10.08.2018
Kartellanten und Schadensersatzkläger aus Kartellen, die vor der 7. GWB-Novelle begannen („Altfälle“), werden hier gleichermaßen aufhorchen: Mit seiner Entscheidung vom 12. Juni 2018 stärkt der BGH in Fällen, bei denen der Kartellschaden vor der 7. GWB-Novelle entstanden ist, die Rechte der Klägerseite, indem er verschiedene erst mit der Novelle eingeführte Verfahrensneuregelungen unter bestimmten Voraussetzungen auch auf Altfälle für anwendbar erklärt. Das betrifft insbesondere die besonders umstrittene verjährungshemmende Wirkung kartellbehördlicher Untersuchungen (§ 33 Abs. 5 GWB 2005), bei der die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung bisher uneinheitlich war.
Hiernach haben Kläger auch in Altfällen die Möglichkeit bei im Juli 2005 noch nicht verjährten Ansprüchen, den Ausgang des behördlichen Verfahrens abzuwarten, weil dieses den Lauf der Verjährungsfrist hemmt und die Verjährung frühestens 6 Monate nach Verfahrensbeendigung eintritt. Im zu entscheidenden Zementkartellfall hing es von der Anwendung genau dieser Norm ab, ob der Kläger mit seiner im Frühjahr 2015 (!) eingereichten Klage noch Schäden, die zwischen 1993 und 2002 entstanden waren, geltend machen kann. Ob Süßwaren- oder LKW-Kartell – der Rechtsverfolgung von Ansprüchen aus weit zurückliegenden Zeiträumen dürfte so wieder neues Leben eingehaucht werden. Der BGH schafft mit diesem Urteil endlich eine klare Rechtslage für die Verjährung von Altfällen und entscheidet eine von Rechtsprechung und Literatur bisher heiß diskutierte Frage.
Der BGH äußert sich in dieser Entscheidung des Weiteren zur Bindungswirkung einer Kartellentscheidung für das Schadenersatzverfahren. Diese greift in Altfällen dann ein, wenn ein derartiges kartellbehördliches Verfahren zwar vor Juli 2005 eingeleitet aber erst danach abgeschlossen wurde (§ 33 Abs. 4 GWB 2005). Darüber hinaus urteilt der BGH, dass der Kartellschaden nach allgemeinem Deliktsrecht mit 4% jährlich zu verzinsen ist und bekräftigt verschiedene Vermutung zur Entstehung eines Schadens in Kartellschadensersatzfällen.
Die Klägerin handelt mit Baustoffen und vertreibt von ihr hergestellte Bauelemente. In den Jahren 1993 bis 2002 bezog sie bei der Beklagten Zement für insgesamt rund 10,67 Mio. Euro. Das Bundeskartellamt erließ im April 2003 gegen die Beklagte und weitere Beteiligte u.a. wegen kartellrechtswidriger Quotenabsprachen auf dem Markt für Grauzement bis Anfang 2002 Bußgeldbescheide. Auf die Einsprüche der Kartellanten setzte das OLG Düsseldorf (Urteil vom 26. Juni 2009) Bußgelder gegen die Kartellanten fest. Die Bußgeldverfahren fanden schließlich mit Rechtskraft der sich anschließenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 26. Februar 2013, Az. KRB 20/12, BGHSt 58, 158) ihren Abschluss – d.h. erst mehr als 10 Jahre nach Beendigung des Kartells.
Die Klägerin begehrte nun mit im Februar 2015 beim LG Mannheim erhobener Klage die Feststellung einer Pflicht der Beklagten zur Zahlung von Kartellschadensersatz für Einkäufe im Zeitraum 1993 - 2002. Der BGH hielt die Klage ganz überwiegend für begründet – und zwar mit im Kern folgenden Argumenten:
Die Verjährung des Kartellschadensersatzes beginnt erst mit dem Schluss des Jahres zu laufen, in dem der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen musste. Obwohl der Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts (nebst Pressemitteilung) aus April 2003 stammte, nahm der BGH an, dass die Verjährung noch nicht mit Ablauf des Jahres 2003 zu laufen begonnen hatte. Denn die Klägerin habe nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts nicht mehr im Jahre 2003 Akteneinsicht erlangen können – bzw. sei ihr jedenfalls ein Prüfungszeitraum bis zumindest Anfang 2004 zuzubilligen gewesen. Daher habe die Verjährung nicht vor dem Jahresende 2004 zu laufen begonnen. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der 7. GWB-Novelle im Juli 2005 sei die Verjährung zweifelsohne noch nicht abgelaufen gewesen.
Sodann stellt der BGH fest, dass (entgegen Ansicht des OLG Karlsruhe) das zu diesem Zeitpunkt bereits laufende – und wegen der Einsprüche noch nicht rechtskräftig abgeschlossene – Bußgeldverfahren die Verjährung der Ansprüche gem. § 33 Abs. 5 GWB 2005 hemmte, obwohl dieser erst im Juli 2005 in Kraft getreten sei.
Der BGH begründet diese Entscheidung wie folgt: Der Gesetzgeber habe für die zeitliche Anwendbarkeit der Norm keine ausdrückliche Übergangsregelung für vor dem Inkrafttreten des § 33 Abs. 5 GWB 2005 entstandene Ansprüche getroffen. Es sei daher der allgemeine Rechtsgedanke des intertemporalen Privatrechts anzuwenden, wonach das neue Gesetz auf die bereits entstandenen, bei Inkrafttreten des Gesetzes noch nicht verjährten Ansprüche Anwendung finde. Beginn sowie Hemmung und Unterbrechung der Verjährung im Zeitraum bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes bestimmten sich aber nach den bisherigen Regelungen. Nur wenn eine grundlegende sachliche Änderung der betroffenen Ansprüche mit der Änderung der Vorschriften einhergehe oder der Gesetzgeber hinsichtlich der zeitlichen Anwendung eine abweichende Regelung getroffen habe, könne hiervon abgewichen werden. Einen solchen Fall nahm der BGH für die 7. GWB-Novelle jedoch nicht an. Denn die sachlichen Änderungen hätten lediglich darauf gezielt, den Kreis der Schutzberechtigten zu erweitern, die Passing-On-Defence zu erschweren und die Schadensschätzung zu erleichtern. Außerdem hätten sie darauf gezielt, die Rechtsdurchsetzung durch eine Bindungswirkung der Entscheidung im Bußgeldverfahren zu erleichtern und dem Geschädigten höhere Zinsen zuzusprechen. Darin seien keine grundlegenden Änderungen zu sehen.
