31.03.2017
20.11.2017
„Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ – dieser Quintessenz des FDP-Parteivorsitzenden Christian Lindner können wohl dem Grunde nach alle beteiligten Parteien zustimmen, nachdem am frühen Montagmorgen die Sondierungsgespräche zu einer sog. „Jamaika“-Koalition gescheitert sind. Welche Konsequenzen aber sieht das Grundgesetz für diesen Fall vor?
Zunächst einmal: keine. Das Grundgesetz enthält keine Bestimmungen, die sich mit Koalitionsverhandlungen oder hierauf bezogenen Sondierungen auseinandersetzen. Es verfolgt stattdessen in den Artikeln 63-69 die Bildung einer stabilen Regierung und betont in Art. 21 Abs. 1 GG die Bedeutung der Parteien für die repräsentative parlamentarische Demokratie. Insofern bestätigt sich die Aussage des früheren Bundesverfassungsgerichts- und Bundespräsidenten Herzog, dass „das GG das Instrument der Koalition und die mit ihm notwendig verbundenen Phänomene gewissermaßen ‚billigend zur Kenntnis nimmt‘.“
Stufe 1: der erste Wahlgang
Verfassungsrechtlich sind die politischen Prozesse der letzten Wochen seit der Bundestagswahl damit praktisch ohne Bedeutung. Es bleibt dabei, dass der Bundestag nun nach Art. 63 Abs. 1 GG auf Vorschlag des Bundespräsidenten den Bundeskanzler wählt. Der Bundespräsident wird dem Bundestag dazu binnen angemessener Frist seinen Vorschlag unterbreiten. Die konkret nur geringe Wahrscheinlichkeit, dass der Vorgeschlagene gem. Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt, bleibt dabei verfassungsrechtlich unberücksichtigt. Der erste Wahlgang ist somit unabhängig von seiner voraussichtlichen Erfolgslosigkeit durchzuführen.
Stufe 2: das vierzehntägige „parlamentarische Zwischenverfahren“
Nachdem der vom Bundespräsidenten Vorgeschlagene nicht gewählt wurde, kann der Bundestag nach Art. 63 Abs. 3 GG binnen vierzehn Tagen nach dem ersten Wahlgang mit den Stimmen der Mehrheit seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen. Im Vergleich zum ersten Wahlgang nach Art. 63 Abs. 1 GG besteht die zweite Stufe dabei nicht aus einem isolierten Wahlgang, sondern aus einem sehr viel offeneren Verfahren. Es gibt dabei keine Bindung mehr an den Vorschlag des Bundespräsidenten, sodass auch ein Wettbewerb mehrerer Kandidaten möglich ist. Ferner ist auch die Anzahl der Wahlgänge nicht reglementiert. Denkbar ist daher auch, dass bei unveränderten politischen Standpunkten überhaupt keine weitere Abstimmung abgehalten wird.
Da es sich dabei um ein vierzehntagedauerndes „parlamentarisches Zwischenverfahren“ und nicht um eine bloße Frist zum Abwarten des nächsten Verfahrensschrittes handelt, scheidet eine zeitliche Verkürzung an dieser Stelle aus. Vielmehr ist dieser Zeitraum als verfassungsrechtliche Gewährleistung zu sehen, dass die alleinige Verantwortung zur Wahl des Bundeskanzlers beim Parlament liegt.
Sollte innerhalb des vierzehntägigen Zeitraums doch ein Bewerber von der (absoluten) Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewählt werden, wäre er zwingend nach Art. 63 Abs. 2 S. 2 GG vom Bundespräsidenten zum Bundeskanzler zu ernennen.
Stufe 3: die Wahl des Minderheitskanzlers
Sofern aus dem vierzehntägigen „parlamentarischen Zwischenverfahren“ kein neuer Bundeskanzler hervorgeht, richtet sich das weitere Wahlverfahren automatisch nach Art. 63 Abs. 4 GG. Demnach findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, d.h. zeitnah i.S.v. „ohne schuldhaftes Zögern“. Hierbei ist gem. Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG derjenige zum Bundeskanzler gewählt, der die meisten Stimmen erhält (relative Mehrheit). Eine (absolute) „Kanzlermehrheit“ ist auf dieser dritten Stufe zwar weiterhin möglich, aber im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Stufen nicht mehr erforderlich. Sofern es keine(n) Kandidaten oder sogar keine Wahl gibt, kann die Durchführung des dritten Wahlgangs theoretisch auch entfallen. Im Normalfall endet das vom Grundgesetz vorgesehene Wahlverfahren im Bundestag aber damit, dass ein Kandidat zum neuen Bundeskanzler gewählt ist.
Eine verpflichtende Ernennung durch den Bundespräsidenten binnen sieben Tagen besteht jedoch gem. Art. 63 Abs. 4 S. 2 GG nur, wenn die Wahl mit der „Kanzlermehrheit“ erfolgt ist.
Andernfalls hat der Bundespräsident gem. Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG binnen sieben Tagen den mit relativer Mehrheit Gewählten zum Bundeskanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.
Sofern der Bundespräsident den Bundestag nicht innerhalb dieser siebentägigen Frist auflöst, verdichtet sich die verbliebene Möglichkeit der Ernennung zu der Pflicht, den mit relativer Mehrheit Gewählten qua Ernennung als Minderheitskanzler ins Amt zu berufen. Die Auflösung des Bundestages stellt im System des Grundgesetzes nämlich die absolute Ausnahme dar. Neuwahlen wären dann erst gem. Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG möglich, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages findet. In diesem Fall würde der Bundespräsident dann auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag binnen einundzwanzig Tagen auflösen.
Löst der Bundespräsident hingegen den Bundestag nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG als Alternative zur Ernennung des Minderheitskanzlers auf, findet die Neuwahl gem. Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG innerhalb von 60 Tagen statt.
Fazit:
Ungeachtet der politisch sensiblen Situation hat das Scheitern von Koalitionsverhandlungen bzw. vorherigen Sondierungen damit nach dem Grundgesetz keinen Einfluss auf die Wahl des Bundeskanzlers. Momentan bleibt daher zunächst abzuwarten, zu welchem Ergebnis das verfassungsmäßig vorgesehene Wahlverfahren nach Art. 63 GG führt. Sofern die Abstimmung über einen vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten bis zum Ende dieser Woche (26. November 2017) erfolgt, wird das gesamte Verfahren um den 20. Dezember 2017 herum abgeschlossen sein.
An dessen Ende wird dann der Bundespräsident entscheiden, ob er den Bundestag tatsächlich gem. Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG auflöst. Erst danach wird es die Gewissheit geben, ob auf den dann „kurzen“ 19. Deutschen Bundestag spätestens im Februar 2018 der 20. Deutsche Bundestag zu wählen ist. Die Entscheidung über Neuwahlen liegt damit aber nicht beim Parlament. Sie ist vielmehr allein vom Bundespräsidenten zu treffen. Bundespräsident Steinmeier kommt damit jetzt eine Rolle zu, die er mit Verantwortungsgefühl auszufüllen hat.
Die Verwendung der männlichen Form dient ausschließlich dem Lesefluss; sie erfasst alle Geschlechter.
Dr. Stefan Altenschmidt, LL.M. (Nottingham) |