15.07.2021
Der IX. Zivilsenat hat mit Urteil vom 6. Mai 2021 (BGH Urt. v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, BeckRS 2021, 16902, beck-online) seine Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung gemäß § 133 InsO geändert und ausdrücklich erklärt, dass die bisherige Rechtsprechung einer neuen Ausrichtung bedürfe. In einer überraschenden Klarheit wird der bisherige Bruch in der Systematik der Anfechtungstatbestände anerkannt. Dieses Urteil ist nicht nur ein langersehnter Segen für Rechtsdogmatiker. Vielmehr wird damit ein teilweise neuer Prüfungsrahmen vorgegeben, der mehr Verhandlungsspielraum eröffnet.
Mit der Insolvenzanfechtung werden Vermögensverschiebungen aller Art – auch berechtigte Zahlungen eines Schuldners an einen Gläubiger – rückgängig gemacht. Damit soll im Grundsatz ein Interessenkonflikt aufgelöst werden. Auf der einen Seite stehen die Interessen aller Insolvenzgläubiger, die eine Massemehrung mit dem Ziel einer höheren Insolvenzquote wünschen. Auf der anderen Seite steht der Anfechtungsgegner, der einen bereits erlangten Vermögensvorteil (z. B. eine Zahlung) behalten möchte. Dieser Interessenkonflikt ist in der Praxis nur sehr unbefriedigend lösbar. Zwar enthalten die Anfechtungsvoraussetzungen der §§ 129 ff InsO den gesetzlichen Rahmen für die Lösung des Interessenkonflikts. In den meisten Fällen wird aber die hierzu ergangene Indizienrechtsprechung des BGH nur schematisch angewendet und dies führt zu nicht sachgerechten Ergebnissen.
Sogar die Reformbemühungen des Gesetzgebers, die zu einer Gesetzesänderung seit dem 1. April 2017 führten, sorgten nur sehr eingeschränkt für eine Verbesserung. Dies vor allem deshalb, weil der Gesetzgeber die Systematik der Anfechtungstatbestände bei der Änderung außer Acht gelassen hat und mit einer zurückhaltenden „punktuellen Neujustierung“ die praktische Anwendung von § 133 InsO (Vorsatzanfechtung) sogar noch erschwert hat.
Der IX. Zivilsenat des BGH hat nun deutlich klargestellt, welcher Prüfungsrahmen künftig anzuwenden ist.
Die Zahlungsunfähigkeitsprüfung und die Kenntnis des Anfechtungsgegners von Indizien, die auf eine Zahlungsunfähigkeit des Schuldners schließen lassen, galten in der bisherigen Praxis als Dreh- und Angelpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Vorsatzanfechtung. Doch dies allein genügt zukünftig nicht mehr.
Für die Feststellung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatz bei kongruenten Deckungshandlungen des Schuldners (z. B. Zahlungen nach Warenlieferungen) im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit ist es zusätzlich erforderlich, dass der Schuldner im Zeitpunkt der Handlung wusste oder zumindest billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger „auch künftig“ nicht vollständig befriedigen zu können. Damit wird der Bezugspunkt für die Beurteilung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes in zeitlicher Hinsicht erweitert. Dies ermöglicht den Gerichten wiederum eine die Interessen ausgleichendere Rechtsprechung, weil im Zeitpunkt der Handlung erwartbare künftige Geschäftsentwicklungen eine stärkere Rolle in der Prüfung einnehmen. Außerdem soll „das Ausmaß der gegenwärtigen Zahlungsunfähigkeit“ eine stärkere Rolle bei der Prüfung einnehmen. Erst wenn die Zahlungsunfähigkeit ein Ausmaß angenommen hat, die eine vollständige Befriedigung der übrigen Gläubiger auch in Zukunft nicht erwarten lässt, etwa deshalb, weil ein Insolvenzverfahren unausweichlich erscheint, liegt die Annahme eine Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes nahe. Entsprechendes gilt für die Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners, was der Senat im dritten amtlichen Leitsatz seiner Entscheidung klar gestellt hat.
