05.12.2024

Produkthaftungsrichtlinie

Am 18. November 2024 wurde die neue Produkthaftungsrichtlinie im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Sie tritt am 8. Dezember 2024, also 20 Tage nach der Veröffentlichung, in Kraft.

1. Ausgangslage

Der Anpassungsbedarf ergibt sich aus der Notwendigkeit, das bestehende Recht an neue Technologien, wie Künstliche Intelligenz (KI), neue Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft sowie an globale Lieferketten anzupassen. Die Grundprinzipien der verschuldensunabhängigen Haftung bleiben jedoch bestehen. Gleichzeitig wird der Anwendungsbereich der Richtlinie erheblich erweitert, und Geschädigte profitieren von bedeutenden Erleichterungen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche. Die Mitgliedstaaten der EU müssen die Richtlinie bis zum 9. Dezember 2026 in nationales Recht umsetzen, was für Deutschland die Ablösung des bisherigen Produkthaftungsgesetzes bedeutet.

2. Erweiterung des Produktbegriffs

Der Produktbegriff umfasst nun ausdrücklich Software, wodurch bestehende Unsicherheiten, ob auch nicht-verkörperte Software erfasst ist, beseitigt werden. Auch Künstliche Intelligenz wird explizit in den Softwarebegriff einbezogen. Ausgenommen bleibt jedoch freie und quelloffene Software, die außerhalb einer gewerblichen Tätigkeit entwickelt oder bereitgestellt wird. Der Produktbegriff umfasst ebenfalls Rohstoffe. Digitale Dateien fallen grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich der neuen Richtlinie. Eine Ausnahme bilden jedoch digitale Konstruktionsunterlagen, die ausdrücklich dem Produktbegriff unterliegen. Darüber hinaus wird die Haftung auf integrierte oder verbundene digitale Dienste („verbundene Dienste“) – wie integrierte Sprachassistenten zur Steuerung von Produkten – ausgeweitet.

3. Neustrukturierung des Fehlerbegriffs

Die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit eines Produkts erfolgt weiterhin anhand einer objektiven Analyse der Sicherheit, die die breite Öffentlichkeit erwarten darf. Beispiele für Fehlerhaftigkeit sind:

  • Ein Produkt erfüllt die sicherheitsrelevanten Anforderungen an Cybersicherheit nicht, sodass der Hersteller für vorsätzliche Schäden durch Dritte (wie Hacker), haftet.
  • Fehler durch Auswirkungen von lernenden oder sich weiterentwickelnden KI-Systemen nach ihrem Einsatzbeginn.

Es kommt zu einer Verzahnung mit dem Produktsicherheitsrecht. Produktrückrufe oder behördliche Eingriffe lassen ein Produkt künftig als fehlerhaft gelten. Ein wesentlicher Änderungsaspekt ist, dass nicht mehr nur das erstmalige Inverkehrbringen eines Produkts als Anknüpfungspunkt für die Haftung gilt. Hersteller können auch haftbar gemacht werden, wenn sie ein Produkt nach dem Inverkehrbringen kontrollieren, etwa durch Software-Updates. Wird ein Produkt durch ein Update oder das Lernen eines KI-Systems wesentlich verändert, gilt das Produkt ab diesem Zeitpunkt als neu bereitgestellt oder in Betrieb genommen.

4. Haftung der Wirtschaftsakteure und sonstige Modifikationen

Auf der Seite der Geschädigten können natürliche Personen aus eigenem oder übergegangenem Recht oder im Namen mehrerer Geschädigter Schadensersatzansprüche geltend machen. Letzteres ermöglicht die EU-weite Erhebung von Verbandsklagen im Bereich Produkthaftung.

Auf der Seite der Schädiger können neben dem Hersteller des Produkts auch der Hersteller einer fehlerhaften Komponente haften, so dass Geschädigte im Falle eines Schadens durch eine solche fehlerhafte Komponente Schadensersatz von beiden verlangen können. Mehrere Unternehmen haften hierbei gesamtschuldnerisch.

Wenn der Hersteller außerhalb der EU ansässig ist, können auch der Importeur, der Bevollmächtigte oder der Fulfilment-Dienstleister haftbar gemacht werden. Falls der Hersteller nicht identifiziert werden kann, kann unter bestimmten Umständen jeder Lieferant des Produkts haftbar gemacht werden. Sogar Online-Plattformen können bei fehlender Ermittelbarkeit des Schädigers zur Haftung herangezogen werden. Darüber hinaus haftet auch eine Person, die ein Produkt wesentlich verändert und erneut auf den Markt bringt.

Ein erweiterter Schadensbegriff umfasst nun auch die Vernichtung oder Verfälschung von Daten, die nicht für berufliche Zwecke genutzt werden.

Die Ausschlussfrist für Schadensersatzansprüche der Geschädigten beträgt zehn Jahre. Diese wird auf 25 Jahre verlängert, wenn eine geschädigte Person aufgrund der Latenzzeit einer Körperverletzung nicht in der Lage war, innerhalb von zehn Jahren ein Verfahren einzuleiten.