Auch der Wortlaut der Norm, der auf „Ansprüche aus § 33 Abs. 3 GWB“ abstellte (welcher in dieser Form vor der GWB-Novelle nicht existiert hatte), stelle keine anderslautende Regelung dar. Denn er könne ohne Zwang so verstanden werden, dass die Neuregelung auf alle Ansprüche Anwendung finden solle und nicht nur auf solche, die sich auf den mit Einführung der 7. GWB-Novelle anwendbaren § 33 Abs. 3 GWB 2005 stützen könnten. Schließlich verweise der § 33 Abs. 3 GWB 2005 auf den § 33 Abs. 1 GWB 2005. Auch spreche die gesetzgeberische Intention, die Durchsetzung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche zu sichern, ebenfalls dafür, den § 33 Abs. 5 GWB 2005 auf Altfälle anzuwenden.
Bestätigt sah der BGH diese Auslegung durch die Neuerungen der 9. GWB-Novelle, bei der der Gesetzgeber die Frage der Anwendung der neuen Verjährungsregel auf Altfälle vor der Novelle (§ 33h GWB 2017) in § 186 Abs. 3 S. 2 GWB 2017 ausdrücklich (und entsprechend der allgemeinen Regelungen) klärte. Der Gesetzgeber habe dieser Fassung lediglich klarstellende Wirkung beigemessen und einen Gleichklang mit der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf zur Anwendbarkeit des § 33 Abs. 5 GWB 2005 erzielen wollen. Nicht aber sei aus dem Umstand, dass es für die 9. GWB-Novelle eine ausdrückliche Regelung gebe, für die 7. aber nicht, der Schluss zu ziehen, dass der Gesetzgeber eine entgegengesetzte Übergangsregelung habe treffen wollen.
Zur im Rahmen der Feststellungsklage erheblichen Frage einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Schadensentstehung bestätigt der BGH das Urteil des Oberlandesgerichts, welches diesbezüglich verschiedene Vermutungen angewendet hatte. Hierbei reiche nach ständiger Rechtsprechung schon die „nicht entfernt liegende Möglichkeit eines Schadens“ aus.
Der BGH bestätigt sodann seine Rechtsprechung, wonach eine Vermutung dafür bestehe, dass die Kartellbildung zu einer Preissteigerung und damit zu einem wirtschaftlichen Schaden beim Abnehmer führten. Dies sei auch dann für eine Feststellungsklage ausreichend wahrscheinlich, wenn die kartellbefangenen Mengen nicht direkt vom Kartellanten, sondern über einen Zwischenhändler erworben worden wären.
Insgesamt – und das ist neu – sei ebenso ausreichend wahrscheinlich, dass ein Quotenkartell auch nach dessen Beendigung noch über einen gewissen nachlaufenden Zeitraum preissteigernde Wirkung gehabt hätte.
Schließlich bestehe vor dem Hintergrund einer Marktabdeckung des Kartells von mehr als 70% auch die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass auch die Preise von nicht am Kartell beteiligten Unternehmen („Außenseitern“) erhöht gewesen seien, so dass auch hinsichtlich solcher Bezüge eine im Rahmen der Feststellungsklage ausreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bestand (sog. Umbrella-Schäden).
Zu guter Letzt stellte der BGH noch fest, dass der Kartellschaden mit 4% pro Jahr zu verzinsen sei. Dies ergebe sich aus allgemeinen, deliktsrechtlichen Normen (§ 849 BGB). § 33 Abs. 4 GWB 2005, der eine höhere Verzinsung vorsieht, sei – wie der Senat schon entschieden habe – auf Altansprüche hingegen nicht anwendbar.
Der BGH hielt die Feststellungsklage mit Ausnahme der Höhe der Verzinsung für vollumfänglich begründet. Er positioniert sich in dieser Frage im Wesentlichen klägerfreundlich. Durch diese abschließende Entscheidung zur Verjährungsfrage in Altfällen könnten in laufenden Verfahren nun Forderungen in Millionenhöhe neu bewertet werden. Dies allerdings nur dann, wenn derartige Ansprüche im Juli 2005 noch nicht verjährt waren und in der Zwischenzeit die Verjährung ausreichend lange gehemmt war bzw. verjährungshemmende Maßnahmen rechtzeitig ergriffen wurden. Die wirtschaftliche Schlagkraft der Entscheidung dürfte dennoch im Lichte von langjährigen Kartellen, die erst spät aufgedeckt wurden, angesichts der dann in der Regel beachtlichen Dauer von Kartellverfahren (und sich etwaig anschließender Gerichtsverfahren) enorm sein. Die Klage gegen die hiesige Beklagte konnte z.B. nur deswegen noch erhoben werden, weil sie Einspruch gegen den Bescheid eingelegt und das Beschwerdeverfahren über nahezu 10 Jahre bis zum BGH geführt hatte.
Ebenfalls klägerfreundlich, aber in den Auswirkungen geringer, dürften die verschiedenen Vermutungen zur „Möglichkeit einer Schadensentstehung“ sein. Diese dürften nach dem Wortlaut der Entscheidung aber lediglich für die Feststellungsklage gelten; einen ausreichenden Vortrag zur Schadenshöhe bzw. für eine Grundlage, auf der das Gericht den Schaden der Höhe nach schätzen kann, dürften sie jedoch nicht ersetzen.