Zudem hat der Senat erklärt, dass auf eine im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung nur drohende Zahlungsunfähigkeit der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners in der Regel nicht gestützt werden kann. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, zum Beispiel wenn in sicherer Erwartung des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit eine gezielte Befriedigung bestimmter, dem Schuldner nahestehender Gläubiger außerhalb des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs erfolgt. Wir erleben in der Praxis auch heute noch – nach der Reform im Jahr 2017 – dass Insolvenzanfechtungen (außergerichtlich) gegenüber einem Zahlungsempfänger (Anfechtungsgegner) lediglich mit der Begründung erklärt werden, dass aus vergleichsweise geringem widerkehrenden Zahlungsverzug die Kenntnis des Anfechtungsgegner von einer „Krise des Schuldners“ folge. Hier müssen die Insolvenzverwalter bzw. ihre Parteivertreter künftig früher in der Korrespondenz „Farbe bekennen“. Die Kenntnis „einer Krise“ genügt in aller Regel nicht, wobei dies nach der Gesetzesänderung in 2017 für kongruente Deckungshandlungen eigentlich schon klar sein müsste. Neu ist allerdings, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit (die in der Praxis nur „der Notnagel“ zur Anspruchsbegründung ist, wenn der Nachweis der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit nicht gelingt) wohl auch bei inkongruenten Deckungen nicht mehr allein ausreichen soll. In diesen Fällen ist es künftig erforderlich, dass „in der sicheren Erwartung des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit mit den vorhandenen Mitteln gezielt bestimmte (womöglich nahestehende) Altgläubiger außerhalb des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs befriedigt werden“. Wenn man diese Anforderung liest und gleichzeitig die Rechtsprechungsgeschichte zu § 133 InsO im Blick hat, stellt sich unweigerlich die Frage, ob darin nicht die Anforderung einer Art „unlauteren“ Handeln des Schuldners liegen könnte. Das gesetzgeberische Verständnis zum Unlauterkeitsbegriff in § 142 InsO lässt eine gewisse Ähnlichkeit der Voraussetzungen erkennen, auch wenn der IX. Zivilsenat offenbar den Begriff „unlauter“ nicht wiedereinführen wollte.
Nach wie vor gilt, dass eine Erklärung des Schuldners, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können, ein erhebliches Gewicht bei Prüfung der Zahlungseinstellung und der Kenntnis des Anfechtungsgegners zukommt. Die Tatsache, dass manche Schuldner diese Behauptung zum Teil als Verhandlungsinstrument nutzen und eigentlich „nur“ zahlungsunwillig sind, findet bei der anfechtungsrechtlichen Prüfung weiterhin kaum Gehör. In diesen Fällen müssen die Zahlungsempfänger auch künftig (bis zu vier Jahre nach Eingang der Zahlung) mit einer Vorsatzanfechtung rechnen, selbst wenn sie einen berechtigten (kongruenten) Anspruch auf die Zahlung hatten (z. B. weil sie Ware geliefert haben). In diesen Fällen ist eine Zahlungsabwicklung nach Maßgabe eines Bargeschäfts gemäß § 142 InsO umso wichtiger.
Mit dem letzten (sechsten) amtlichen Leitsatz macht der Senat deutlich, dass die zu einem bestimmten Stichtag einmal festgestellte Zahlungsunfähigkeit nicht mehr unumstößlich sein soll. Zwar wird weiterhin an der Rechtsprechung festgehalten, wonach die Fortdauer der einmal eingetretenen Zahlungseinstellung zu vermuten ist. Allerdings soll der Fokus in der Prüfung stärker auf dem Ausmaß der festgestellten Zahlungsunfähigkeit liegen, insbesondere wenn es um die Kenntnisse des Anfechtungsgegners geht. Mit der Entscheidung, dass „Stärke und Dauer der Vermutungswirkung“ von dem Ausmaß der festgestellten Zahlungseinstellung abhängen, eröffnet sich neuer Spielraum für die tatrichterliche Würdigung der vorhandenen Indizien. Diesen gilt es zu nutzen.
Erhöht das Urteil die Rechtssicherheit? Nein.
Eröffnet das Urteil mehr Verhandlungsspielraum für einzelfallgerechtere Ergebnisse? Ja.
Mit dem Urteil stellt der IX. Zivilsenat des BGH die Weichen für die künftige Anwendbarkeit der Vorsatzanfechtung. Damit gibt er einen Leitfaden für die tatrichterliche Würdigung gemäß § 286 ZPO an die Hand. Es bleibt zu hoffen, dass die Instanzgerichte ihren Spielraum in Form der Gewichtung der vorhandenen Indizien „mutig“ nutzen, um für sachgerechte Entscheidungen zu sorgen. Gleiches gilt für alle Parteivertreter, die durch eine sachgerechte Prüfung und ggf. durch vernünftige Vergleichsabschlüsse die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigen können. Dabei dürfte es auch eine Rolle spielen, dass die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Umstände, die über die erkannte Zahlungsunfähigkeit hinaus erforderlich sind, beim Insolvenzverwalter liegt. Schließlich entscheidet in der Praxis die Darlegungs- und Beweislast darüber, ob ein Prozess gewonnen oder verloren wird.
Christiane Kühn, LL.M. (Hong Kong)
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