf 88 Vorschriften erweitert. Einige der wichtigsten Neuerungen werden hier in Kürze zusammengefasst.

1. Entscheidung über die Zuständigkeit (Art. 6)

Mit der Neuregelung des Art. 6 entscheidet das Schiedsgericht nach seiner Konstituierung nunmehr selbst über seine Zuständigkeit. Damit nähern sich die Schiedsregeln dem in der internationalen Schiedspraxis geltenden Grundsatz der sog. Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts an. Nach den bisherigen Schiedsregeln stand dieses Recht im Grundsatz der Schiedsinstitution CIETAC zu und konnte von dieser lediglich an das Schiedsgericht übertragen werden.

2. Eskalationsklausel (Art. 12.2)

Sieht die Schiedsvereinbarung vor, dass die Parteien vor Einleitung des Schiedsverfahrens verhandeln oder ein Mediationsverfahren durchführen müssen, so hindert ein Versäumnis die Parteien nunmehr ausdrücklich nicht mehr daran, dennoch unmittelbar ein Schiedsverfahren einzuleiten, oder die CIETAC daran, den Fall anzunehmen (es sei denn, das auf das Schiedsverfahren anwendbare Recht oder die Schiedsvereinbarung sieht ausdrücklich etwas anderes vor).

3. Recht zur vorzeitigen Klageabweisung (Art. 50)

Zudem sind Schiedsgerichte nach Art. 50.1 nunmehr in eigener Entscheidungskompetenz dazu berechtigt, Klagen oder Widerklagen auf Antrag einer Partei wegen offensichtlicher Unbegründetheit oder Unzuständigkeit ganz oder teilweise vorzeitig abzuweisen. Ein solcher Antrag sollte nach Art. 50.3 so früh wie möglich, jedenfalls vor Klageerwiderung, gestellt werden. Über den Antrag einer Partei auf vorzeitige Klageabweisung muss das Schiedsgericht gemäß Artikel 50.5 wiederum grundsätzlich innerhalb von 60 Tagen nach Antragstellung eine begründete Entscheidung oder einen Schiedsspruch erlassen.

4. Mehrvertragsklausel (Art. 14) und Konsolidierung von Schiedsverfahren (Art. 19)

Praktisch besonders bedeutsam dürfte die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Mehrvertragsklausel (Art. 14) sein, um bei mehreren, streitigen Verträgen eine Kosten- und Zeitersparnis für die Parteien zu bewirken. Während das chinesische Schiedsgesetz keine Regelungen über Mehrvertrags- oder Mehrparteienschiedsverfahren enthält, hat die CIETAC beide Konstellationen bereits in ihren Schiedsregeln von 2015 berücksichtigt.

Nach den bisherigen Regeln konnten Schiedsverfahren mit mehreren Verträgen nur dann in einem einzigen Verfahren eingeleitet und entschieden werden, wenn die Verträge aus einem Hauptvertrag und einem oder mehreren Nebenverträgen bestehen oder an den Verträgen dieselben Parteien beteiligt sind und sie dieselbe Rechtsnatur aufweisen oder dieselbe Rechtsbeziehung betreffen. Die neuen Vorschriften lassen nun auch den Fall genügen, dass solche Verträge miteinander in Zusammenhang stehende Sachverhalte betreffen ("related subject matters“). Des Weiteren können sich die Parteien nach der neuen Schiedsgerichtsordnung nicht nur in der Phase der Eröffnung des Schiedsverfahrens auf die Vorschriften über mehrere Verträge berufen, sondern auch während des Schiedsverfahrens weitere Verträge hinzufügen. Entsprechend wurde in Art. 19 der Anwendungsbereich einer möglichen Konsolidierung von bereits laufenden Schiedsverfahren auf mehrere Verträge mit in Zusammenhang stehenden Sachverhalten erweitert und es können Verträge in einem bereits laufenden Schiedsverfahren hinzugefügt werden (Art. 14.2)

5. Einstweilige Maßnahmen vor Einleitung des Schiedsverfahrens (Art. 23)

Nach den bisherigen Schiedsregen von 2015 musste die Partei gemeinsam mit oder nach Einleitung des Schiedsverfahrens bei der CIETAC Eilrechtsschutz beantragen. Die CIETAC hatte dann den Antrag an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Die Vorschrift des Art. 23.1 der neuen Schiedsordnung gewährt der Partei nun die Möglichkeit, noch vor Zustellung der Anzeige über die Einleitung des Schiedsverfahrens einstweilige Maßnahmen zu beantragen, der dann von der CIETAC an das zuständige Gericht weitergeleitet wird. Diese Möglichkeit besteht nunmehr auch ausdrücklich für eine Weiterleitung an ein ausländisches Gericht. 