Anne Caroline Wegner, LL.M. |
Julia Lechtenböhmer |
Weil die Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung für Lieferverträge (V0 330/2010 V-GVO) Alleinbezugsvereinbarungen nur für eine Dauer von bis zu 5 Jahren freistellt, hält sich der Trugschluss, dass eine darüberhinausgehende Abnahmebindung ohne weiteres kartellrechtlich unzulässig und damit unwirksam sei. Dabei wird häufig übersehen, dass zunächst die Frage zu stellen ist, ob eine Alleinbezugsverpflichtung überhaupt eine unzulässige Wettbewerbsbeschränkung darstellt. So hat das Oberlandesgericht Düsseldorf am 17. Mai 2017 entschieden, dass die in einem Liefervertrag vereinbarte, achtjährige Alleinbezugsverpflichtung wirksam ist. Die Klägerin hatte im konkreten Fall nicht ausreichend zur Marktstrutkur und zur marktabschottenden Wirkung der Vereinbarung vorgetragen, um einen Verstoß gegen § 1 GWB zu begründen.
Die Klägerin – Lieferantin von Sanitärartikeln – und die Beklagte – Betreiberin eines Alten- und Pflegeheims – hatten einen Vertrag über den Bezug von Hygieneprodukten geschlossen. Dieser enthielt eine Klausel, nach der die Beklagte verpflichtet war, während der Vertragslaufzeit alle vertragsgegenständlichen Hygieneprodukte, bei der Klägerin zu beziehen. Der Vertrag sah eine feste Mindestlaufzeit von acht Jahren und im Anschluss eine stillschweigende Vertragsverlängerung von jeweils einem Jahr vor. Während der Vertragslaufzeit bezog die Beklagte die entsprechenden Produkte allerdings lediglich zweimal bei der Klägerin, ansonsten bei Drittfirmen.
Die Klägerin verlangte Schadensersatz gem. §§ 280, 241 Abs. 1 BGB für die dadurch entgangenen Gewinne. Die Beklagte lehnte eine Zahlung ab und berief sich unter anderem darauf, dass die vertragliche Klausel mit § 1 GWB unvereinbar und damit unwirksam sei. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht Düsseldorf lehnten dies indes ab und verurteilten die Beklagte zum Schadenersatz.
Ein Verstoß gegen § 1 GWB komme nur in Betracht, sofern der Markt zum Nachteil von Konkurrenten in erheblicher Weise abgeschottet werde. Vertikalverträge mit langfristiger Bezugsbindung würden vom Kartellverbot insoweit nur erfasst, sofern sich aus der Gesamtheit der Umstände ergebe, dass diese geeignet seien, neuen Wettbewerbern den Zugang zu dem entsprechenden Markt zu verschließen. Sofern diese Voraussetzung nicht dargelegt sei, sei ein Verstoß gegen § 1 GWB ausgeschlossen. Die (umfangreiche) Darlegungs- und Beweislast hierfür liege in diesem Fall bei der Partei, die sich auf die Unwirksamkeit der Regelung berufen wolle – hier die Beklagte.
Als Maßstab für die Beurteilung, ob eine Marktabschottung bestehe, sei zunächst eine „nähere Analyse der Marktsituation“ erforderlich. Dieser muss „schwer zugänglich“ sein. In diese Analyse sei einzubeziehen, welche Marktstellung Lieferanten, Händler und Wettbewerber innehätten. Weiter sei auch Vortrag zur Struktur des Marktes, insbesondere zu Marktzutrittsschranken erforderlich. Erheblich sei auch Vorbringen dazu, ob Anbieter benachbarter Produkte ihr Warenangebot in kurzer Zeit und mit einem vertretbaren finanziellen Aufwand auf die zum Markt zählenden Sanitär- und Hygieneartikel umstellen könnten (sog. Angebotsumstellungsflexibilität). Zu berücksichtigen seien daneben Bindungsdauer entsprechenden Bezugsbindungen sowie Umfang der auf dem Markt praktizierten Vereinbarung, Gesamtmarktabdeckung, sowie Marktreife und Zusammenwirken mit anderen wettbewerbsbeschränkenden Abreden. Erweise sich hierbei, dass der Markt schwer zugänglich sei, würden die Verträge derjenigen Lieferanten, die nicht nur unerheblich zur Marktabschottung beitragen, unter das Kartellverbot fallen.
Für die sich anschließende Frage, ob ein Vertrag „nicht unerheblich zur Marktabschottung beitrage“, spielten dessen Laufzeiten und der Grad der Bedarfsdeckung eine entscheidende Rolle. Hierbei gelte: Je länger der Vertrag laufe und je größer der abgedeckte Bedarfsanteil sei, desto größer sei auch die davon ausgehende Ausschlusswirkung. Verträge über die Deckung des Gesamtbedarfs sind demnach in der Regel unbedenklich, sofern sie nur einer kurzen Laufzeit unterliegen und den Wettbewerb nicht unterbinden. Gleiches gelte für langfristige Verträge über einen geringen Anteil an Bedarfsdeckung, welcher hinreichende Liefermengen für Wettbewerber belasse.
Vorliegend hatte die Klägerin allerdings nicht einmal hinreichend vorgetragen, dass der betreffende Markt schwer zugänglich sei, so dass das Oberlandesgericht keinerlei Anhaltspunkte für eine spürbare wettbewerbsbeschränkende Wirkung der Alleinbezugsvereinbarung sah. Die Abrede war damit wirksam und die Klägerin zum Schadenersatz verpflichtet.
Auch im Falle von einfachen Wettbewerbsabreden muss mansich vor pauschalen Beurteilungen hüten. Mit der „Daumenregel“,dass bis zu 5 Jahren Bezugspflicht in der Regel wirksam, über 5 Jahren hingegen immer unwirksam sei, mag man viele Fälle de facto zutreffend einordnen. Diese pauschale Beurteilung kann aber ebenso gut auch schlicht falsch sein – mit fatalen Konsequenzen! Im vorliegenden Fall muss die Beklagte im Ergebnis nun Schadenersatz für eine 8-jährige Verletzung der Abnahmepflicht leisten.Es sind einerseits längere Vertragsdauern als die 5 Jahre denkbar, welche im Rahmen der Gruppenfreistellung freigestellt sind. Umgekehrt hilft die Begrenzung der Abrede auf 5 Jahre z.B. nicht weiter, wenn die Parteien Marktanteile von über 30% halten – denn in diesem Fall greift die Gruppenfreistellungverordnung nicht ein. Ist die Wettbwerbsabrede/Bezugsverpflichtung ein wichtiger Bestandteil des vertraglichen Gleichgewichts – ist sie z.B. Grundlage des vereinbarten (günstigen) Preises, ist eine Prüfung des Einzelfalls unabdingbar.