5. Gerichtliche Durchsetzung – Offenlegung von Beweismitteln

Eine wichtige Neuerung betrifft die Offenlegungspflicht von Beweismitteln im Gerichtsverfahren. Hat der Kläger die Plausibilität des Schadensersatzanspruchs dargelegt, kann der Beklagte gerichtlich verpflichtet werden, relevante Beweismittel offenzulegen. Kommt der Beklagte seiner Verpflichtung zur Offenlegung von relevanten Beweismitteln nicht nach, greift eine Vermutungsregelung zugunsten des Klägers hinsichtlich der Fehlerhaftigkeit des Produkts und der Kausalität zwischen Produktfehler und Schaden. Diese Vermutungsregelung greift auch dann, wenn der Kläger nachgewiesen hat, dass das Produkt wahrscheinlich fehlerhaft war und/oder seine Fehlerhaftigkeit den Schaden wahrscheinlich verursacht hat.

Die Offenlegungspflicht ist auf das erforderliche und verhältnismäßige Maß beschränkt, wobei die Interessen der Parteien und Dritter berücksichtigt werden. Hier wird in Zukunft im Rahmen der Verteidigung eine erheblicher Schwerpunkt zu setzen sein. Zudem müssen Unternehmen zukünftig sorgfältig abwägen, welche Informationen sie speichern und welche nicht. Hier besteht ein Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit den rechtlichen Anforderungen im Falle von behördlichen Maßnahmen aus dem Produktrecht gerecht zu werden, und der Minimierung von Risiken im Falle eines Auskunftsverlangens, die mit einer übermäßigen Speicherung von Informationen verbunden sein können. Vertrauliche Informationen und Geschäftsgeheimnisse können vom nationalen Gericht durch entsprechende Maßnahmen geschützt werden. Gerichte können ferner aufgrund der Komplexität bestimmter Beweismittel verlangen, dass diese in einer leicht zugänglichen und verständlichen Weise vorgelegt werden.

Diese Regelung, die an das „discovery and disclosure“-Prinzip des Common Law erinnert, ist im deutschen Zivilprozessrecht bisher nicht bekannt. Es bleibt abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber dies umsetzt, etwa durch Änderungen in der Zivilprozessordnung oder im Produkthaftungsgesetz.

6. Beweiserleichterungen

Grundsätzlich bleibt der Geschädigte beweispflichtig für die Fehlerhaftigkeit des Produkts, den entstandenen Schaden und die Kausalität. Die Fehlerhaftigkeit wird jedoch vermutet, wenn:

  • Der Beklagte seiner Offenlegungspflicht gem. Art. 9 Abs. 1 nicht nachkommt,
  • der Kläger nachweist, dass das Produkt verbindlichen Anforderungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts an die Produktsicherheit nicht entspricht, die vor dem Risiko der Schädigung schützen sollen, die die geschädigte Person erlitten hat, oder
  • der Kläger nachweist, dass der Schaden durch eine offensichtliche Funktionsstörung des Produkts bei vernünftigerweise vorhersehbarem Gebrauch oder unter gewöhnlichen Umständen verursacht wurde.

Auch der Kausalzusammenhang zwischen Produktfehler und Schaden wird vermutet, wenn die Fehlerhaftigkeit des Produkts festgestellt wurde und der Schaden seiner Art typischerweise auf den betreffenden Fehler zurückzuführen ist. Zusätzlich gilt die Vermutung, wenn der Kläger trotz Offenlegung Beweisschwierigkeiten hat, etwa aufgrund technischer oder wissenschaftlicher Komplexität, und nachweisen kann, dass es wahrscheinlich ist, dass das Produkt fehlerhaft ist und/oder dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Fehlerhaftigkeit des Produkts und dem Schaden besteht. Daraus folgt für die Verteidigung, dass die klare und nachvollziehbare Darstellung technisch/rechtlicher Sachverhalte ganz entscheidend sein wird.

7. Haftungsbeschränkungen

Die neue Richtlinie verbietet Haftungsbeschränkungen oder -ausschlüsse durch vertragliche Vereinbarungen oder nationale Gesetze. Dadurch entfallen Selbstbehalte von 500 Euro bei Sachschäden und Haftungshöchstgrenzen von 85 Millionen Euro bei Personenschäden. Eine Fehlerhaftigkeit des Produkts, die bei Inverkehrbringen nicht erkennbar war, entlastet den Hersteller künftig nicht mehr, wenn diese durch ein Software-Update hätte behoben werden können.

8. Fazit

Die neue Produkthaftungsrichtlinie bringt zahlreiche neue Pflichten und Verschärfungen für die Industrie mit sich und schafft mehr Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen. Durch diese könnte die Akzeptanz und das Vertrauen in neue Technologien, wie etwa KI, gestärkt werden. Das Schutzniveau für Verbraucher und natürliche Personen wird durch die neuen Regelungen deutlich erhöht, wobei ein fairer Ausgleich zwischen den Interessen der Geschädigten und der Produkthersteller gewahrt werden soll. Gleichwohl gehen mit der neuen Richtlinie deutliche Belastungen für die Unternehmen einher. Die Anforderungen an Offenlegungspflichten erfordern eine klare Strategie im Umgang mit Unternehmensinformationen. Entscheidend ist eine gezielte Abwägung zwischen der Erfüllung gesetzlicher Vorgaben und dem Schutz sensibler Daten. Ein vorausschauendes Informationsmanagement und Führung der Produktakte minimiert Risiken und ermöglicht eine rechtssichere Positionierung im Spannungsfeld zwischen Offenlegung und Vertraulichkeit. Die verwendeten Rechtsbegriffe lassen darüber hinaus einen erheblichen Interpretationsspielraum zu. Die verschuldensunabhängige Haftung bleibt ein wirksames Instrument, das durch die Neuregelungen erheblich ausgeweitet wird.

Autor/in
Dr. Kuuya Josef Chibanguza, LL.B.

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Partner
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Maike Böttcher

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