02.10.2023
Die Bundesregierung hat am 16. August 2023 den vom Bundesjustizministerium vorgelegten Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof beschlossen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung entspricht dem Entwurf des Bundesministeriums der Finanzen. Durch die Einführung von Leitentscheidungen wird dem Bundesgerichtshof die Möglichkeit eröffnet, sich zu grundsätzlichen Rechtsfragen unabhängig von der Beendigung des Verfahrens durch die Parteien zu äußern.
Wie bereits in unserem Beitrag vom 17. Juli 2023 ausgeführt, stellen massenhafte, meist von Verbrauchern erhobene Einzelklagen zur gerichtlichen Geltendmachung ähnlicher Ansprüche eine große Belastung für die Zivilgerichte dar. Aktuelle Beispiele sind etwa die Diesel-Klagen, unwirksame Klauseln in Fitnessstudioverträgen oder in Versicherungs- und Bankverträgen. Die Beschreitung des Rechtswegs soll daher zum einen die Gerichte durch effiziente, zügige Entscheidungen entlasten, schneller Rechtssicherheit bei den Betroffenen sowie Rechtsanwendern schaffen und zum anderen den Verbraucher vor hohen Kosten bewahren.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Bundesgerichtshof (BGH) ein Verfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären kann, wenn in einem Massenverfahren Revision eingelegt wird. Über die grundsätzlichen Rechtsfragen kann der Bundesgerichtshof auch dann entscheiden, wenn sich das Verfahren durch einen Akt der Parteien erledigt hat. Die Leitentscheidung hat allerdings keinerlei Auswirkungen auf das einzelne Revisionsverfahren, daher bleibt es den Parteien nach wie vor unbenommen, das Verfahren etwa durch Rücknahme oder Vergleich zu beenden.
Die Leitentscheidung dient den Instanzgerichten dann als Orientierung zur Urteilsfindung in gleichgelagerten Sachverhalten mit gleichen Rechtsfragen. Die Instanzgerichte können anhängige Parallelverfahren ab Erklärung des Bundesgerichtshofs zum Leitentscheidungsverfahren bis zur Leitentscheidung im Einverständnis mit den Parteien aussetzen.
Der Ansatz der Bundesregierung geht in die richtige Richtung, zur Beschleunigung der Verfahren an den Gerichten beizutragen und dadurch Justiz und Verbraucher zu entlasten. Kritik an dem Gesetzentwurf besteht allerdings nach wie vor, denn der Entlastungseffekt hängt von weiteren Faktoren ab:
Zum einen ist relevant, in welcher Anzahl die Berufungsgerichte Revisionen oder der Bundesgerichtshof auf Nichtzulassungsbeschwerde hin Revisionen zulassen. Zum anderen hängt das Ausmaß der Entlastung davon ab, wie viele Parteien sich dazu entscheiden, sich im weiteren Verfahrensgang an den Bundesgerichtshof zu wenden. Der Referentenentwurf der Bundesregierung knüpft an den Gegenstand an, dass die Parteien beim Bundesgerichtshof anhängige Verfahren durch Vergleich oder Rücknahme der Revision verhindern können.
Dieses Problem wird durch die Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens allerdings nur partiell gelöst. Den Parteien bleibt es unbenommen, nach der zweiten Instanz zu entscheiden, sich nicht mittels Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde an den Bundesgerichtshof zu wenden. Die bis zur zweiten Instanz unterlegene Partei könnte in ihre Überlegungen einfließen lassen, dass durch Nichteinlegung der Revision beim Bundesgerichtshof zwar ein rechtskräftiges Urteil ergeht, gleichgelagerte Sachverhalte aber dennoch bei einer weiteren Einzelklage im Rahmen von Massenverfahren bei einem anderen Gericht anders entschieden werden können. Da in diesem Fall keine höchstrichterliche Entscheidung durch den Bundesgerichtshof vorliegt, gibt es keine klare Orientierung für die Justiz. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Massenverfahren nicht dadurch effektiver begegnet werden könnte, dass bereits die Instanzgerichte ein Verfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären können.
Ferner haben die Parteien nicht mehr die umfassende Verfügungsmacht über ein Verfahren, das der Bundesgerichtshof zu einem Leitentscheidungsverfahren erklärt hat. Die Parteien können eine Leitentscheidung zu dieser Rechtsfrage nicht mehr verhindern. Dies widerspricht dem in der Zivilprozessordnung verankerten Dispositionsgrundsatz. Der Dispositionsgrundsatz beinhaltet das Recht der Parteien, über den Rechtsstreit als Ganzes zu verfügen. Dies umfasst insbesondere auch das Recht, den Rechtsstreit vorzeitig, also ohne Urteil, zu beenden. Das Gegenteil vom Dispositionsgrundsatz ist die im Strafprozessrecht geltende Offizialmaxime: Danach ist der Staat Herr des Verfahrens. Eine solche Leitung des Rechtsstreits ist dem Zivilprozess bislang allerdings fremd.
Das Leitentscheidungsverfahren stellt damit neben der Musterfeststellungsklage, dem Kapitalanleger-Musterverfahren und der beabsichtigten Einführung der Abhilfeklage eine weitere Möglichkeit der zivilprozessualen Verfahrensgestaltung im Rahmen von Massenverfahren dar. Diese Mittel der kollektiven Rechtsverfolgung in Verbraucherstreitsachen eint das Ziel, die Rechtsdurchsetzung für Staat und Verbraucher effizienter und kostensparender auszugestalten. Die Musterfeststellungsklage etwa wurde in Verbraucherstreitsachen eingeführt, um bei Massenschäden durch eine Bündelung von Ansprüchen die Voraussetzungen für das Bestehen von Ansprüchen festzustellen und die zentralen Rechtsfragen vorab in einem Verfahren mit Wirkung für alle Geschädigten zu klären.
Der Bundesrat wird sich voraussichtlich Ende September 2023 mit dem Regierungsentwurf befassen.
Dr. Christoph von Burgsdorff, LL.M. (Essex)
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