Anne Caroline Wegner, LL.M. |
Julia Lechtenböhmer |
Aus einem neuen EuGH-Urteil folgt, dass Deutschland den Italiener Romano Pisciotti an die USA ausliefern durfte, wenn zum einen Deutschland Italien umfassend über die beabsichtigte Auslieferung informiert hatte (das war der Fall gewesen) und zum anderen kein anderes milderes Mittel als die Auslieferung möglich gewesen wäre (das wird nun das LG Berlin entscheiden müssen). Die erhebliche Bedeutung, die der EuGH dem Verfahren zugemessen hat, lässt sich daran ersehen, dass er durch seine Große Kammer entschieden hat.
Gegen Unternehmen, die das Marineschläuche-Kartell betrieben hatten, waren in den USA und der EU hohe Bußgelder verhängt worden. Der Mitarbeiter eines dieser Unternehmen, Herr Pisciotti, soll von 1999 bis 2006 daran beteiligt gewesen sein, gemeinsam mit Wettbewerbern in mehreren Staaten bei Ausschreibungen Preise und Marktanteile festgelegt zu haben. Den USA genügten eine Bebußung der Unternehmen nicht, sie gingen auch strafrechtlich gegen die beteiligten Mitarbeiter vor. Sie klagten Herrn Pisciotti (und andere) an und ersuchten die Interpol-Mitgliedsstaaten um „Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung“ (sog. Red Notice). Als Herr Pisciotti auf einem internationalen Flug einen Umsteige-Stopp in Frankfurt einlegte, nahm ihn die Bundespolizei fest. Neun Monate Auslieferungshaft folgten und ein juristisches Tauziehen begann, ob eine Auslieferung an die USA rechtlich zulässig sei (siehe unseren Newsletter Q3/2014). Kern des Rechtsstreits war die Frage, ob die Bundesrepublik überhaupt einen Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedsstaats an einen Drittstaat ausliefern dürfe. Denn Deutsche darf die Bundesrepublik nicht an Drittstaaten ausliefern – das verbietet das Grundgesetz (Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG). Es untersagt hingegen nicht die Auslieferung von Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten, hier also eines Italieners. Das Bundesverfassungsgericht hatte im einstweiligen Rechtsschutzverfahrens keinen Verstoß gegen deutsches Verfassungsrecht gesehen und das Diskriminierungsverbot des Europarechts (Art. 18 AEUV) für nicht anwendbar gehalten. Herr Pisciotti war daraufhin in die USA gebracht worden, wo zwei Jahre Freiheitsstrafe und eine Geldstrafe in Höhe von USD 50.000 gegen ihn verhängt wurden. Die bereits in Deutschland verbüßte Haft wurde ihm angerechnet. Nach rund einem Jahr in verschiedenen Gefängnissen wurde er freigelassen. Noch während seiner Auslieferungshaft in Deutschland erhob Herr Pisciotti beim Landgericht Berlin eine Amtshaftungsklage gegen die Bundesrepublik. Er begehrt damit Entschädigung u.a. für die – seiner Auffassung nach – rechtswidrige Auslieferung an die USA. Das LG Berlin legte dem EuGH u.a. zwei Fragen vor: Ist der Auslieferungsverkehr von Mitgliedsstaaten eine Materie, die nie in den sachlichen Anwendungsbereich der europäischen Verträge fällt und muss daher das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV nicht berücksichtigt werden? Verbietet Art. 18 AEUV, dass ein Mitgliedsstaat eigene Staatsangehörige aufgrund einer Verfassungsnorm nicht an Drittstaaten ausliefert, Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedsstaaten hingegen schon?
Das Bundesverfassungsgericht hatte Art. 18 AEUV mit der Begründung nicht angewendet, dass er seinem Wortlaut nach nur „im Anwendungsbereich der Verträge“ gelte. Nach dem EUUSA-Auslieferungsabkommen sei es aber vielmehr dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten, darüber zu entscheiden, ob eigene Staatsangehörige ausgeliefert werden dürfen. Da es im vorliegenden Fall nicht um die Auslieferung eines Deutschen, sondern die eines Italieners ging, leuchtet diese Argumentation des Bundesverfassungsgerichts nicht ein. Auch der EuGH sieht dies anders. Seiner Meinung nach handle es sich aus zwei Gründen um eine Diskriminierung „im Anwendungsbereich der Verträge“: Erstens sei das Auslieferungsersuchen der USA im Rahmen des EU-USA-Auslieferungsabkommens gestellt worden und zweitens habe Herr Pisciotti, als er in Frankfurt zwischenlandete, von seiner Freizügigkeit gemäß Art. 21 AEUV Gebrauch gemacht.
Es kommt also auf die zweite Frage des LG Berlin an: Ist es europarechtskonform, dass ein Mitgliedsstaat Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten an Drittstaaten ausliefert, aufgrund seiner Verfassung eigene Staatsangehörige jedoch nicht? Das EU-USA-Auslieferungsabkommen gestattet es Mitgliedsstaaten grundsätzlich aus zwei Gründen, eigenen Staatsangehörigen einen Sonderstatus einzuräumen und ihre Auslieferung zu verbieten: Wenn sich dies aus einem bilateralen Abkommen oder aus nationalem Verfassungsrecht ergebe. Beides war hier der Fall. Zum einen gab es ein deutsch-amerikanisches Auslieferungsabkommen und zum anderen Art. 16 GG, die deutschen Staatsangehörigen einen solchen Sonderstatus einräumen. Die Anwendung dieser Bestimmungen müsse, so der EuGH, allerdings im Einklang mit dem Europarecht, insbesondere dem Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) und dem Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) stehen.
Die Ungleichbehandlung in Abhängigkeit von der Staatsangehörigkeit sei zulässig, wenn sie einen europarechtlich legitimen Zweck verfolge und in angemessenem Verhältnis zu diesem Zweck stehe. Ein legitimer Zweck liege hier vor: Denn es werde der Gefahr entgegengewirkt, dass eine Person, die eine Straftat begangen habe, straflos bliebe. Das Ziel, eine Straflosigkeit zu verhindern, sei europarechtlich legitim, weil die Union ihren Bürgern einen „Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts“ (Art. 3 Abs. 2 EUV) biete.