6. Finanzierung durch Dritte (Art. 48)

Die CIETAC 2024 Regeln greifen erstmals Bestimmungen zur Finanzierung des Schiedsverfahrens durch Dritte auf. Die finanzierte Partei ist verpflichtet, gegenüber der CIETAC Informationen über die Finanzierungsvereinbarung offenzulegen, z.B. über das finanzielle Interesse, den Namen und die Adresse des Drittfinanzier. Diese Informationen leitet die CIETAC sowohl an die andere Partei als auch an das Schiedsgericht weiter. Die Drittfinanzierung und die Einhaltung der Offenlegungspflicht können gem. Art. 48.2 bei der Kostenentscheidung berücksichtigt werden. Diese Regelung dürfte infolge neuer Gerichtsentscheidungen der VR China im Hinblick auf die (wenn auch vorsichtige) Akzeptanz von Drittfinanzierung im Rahmen von Schiedsverfahren gefasst worden sein.

7. Digitalisierung (Art. 8, 21, 37, 52)

Mit den von der CIETAC im April 2020 veröffentlichten „Guidelines on Proceeding with Arbitration Actively and Properly during the COVID-19 Pandemic (Trial)“ wurden bereits während der COVID-19-Pandemie Maßnahmen zur verstärkten Digitalisierung des Schiedsverfahrens, wie z.B. virtuelle Anhörungen als Verfahrensart der mündlichen Anhörung per Videokonferenz als Alternative zur persönlichen Anwesenheit oder die elektronische Zustellung von Dokumenten eingeführt. Aufbauend hierauf enthält die neue Schiedsordnung der CIETAC nun ausdrückliche Regelungen zur digitalen Gestaltung von Schiedsverfahren. Nach den neuen Schiedsregeln stellt die elektronische Zustellung von verfahrensrechtlichen Dokumenten die bevorzugte Form der Zustellung dar. Die Einreichung von Schiedsdokumenten auf elektronischem Wege wird nun ausdrücklich zugelassen. Darüber hinaus hat das Schiedsgericht das Recht, Online-Verhandlungen zu beschließen. Auch wird klargestellt, dass die elektronische Unterschrift eines Schiedsrichters die gleiche Wirkung hat wie eine handschriftliche Unterschrift und dass ein Schiedsspruch elektronisch zugestellt werden kann.

8. Ad-hoc Schiedsverfahren

Nach dem chinesischen Schiedsgesetz sind Ad-hoc-Schiedsverfahren, d.h. Schiedsverfahren, die ohne Unterstützung einer Schiedsinstitution stattfinden, unzulässig. Dies soll sich im Zuge der derzeit erfolgenden Reform des Schiedsgesetzes (siehe hierzu unseren Beitrag hier) ändern. Die neuen CIETAC-Schiedsregeln greifen dem Gesetzgeber vor, indem sie von der bereits erwarteten Lockerung des Verbots ausgehen und der CIETAC die Möglichkeit gewähren, auf Vereinbarung oder Ersuchen der Parteien Verwaltungs- und Unterstützungsdienste für Ad-hoc-Schiedsverfahren zu erbringen, z. B. in Form von Anleitung oder Beratung zur Anwendung der Schiedsgerichtsordnung, zur Ernennung von Schiedsrichtern oder zur Durchführung von mündlichen Anhörungen, Verwaltung der Vergütung der Schiedsrichter usw. Dies gilt nur, soweit die Ad-hoc-Schiedsvereinbarung wirksam ist und nicht zwingendem geltenden anwendbarem Recht widerspricht.

Bewertung und Ausblick

Die neuen Schiedsregeln der CIETAC vom 1. Januar 2024 greifen damit erneut dem chinesischen Schiedsgesetz vor, dessen Reform derzeit noch aussteht. Die Schiedsordnung 2024 berücksichtigt einige der neuesten Entwicklungen und bewährten Praktiken in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und zielt darauf ab, ein flexibleres, effizienteres und transparenteres Schiedsverfahren für die Parteien und das Schiedsgericht zu schaffen. Mit dem Inkrafttreten der Schiedsgerichtsordnung 2024 wird die CIETAC weiterhin eine wichtige Rolle bei der Beilegung von Handelsstreitigkeiten in der VR China und weltweit spielen.

Sollten Schiedsverfahren mit Sitz in China das Mittel der Wahl zur Streitbeilegung sein, wird die CIEATAC mit ihren neuen Schiedsregeln voraussichtlich weiterhin eine geeignete Institution zur Streitbeilegung darstellen. Unser Complex Disputes Team verfügt neben dem rechtlichen und strategischen Know-How über langjährige Erfahrung in komplexen Streitigkeiten, speziell im grenzüberschreitenden Kontext, unser China-Desk über fundierte Fachkenntnis und jahrzehntelange Praxis bei der rechtlichen Begleitung deutscher und europäischer Unternehmen im Chinageschäft. Gemeinsam können wir auf unsere besondere Expertise und praktischen Erfahrungen in deutsch-chinesischen Streitigkeiten zurückgreifen und arbeiten eng mit unseren chinesischen Partnerkanzleien vor Ort zusammen. Mit unserem speziellen Asienfokus und unseren zahlreichen Büros in Südostasien können wir auch bei Rechtsstreitigkeiten mit südostasiatischen Parteien beraten.

Autor/in
Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss

Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss
Partnerin
Berlin, Köln
katharina.klenk@luther-lawfirm.com
+49 30 52133 25741

Dr. Madeleine Martinek, LL.M., LL.M. oec. (Nanjing)