22.06.2020

Restrukturierung nach Corona mit Vor-Corona-Regelungen?

Hintergrund

Die Corona-Krise kam zweifellos überraschend. Insbesondere in der Automobilindustrie herrschte aber auch vorher nicht überall eitel Sonnenschein. Trends wie Elektromobilität, Digitalisierung und als Teil dessen autonomes Fahren zwangen auch vor Corona zu Veränderungen bei den Automobilherstellern und ihren Zulieferern.

Einzelne Unternehmen traf und trifft die Corona-Krise daher inmitten einer Restrukturierung. Die erste Zeit von Corona konnte oft durch Kurzarbeit überbrückt werden. Aber was kommt danach, wenn die Restrukturierung restrukturiert werden muss?

Der Rahmen

Wenige Fragen stellen sich in Betrieben ohne Betriebsrat. Die Unternehmen können – arbeitsrechtlich betrachtet – leicht umplanen, soweit sie nicht bereits Änderungen mit den einzelnen Arbeitnehmern vertraglich fixiert haben.

Spannender wird das Umsteuern in Betrieben mit Betriebsrat. Das gilt insbesondere, wenn vor Corona mit dem Betriebsrat bereits Vereinbarungen über die Restrukturierungen geschlossen wurden. Namentlich werden dies Interessenausgleiche, Sozialpläne und begleitende Betriebsvereinbarungen sein.

Mögliche Maßnahmen

Passen Vereinbarungen über eine Restrukturierung infolge der Auswirkungen der Corona-Krise nicht mehr, so sind Änderungen zu erwägen. Ein geschlossener Interessenausgleich folgt anderen Regeln als ein Sozialplan oder andere Betriebsvereinbarungen.

In einem Interessenausgleich wird die Ausgestaltung einer Maßnahme, insbesondere einer Restrukturierung, vereinbart: Welche Bereiche sind betroffen? Was soll wie geändert werden? Die Folge eines Interessenausgleichs ist, dass der Arbeitgeber an dessen Leitlinien gebunden ist, wenn er umstrukturiert. Weicht er von dem Interessenausgleich ab und strukturiert anders um, entstehen den betroffenen Arbeitnehmern Schadensersatzansprüche in Form des sogenannten Nachteilsausgleichs. Der Arbeitgeber ist aber nicht verpflichtet, eine im Interessenausgleich vereinbarte Maßnahme umzusetzen. Er kann die Umstrukturierung also ohne Weiteres stoppen. Eine Kündigung des Interessenausgleichs ist nicht erforderlich. Natürlich muss er in neue Verhandlungen mit dem Betriebsrat über eine vom ursprünglichen Plan abweichende Maßnahme eintreten. Er darf mit deren Umsetzung erst beginnen, wenn ein neuer Interessenausgleich vereinbart wurde oder aber die Verhandlungen hierüber in der Einigungsstelle (endgültig) gescheitert sind.

In Sozialplänen werden hingegen Ansprüche der von der (Umstrukturierungs-) Maßnahme betroffenen Arbeitnehmer zur Milderung der Folgen geregelt. Sozialpläne teilen im Wesentlichen die Natur von Betriebsvereinbarungen. Auch heute noch ist das Kernstück der meisten Sozialpläne eine Abfindungsregelung im Falle von Trennungen. Regelmäßig knüpfen Abfindungsansprüche nicht nur an arbeitgeberseitige Kündigungen an, sondern entstehen auch, wenn Arbeitnehmer im Laufe der Maßnahme von sich aus gehen wollen. Sie können also auch noch entstehen, wenn der Arbeitgeber sich mit dem Gedanken trägt, von einer vor Corona verabredeten Maßnahme abzulassen – etwa, weil die Dotierung des Sozialplanes für ihn nicht mehr tragbar erscheint. Es kann zum Wettlauf abwanderungswilliger Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber kommen. Noch komplexer kann die Rechtslage werden, wenn eine sogenannte Transfer- oder Beschäftigungsgesellschaft vereinbart ist, deren Rahmenbedingungen seit Corona nicht mehr passen.