Entscheidend war damit, ob die Auslieferung von Herrn Pisciotti in angemessenem Verhältnis zu diesem Zweck stand, ob es also ein verglichen mit der Auslieferung an die USA milderes Mittel gegeben hätte, um die Gefahr einer Straflosigkeit zu verhindern. Ein solches milderes Mittel sei es, den Mitgliedsstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene habe, über die beabsichtigte Auslieferung zu informieren, und diesem Mitgliedsstaat somit die Möglichkeit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen. Herr Pisciotti wäre dann möglicherweise nach Italien ausgeliefert worden. Deutschland hatte allerdings Italien umfassend über die Inhaftierung des Herrn Pisciotti informiert. Einen Europäischen Haftbefehl hatte Italien trotzdem nicht erlassen. Dieses mildere Mittel stand also nicht (mehr) zur Verfügung, sodass Deutschland nicht gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen oder die Freizügigkeit verletzt hatte.
Hätte die Bundesrepublik statt einer Auslieferung an die USA Herrn Pisciotti nicht auch im Inland strafrechtlich verfolgen können und wäre dies möglicherweise ein milderes Mittel gewesen? Laut § 7 Abs. 2 StGB gilt für Taten, die im Ausland begangen werden, das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist – dies war sie, denn ein Ausschreibungsbetrug ist auch nach deutschem Recht strafbar – und wenn der Täter zur Zeit der Tat Ausländer war, „im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil … die Auslieferung nicht ausführbar ist.“
Der EuGH ging darauf nicht näher ein, weil diese Prüfung eine Auslegung deutschen Strafrechts erfordert, was nicht in die Zuständigkeit des EuGH fällt. Diese Frage muss nun das LG Berlin entscheiden, an dem das Verfahren weitergeht.
Das Urteil des EuGH weitet den Schutz des Art. 16 Abs. 2 GG auf Bürger anderer EU-Mitgliedsstaaten aus, allerdings mit der Einschränkung, dass dieser Auslieferungsschutz nicht absolut gilt: Wenn Deutschland den Herkunftsstaat informiert, dieser aber nicht die Auslieferung verlangt und auch sonst kein milderes Mittel vorliegt, darf Deutschland Bürger anderer EU-Mitgliedsstaaten an Drittstaaten ausliefern. Der Fall macht einmal mehr deutlich, mit welchen gravierenden Folgen Menschen rechnen müssen, die sich an einem Kartell beteiligen. Neben einem Bußgeld, für das man mit dem eigenen Vermögen haftet, arbeitsrechtlichen Konsequenzen, Schadensersatzansprüchen usw. droht eine strafrechtliche Verfolgung und sogar Auslieferung an einen Drittstaat. Die besondere Brisanz der Entscheidung zeigt sich daran, dass die USA gerne auch den Deutschen Uwe Bangert ausgeliefert sehen würden –auch ihn wegen seiner Beteiligung am Marineschläuche-Kartell. Herr Bangert befindet sich in Deutschland, wird von der Bundesrepublik jedoch wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit nicht ausgeliefert. Sobald er Deutschland verlässt, hat er diesen Schutz nicht mehr; alle EU-Mitgliedsstaaten (und viele weitere Staaten) haben Auslieferungsabkommen mit den USA geschlossen. Die beruflichen Einschränkungen, die mit einer solchen Situation einhergehen, dürften für fast jeden enorm sein.
Auch nach Verbüßung einer Haft in den USA ist nicht gesagt, dass man später dort wieder einreisen darf.
Zu beachten ist, dass eine Auslieferung des Herrn Pisciotti an die USA nur deshalb möglich war, weil die ihm vorgeworfene Handlung auch nach deutschem Recht als Straftat zu qualifizieren war – als wettbewerbsbeschränkende Absprache bei Ausschreibungen (§ 298 StGB). Wäre die Tat in Deutschland lediglicheine Ordnungswidrigkeit gewesen, wie dies bei Kartellverstößenhäufig der Fall ist, hätte er nicht ausgeliefert werden dürfen.
Dr. Helmut Janssen, LL.M. (London) |
Tim Börker |
Das Bundesverfassungsgericht hat die behördliche Beschlagnahme und Auswertung von Dateien und Unterlagen gebilligt, die eine internationale Anwaltskanzlei vor Beginn des Verfahrens im Wege einer „internal investigation“ zusammengetragen und erstellt hatte. Verfassungsbeschwerden des Unternehmens (VW), der Kanzlei (Jones Day) sowie
dreier Anwälte dieser Kanzlei verwarf das Gericht als unzulässig. In der Sache ging es um den Verdacht des Betrugs und der strafbaren Werbung. Die Feststellungen des Verfassungsgerichts sind auf kartellrechtliche Verfahren übertragbar.
Im September 2015 hatten das U.S. Department of Justice VW und Audi die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen mitgeteilt. VW beauftragte die Rechtsanwaltskanzlei Jones Day mit der Aufklärung „des den Unregelmäßigkeiten zugrunde liegenden Sachverhalts“, mit rechtlicher Beratung und der Vertretung vor den USamerikanischen Strafverfolgungsbehörden. Zur Aufklärung des Sachverhalts sichteten Rechtsanwälte von Jones Day innerhalb des VW-Konzerns Dokumente und befragten konzernweit Mitarbeiter (700 Befragungen). Die Kanzlei ist eine Partnership nach dem Recht des US-amerikanischen Bundesstaats Ohio. Für sie sind an mehr als 40 Standorten weltweit rund 2.500 Rechtsanwälte tätig. In Deutschland unterhält sie unter anderem in München ein Büro, in dem Rechtsanwälte an dem Mandat mitarbeiteten.
Im Januar 2017 bekannte sich VW schuldig, die US-Aufsichtsbehörden und die Kunden in den USA darüber getäuscht zu haben, dass die Dieselfahrzeuge mit 2,0 und 3,0 Liter-Motoren den US- Abgasnormen entsprochen hätten. VW akzeptierte ein Strafgeld in Höhe von USD 2,8 Mrd.
In Deutschland führte wegen der 3,0 Liter-Dieselmotoren der VW-Tochter Audi die Staatsanwaltschaft München II zunächst Vorermittlungen. In deren Rahmen unterrichteten Rechtsanwälte von Jones Day die Staatsanwälte in drei Präsentationen mündlich über die Zwischenergebnisse ihrer internen Ermittlungen. Nach der Veröffentlichung der Vereinbarung von VW mit den US-Behörden leitete die Staatsanwaltschaft am 1. März 2017 Ermittlungen gegen unbekannt wegen des Verdachts des Betrugs ein. Ab dem 29. Juni 2017 richteten sich die Ermittlungen gegen zunächst vier konkrete Beschuldigte. Außerdem leitete die Staatsanwaltschaft nun ein Verfahren gemäß § 130 OWiG gegen noch unbekannte Vorstände der Audi AG und auf dieser Grundlage zugleich ein Bußgeldverfahren gemäß § 30 OWiG gegen die Audi AG ein. Jones Day verweigerte die Herausgabe schriftlicher Unterlagen.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das Amtsgericht München am 6. März 2017 die Durchsuchung der Münchner Geschäftsräume der Kanzlei Jones Day an. Grundlage war § 103 StPO. Die Durchsuchung sollte dem Auffinden von Unterlagen dienen, die von der Kanzlei im Zuge ihrer Internal Investigations zusammengetragen oder erstellt worden waren. Bei der Durchsuchung am 15. März 2017 wurden 185 Aktenordner und Hefter mit Unterlagen aus den Büros der sachbearbeitenden Rechtsanwälte und einem eigens für das Mandat eingerichteten Aktenraum sichergestellt. Die Ermittler sicherten außerdem einen umfangreichen Bestand an elektronischen Daten, von denen sie einen Teil von einem in Belgien befindlichen Server herunterluden.
Auf den Widerspruch der Kanzlei bestätigte das Amtsgericht München die Sicherstellung. Gegen die Durchsuchungsanordnung und die Bestätigung durch das Amtsgericht wurden Beschwerden zum Landgericht München I eingelegt. Das Landgericht ordnete an, dass die von dem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten an die Kanzlei herauszugeben und etwaige von diesen Daten gefertigten Kopien zu vernichten seien, weil es insoweit an dem erforderlichen Rechtshilfeersuchen gefehlt habe. Im Übrigen verwarf es die Beschwerden. Hiergegen wandten sich die VW AG, die Anwaltskanzlei Jones Day und drei Rechtsanwälte der Kanzlei.
Die Kanzlei trug vor, in mehreren Grundrechten verletzt worden zu sein: Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit und Menschenwürde) sowie Art. 14 (Eigentumsschutz) und Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatlichkeit).
Das Gericht nahm die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an. Ihnen fehle eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Außerdem seien sie mangels Beschwerdeberechtigung von Jones Day unzulässig.
Beschwerdeberechtigt ist nur, wer Träger des Rechts ist, dessen Verletzung er rügt. Die US-Kanzlei ist nicht Trägerin von Grundrechten, da sie keine inländische juristische Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG ist. Im vorliegenden Fall führt nach Auffassung des Gerichts auch nicht der Umstand, dass ihr Münchener Standort von hoheitlichen Eingriffsmaßnahmen betroffen ist, zu einer anderen Bewertung.
Träger von Grundrechten sind in erster Linie natürliche Personen. Darüber hinaus gelten die Grundrechte gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Ausländische juristische Personen können sich dagegen nicht auf materielle Grundrechte berufen. Ihnen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung lediglich den Anspruch auf den gesetzlichen Richter und auf rechtliches Gehör zuerkannt. Wortlaut und Sinn von Art. 19 Abs. 3 GG verbieten es, materielle Grundrechte auf ausländische juristische Personen anzuwenden. Eine Ausnahme bilden nur ausländische juristische Personen mit Sitz in der EU. Auf sie ist die Grundrechtsberechtigung zu erstrecken, wenn ein hinreichender Inlandsbezug besteht.
Für die Beantwortung der Frage, ob es sich um eine inländische oder eine ausländische juristische Person handelt, ist entscheidend, wo die juristische Person ihren Sitz hat. Der Sitz einer juristischen
Person bestimmt sich nach dem tatsächlichen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Wird sie an mehreren Standorten tätig und erstreckt sich ihr Aktionsbereich gegebenenfalls sogar auf mehrere Länder, bestimmt sich ihr Sitz nach dem Ort der tatsächlichen Hauptverwaltung. Hauptverwaltungssitz eines Wirtschaftsunternehmens ist der Ort, an dem das oberste Verwaltungsorgan die Mehrheit seiner Entscheidungen über die Geschäftsführung trifft beziehungsweise an dem die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden. Eine international verflochtene juristische Person hat mithin nur dann ihren Hauptverwaltungssitz im Inland, wenn auch die Mehrheit der Entscheidungen über die Geschäftsführung im Inland gefällt werden. Nach diesen Maßgaben ist Jones Day keine inländische juristische Person. Ihr Hauptverwaltungssitz liegt nicht in der EU. Die Mehrheit der Entscheidungen über die Geschäftsführung wird nicht an einem Standort in der EU getroffen.
Jones Day, so das Gericht, könne sich auch nicht mit der Begründung auf materielle Grundrechte berufen, dass ihr Münchener Standort betroffen sei.
Am 18. März 2009 hatte das Bundesverfassungsgericht unter anderem über die Verfassungsbeschwerde einer internationalen Rechtsanwaltssozietät entschieden, die sich gegen die Anordnung der Durchsuchung ihrer Standorte in Düsseldorf und Frankfurt am Main richtete. Die Sozietät war in der Rechtsform einer General Partnership nach englischem Recht organisiert. Sie verfügte über sechs Standorte in Deutschland, an denen ungefähr 570 Rechtsanwälte beschäftigt waren, während über 1.900 weitere Rechtsanwälte in ausländischen Büros arbeiteten. Damals war das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Verfassungsbeschwerde der General Partnership angesichts der Betroffenheit sowie der organisatorisch eigenständigen Stellung und des inländischen Tätigkeitsmittelpunktes der Beschwerdeführerin an beiden von der Durchsuchung betroffenen Standorten wie die von einer inländischen juristischen Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG erhobene Verfassungsbeschwerde zu behandeln sei.