Von einem Sozialplan kann der Arbeitgeber nicht so leicht ablassen wie von einem Interessenausgleich. Meist richtet sich der Blick zunächst auf eine Kündigung des Sozialplanes. Eine ordentliche Kündigung des Sozialplanes ist allerdings zuweilen ausgeschlossen. Die außerordentliche Kündigung kann zwar nicht ausgeschlossen werden, die Anforderungen der Rechtsprechung an eine solche Kündigung aus wichtigem Grund sind aber sehr hoch. Zudem geht die Rechtsprechung mit Sozialplanansprüchen im Falle von Kündigungen des Sozialplanes restriktiv um: Selbst eine außerordentliche Kündigung kann einmal entstandene Sozialplanansprüche nach Ansicht der Rechtsprechung nicht beseitigen. Außerdem soll selbst eine außerordentliche Kündigung nicht zu einem sofortigen Entfall des Sozialplanes führen: Er soll vielmehr nachwirken, bis er durch eine andere Abmachung – sei es mit dem Betriebsrat, sei es mit einzelnen Arbeitnehmern – ersetzt wird. Zumindest die zweite Variante dürfte sehr theoretisch sein: Wenn ein Arbeitnehmer mit Abfindung das Unternehmen verlassen will, wird er kaum vertraglich seine Abfindung schmälern. Einigt sich der Arbeitgeber hingegen mit dem Betriebsrat auf eine Änderung des gekündigten Sozialplanes, so soll eine solche neue Vereinbarung nicht in Ansprüche eingreifen können, die bis dato entstanden sind. Nur das Entstehen künftiger Ansprüche soll neu geregelt werden können.

Es existiert allerdings noch ein weiteres Instrument: Das allgemeine Zivilrecht kennt das Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Wenn sich die Umstände ändern, die beide Vertragspartner einem Rechtsgeschäft zugrunde gelegt haben, ist das Rechtsgeschäft auf Verlangen einer Seite anzupassen oder kann aufgehoben werden (§ 313 Absätze 1, 3 BGB). Diese Regel gilt auch für Betriebsvereinbarungen und Sozialpläne. Beides sind nicht nur für die Arbeitnehmer und den Arbeitgeber geltende „Gesetze im Betrieb“, sondern eben auch Verträge zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat. Im Grundsatz ist das anerkannt. Allerdings ist erstaunlich wenig Rechtsprechung zu den damit zusammenhängenden Fragen veröffentlicht. Dies mag Indiz sein, dass die Regeln selten Anwendung finden. Vielleicht einigen sich Arbeitgeber und Betriebsrat bei gravierenden Änderungen der Umstände auch öfter. Die Corona-Krise kann zu einer solchen Änderung oder dem Wegfall der Geschäftsgrundlage führen.

Aus Sicht der Rechtsprechung folgt auch aus einem Wegfall oder einer Änderung der Geschäftsgrundlage von Sozialplänen und Betriebsvereinbarungen nicht, dass die Regelung automatisch wegfällt. Vielmehr entsteht primär der Anspruch einer Seite, mit der anderen über die Anpassung der Vereinbarung zu verhandeln. Einigen sich Arbeitgeber und Betriebsrat nicht, dann kann die Einigungsstelle angerufen werden. Nur wenn eine Änderung nicht möglich oder einer Seite nicht zumutbar ist, kann die Regelung vollständig beseitigt werden.

Auch die weiteren Folgen eines Wegfalls oder einer Änderung der Geschäftsgrundlage sieht die Rechtsprechung grundlegend anders als diejenigen einer Kündigung: Solange der Sozialplan nicht geändert ist, können zwar neue Ansprüche aus dem Sozialplan entstehen. Die Arbeitnehmer sind jedoch prozessual gehindert, solche Ansprüche gerichtlich durchzusetzen: Sollten sie klagen, wird das Arbeitsgericht das Verfahren bis zu dem Ende der Neuverhandlung über den Sozialplan aussetzen. Anders als im Falle einer außerordentlichen Kündigung gestattet die Rechtsprechung den Betriebsparteien zudem grundsätzlich, mit einer Neuregelung auch in bereits entstandene Ansprüche von Arbeitnehmern einzugreifen.

Zusammenfassung

Trifft Corona auf zuvor vereinbarte, aber nicht mehr passende Sozialpläne oder Betriebsvereinbarungen, dann kann sich lohnen, ungewohnte Wege zu gehen: Statt einer Kündigung der Vereinbarungen sollte eine Neuverhandlung auf Basis des Wegfalls der Geschäftsgrundlage erwogen werden. Für den Interessenausgleich bedarf es dieses Rechtsinstituts nicht: Der Arbeitgeber kann ohne besondere Gründe und Voraussetzungen von der im ursprünglichen Interessenausgleich vereinbarten Maßnahme ablassen und von dem Betriebsrat die Verhandlung über einen neuen Interessenausgleich verlangen. Zeit kosten alle diese Schritte, das ist leider kein Novum in Deutschland.

Autor/in
Dietmar Heise

Dietmar Heise
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