Diese Voraussetzungen waren bei Jones Day aber nicht erfüllt. Von einer organisatorisch eigenständigen Stellung des Münchener Standorts der Kanzlei könne nicht ausgegangen werden.
Die von VW behaupteten Verletzungen der eigenen Grundrechte vermochte das Verfassungsgericht nicht zu erkennen. In das Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung sei zwar eingegriffen worden, nicht aber Geschäftsräume von VW, sondern die Kanzleiräume der Rechtsanwälte seien durchsucht worden.
VW sei demgegenüber zwar im Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen. Denn die Durchsicht der Daten und eine spätere Verwendung könne geeignet sein, die wirtschaftliche Betätigung von VW zu gefährden. So sei nicht auszuschließen, dass bestimmte Angaben das Licht der Öffentlichkeit erblickten.
Dieser Grundrechtseingriff sei jedoch gerechtfertigt. Die Rechtsgrundlage für die Rechtfertigung sei § 110 StPO. Diese Norm sei auch durch das Amtsgericht und das Landgericht verfassungsrechtlich unbedenklich ausgelegt worden.
Die drei Rechtsanwälte waren nicht Träger des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Bei Geschäftsräumen kommt dieses Grundrecht regelmäßig nur dem Unternehmer als Nutzungsberechtigtem zugute, nicht aber den einzelnen Arbeitnehmern. Da zwei der Rechtsanwälte Angestellte von Jones Day waren, konnten sie sich allein deshalb nicht auf dieses Grundrecht berufen. Der dritte Anwalt war Partner der Kanzlei. Das Nutzungsrecht steht den Partnern aber nur gemeinschaftlich zu und kann deshalb auch nur von den Gesellschaftern gemeinschaftlich geltend gemacht werden. Das hatten sie nicht getan. Dies wäre wohl auch nicht ausreichend gewesen. Denn nach Meinung des Gerichts hätten die Anwälte zudem darlegen müssen, dass die von ihnen genutzten Kanzleiräume für sie als „individueller Rückzugsbereich“ fungieren und deshalb ihrer persönlichen Privatsphäre zuzuordnen seien. Es wäre überraschend, wenn Anwälte einer Kanzlei dies vortragen würden. Im Ergebnis kann sich somit nur eine Kanzlei auf Art. 13 GG berufen; das war hier Jones Day, die aber als juristische Person mit Sitz und Hauptverwaltung außerhalb der EU nicht grundrechtsfähig war.
Anwälte von Kanzleien, die ihren juristischen Sitz und ihre Hauptverwaltung außerhalb der EU haben, sind verfassungsrechtlich weniger geschützt als deutsche oder EU-Kanzleien. Für den Geschäftsbereich „Internal Investigations“ ist dies ein Wettbewerbsnachteil insbesondere für anglo-amerikanisch dominierte Kanzleien. Dies gilt umso mehr als sich Kanzleien mit Sitz und Hauptverwaltung in London ab dem 30. März 2019 (Brexit) nicht mehr auf Grundrechte berufen können – es sei denn, ihre deutschen Büros können eine hinreichende organisatorische Selbständigkeit von ihrer UK-Zentrale nachweisen. In Kartellermittlungsverfahren des Bundeskartellamts gilt der vom Luther-Kartellrechtsteam ohnehin schon seit langem vertretene Grundsatz: Vor der Einleitung eines Bußgeldverfahrens durch das Bundeskartellamt sollten Unternehmen und Anwalt vorsorglich davon ausgehen, dass Schriftstücke und Dateien vor dem Zugriff des Bundeskartellamts nicht sicher sind. In Fällen, in denen die Europäische Kommission ermittelt, geht der Schutz weiter. Da bei Erstellung der Unterlagen (vor Beginn von Ermittlungen) nie sicher vorhergesehen werden kann, ob die Europäische Kommission oder das Bundeskartellamt tätig werden wird, sollte vorsichtshalber immer davon ausgegangen werden, dass Unterlagen, die vor der Einleitung des Verfahrens erstellt wurden, nicht sicher sind.
Der bisher bestehende Unterschied zwischen externen Anwälten und Syndikus-Anwälten bleibt: Unterlagen bei Syndikus-Anwälten genießen keinerlei Schutz vor Beschlagnahme. Dies gilt sowohl im deutschen wie im europäischen Kartellrecht.
Dr. Helmut Janssen, LL.M. (London) |
Lukas Kienzle, LL.M. (Brügge) |
In einer mündlichen Verhandlung zum Wurstkartell hat ein Zeuge vor dem OLG Düsseldorf ausgesagt, die vom Bundeskartellamt angelegte Akte sei teilweise unvollständig. Insbesondere würden Hinweise auf die Kommunikation mit einem Kronzeugen fehlen. Das Bundeskartellamt hatte im Jahr 2014 gegen 21 Wurstproduzenten und 33 natürliche Personen wegen Preisabsprachen Bußgelder in Höhe von insgesamt EUR 338 Mio. verhängt. Hiergegen erhoben einige Betroffene und Nebenbetroffene Einspruch, über den das OLG Düsseldorf zu entscheiden hat.
Rossmann legte Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid des Bundeskartellamts ein. Dies brachte Rossmann allerdings nicht den gewünschten Erfolg: Das OLG Düsseldorf, das dazu befugt ist im Rahmen eines Einspruchsverfahrens eine eigene Bußgeldentscheidung zu treffen, hob das Bußgeld von den durch das Bundeskartellamt verhängten EUR 5,5 Mio. auf EUR 30 Mio. an. Die genauen Gründe für die Erhöhung sind noch unbekannt, da das Urteil bisher nicht veröffentlicht wurde. Rossmann hat gegen das Urteil des OLG Düsseldorf Rechtsbeschwerde zum BGH eingelegt.
Die Europäische Kommission hat ein Bußgeld in Höhe von EUR 4,34 Milliarden gegen Google verhängt. Google habe Herstellern von Android-Geräten verschiedene Einschränkungen auferlegt, die dazu gedient haben sollen, die marktbeherrschende Stellung der Google-Suchmaschine zu festigen. So habe Google von Herstellern beispielsweise im Gegenzug für die Lizensierung des Google Play Store verlangt, dass diese die Apps Google-Suche und Chrome vorinstallieren.
Die Europäische Kommission hat Gazprom per Beschluss eine Vielzahl von Verpflichtungen auferlegt. Hierdurch sollen wettbewerbsrechtliche Bedenken der Kommission ausgeräumt werden. Die Europäische Kommission warf dem in einigen Regionen marktbeherrschenden Unternehmen Gazprom vor, eine Abschottung nationaler Märkte in Osteuropa anzustreben. Ziel der Verpflichtungen sei es, dies zu verhindern, und die freie Lieferung von Erdgas zu Wettbewerbspreisen in Mittel- und Osteuropa sicherzustellen. Beispielsweise muss Gazprom auf Klauseln in Verträgen verzichten, die es den Kunden verbieten, Erdgas in andere Länder weiterzuverkaufen.
Die Europäische Kommission hat gemeinsam mit nationalen Wettbewerbsbehörden die Betriebsräume mehrerer Plastikhersteller durchsucht. Die Kommission habe den Verdacht, dass diese Unternehmen sich beim Einkauf von Styrol abgesprochen hätten. Styrol ist ein wichtiger Rohstoff, der für die Herstellung einer Vielzahl von Produkten wie z.B. Verpackungen oder Isoliermaterialien benötigt wird.
Die Europäische Kommission hat die von Bayer geplante Übernahme von Monsanto unter Bedingungen genehmigt. Im Rahmen ihrer Prüfung habe die Kommission mehr als 2000 unterschiedliche Produktmärkte untersucht. Bedenken habe die Kommission vor allem im Hinblick auf die Märkte für Saatgut und Pflanzenschutzmittel. Um diese Bedenken auszuräumen, sehe die Genehmigungsentscheidung der Kommission vor, dass Bayer Überschneidungen in den Bereichen Saatgut und Pflanzenschutzmittel zu veräußern habe. Ein Großteil dieser Geschäftsbereiche soll an BASF verkauft werden. Auch dies hat die Kommission bereits genehmigt.
Das Bundeskartellamt hat die Übernahme der Mediengruppe Frankfurt durch die Ippen-Gruppe freigegeben. Veräußerin ist die FAZIT-Stiftung. Die Mediengruppe Frankfurt gibt die Zeitungstitel „Frankfurter Neue Presse“ sowie „Frankfurter Rundschau“ und das Anzeigenblatt „Mix am Mittwoch“ heraus. Bei der Beurteilung des Zusammenschlusses ließ das Bundeskartellamt die betroffenen Anzeigenmärkte unberücksichtigt, da es sich bei diesen aufgrund des geringen Umsatzvolumens um Bagatellmärkte handele. Vielmehr habe sich die Beurteilung auf die betroffenen Lesermärkte konzentriert. Laut dem Bundeskartellamt führt der Zusammenschluss in Frankfurt sogar zu Verbesserungen für die Leser. Bisher hätte die FAZ-Gruppe mit ihren drei Titeln „Frankfurter Neue Presse“, „Frankfurter Rundschau“ und der Regionalausgabe der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über ein Monopol in Frankfurt verfügt. Zukünftig könnten die Frankfurter Leser hingegen zwischen Zeitungen der Ippen-Gruppe und der FAZ-Gruppe wählen.
Das Bundeskartellamt hat Bußgelder gegen die beiden Abpackunternehmen Hans-Willi Bähmer Verpackung und Vertrieb GmbH & Co. KG und die Kartoffel-Kuhn GmbH in Höhe von EUR 13,2 Mio. verhängt. Die Tätigkeiten dieser Unternehmen bestehen aus dem Ankauf von Rohware sowie deren Waschen, Sortieren und Verpacken. Mitarbeiter beider Unternehmen haben sich laut dem Bundeskartellamt über einen längeren Zeitraum im Vorfeld der wöchentlichen Angebotsabgabe für abgepackte Kartoffeln und Zwiebeln telefonisch ausgetauscht. Im Rahmen dieser Gespräche sei besprochen worden, welche Einkaufspreise für die Rohware beide Unternehmen der Kalkulation
ihrer Angebotspreise zugrunde legen würden.
Das Bundeskartellamt hat entschieden, keine Einwände gegen die von Klöckner & Co SE geplante digitale Handelsplattform XOM Metals zum Vertrieb von Stahlprodukten zu erheben. Klöckner habe die Plattform nach Gesprächen mit dem Bundeskartellamt so modifiziert, dass alle kartellrechtlichen Bedenken ausgeräumt worden seien. Um eine zu große Transparenz zu verhindern, würde Klöckner die Plattform so ausgestalten, dass Preise erst nach dem Kunden-Login sichtbar würden und Kunden zur Registrierung ihre Umsatzsteuernummer angeben müssten. Außerdem bestand das Bundeskartellamt auf einer organisatorischen Trennung des Plattformbetreibers und der Klöckner Gruppe.
Das Bundeskartellamt hat entschieden, kein Missbrauchsverfahren gegen Lufthansa einzuleiten. Nach der Insolvenz von Air Berlin hatte die Lufthansa für eine gewisse Zeit auf einigen innerdeutschen Strecken ein Monopol inne. Auf diesen Strecken stiegen die Preise um 25-30 %. Trotz des erheblichen Preisanstiegs entschied sich das Bundeskartellamt jedoch gegen ein Missbrauchsverfahren. Denn mittlerweile sei easyJet in den Markt eingetreten, was dazu geführt habe, dass die Preise wieder gefallen seien. Zudem hätten die betroffenen Flugstrecken nach dem Wegfall von Air Berlin unter einem starken Kapazitätsrückgang zu leiden gehabt. Dies hätte auch in einer intakten Konkurrenzsituation (also ohne Lufthansa als Monopolist) zu steigenden Preisen geführt.