31.03.2022
Liebe Leserinnen und Leser,
wir alle verfolgen seit Wochen den schrecklichen Krieg in der Ukraine. Die Bilder berühren uns. Wir sehen das Leid der Menschen, das unermesslich ist. Über zwei Jahre nach Beginn der Pandemie stehen wir erneut vor einer weiteren großen Herausforderung. Die langfristigen Auswirkungen des Krieges werden erheblich sein und sind noch nicht absehbar. Die weitreichenden Wirtschaftssanktionen gegen die Russische Föderation sind hierbei nur ein Teil. Schon jetzt ist allerdings absehbar, wie sich ein Krieg in Europa auf uns und unsere Wirtschaft auswirkt. Das Thema Lieferketten gewinnt hierbei zunehmend an Bedeutung.
Bereits im Sommer 2021 verabschiedete der Bundestag das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG). Das LkSG schafft verbindliche Regelungen für die Verantwortung deutscher Großunternehmen im Rahmen globaler Lieferketten und soll hierdurch zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen. Für Unternehmen ergeben sich hieraus weitreichende Handlungspflichten. So müssen große Unternehmen mit zunächst mindestens 3.000 Arbeitnehmern ab dem 1. Januar 2023 besondere menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten in ihren Lieferketten beachten. Aber auch für kleinere Unternehmen erwachsen aus dem Gesetz zumindest mittelbar Pflichten, sofern sie Bestandteil der Lieferkette sind. Die allein aus arbeitsrechtlicher Sicht relevanten Themenbereiche sind umfassend und betreffen z. B. Verbote von Kinderarbeit, Sklaverei und Zwangsarbeit, die Missachtung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes oder das Vorenthalten eines angemessenen Lohns. Grund genug für Kerstin Groene, das Thema LkSG in ihrem aktuellen Beitrag näher zu beleuchten.
Kevin Brinkmann aus unserem Hamburger Büro befasst sich in dieser Ausgabe unseres Newsletters ebenfalls mit einem sehr aktuellen Thema. Spätestens seit der CCOO-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2019 steht das Thema Arbeitszeiterfassung im Fokus arbeitsrechtlicher Diskussionen. Insbesondere stellt sich die Frage, ob Arbeitgeber zur Einführung eines (elektronischen) Systems zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind. In seinem Beitrag stellt Kevin Brinkmann den aktuellen Stand der Diskussion dar und gibt einen Ausblick, was in Zukunft rund um dieses Thema zu erwarten sein wird.
In unserem letzten Newsletter haben wir eine neue Rubrik präsentiert, in welcher wir über arbeitsrechtliche Entwicklungen und Themen aus unserem im letzten Jahr neu gegründeten globalen Netzwerk unyer berichten. Wir freuen uns sehr, dass Xavier Drouin von FIDAL in Straßburg uns neue Einblicke in das französische Arbeitsrecht gibt.
Auch in dieser Ausgabe erhalten Sie natürlich den gewohnten Überblick über aktuelle Entscheidungen der Arbeitsgerichte, die aus unserer Sicht für die Personalarbeit von besonderer Relevanz sind. Besonders hervorzuheben ist hierbei eine Entscheidung des LAG Hessen zur Frage der Wirksamkeit von Massenentlassungsanzeigen. Das Urteil hat in der Fachpresse bereits für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Die Revision vor dem Bundesarbeitsgericht ist anhängig und ihr Ausgang wird von Arbeitsrechtlern mit Spannung erwartet.
Unsere Autorinnen und Autoren freuen sich auf Ihr Feedback. Sprechen Sie uns bei Fragen und Anregungen gerne an.
Ihr
Achim Braner
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) ist in aller Munde und hat zu großer Verunsicherung in den Unternehmen geführt. Ab dem 1. Januar 2023 müssen große Unternehmen mit zunächst mindestens 3.000 Arbeitnehmern besondere menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten in ihren Lieferketten beachten. Kleinere Unternehmen können sich jedoch nicht zurücklehnen, denn als Bestandteil der Lieferkette werden auch sie mittelbar – durch ihre direkten oder wiederum mittelbaren Vertragspartner – in die Pflicht genommen. Ein wesentlicher Fokus richtet sich dabei auf Aspekte des Arbeitsschutzes, das Einhalten von Mindest-Arbeitsbedingungen und die Sicherstellung der Betätigungsfreiheit von Gewerkschaften.
Im Sommer 2021 verabschiedete der Bundestag das LkSG, das auf den Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) aus dem Jahr 2016 zurückzuführen ist, der wiederum die Grundlage für die Umsetzung der Leitprinzipien der Vereinten Nationen (UN) für Wirtschaft und Menschenrechte von 2011 sein soll. Das LkSG soll zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen, indem es verbindliche Regelungen für die Verantwortung deutscher Großunternehmen entlang globaler Lieferketten schafft.
Der gesamte Themenkomplex wird mit dem Überbegriff unternehmerische soziale Verantwortung (Corporate Social Responsibility; CSR) umschrieben und erfasst auch mannigfaltige Vorgaben zur Vermeidung von unangemessenen Arbeitsbedingungen: Verbote von Kinderarbeit, Sklaverei und Zwangsarbeit, die Missachtung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, die Vorenthaltung eines angemessenen Lohns, die Missachtung des Rechts, Gewerkschaften bzw. Mitarbeitervertretungen zu bilden.
1. Allgemeiner Inhalt LkSG
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verpflichtet Unternehmen in Deutschland zur Achtung von Menschenrechten durch die Umsetzung definierter Sorgfaltspflichten. Die Einrichtung eines Risikomanagements ist Kernelement des Gesetzes. Diesem Risikomanagement obliegt es, die Risiken von Menschenrechtsverletzungen und Schädigungen der Umwelt zu identifizieren, zu vermeiden oder zu minimieren. Hierzu sieht das Gesetz diverse Präventions- und Abhilfemaßnahmen (§§ 6, 7 LkSG) als notwendig vor und verpflichtet Unternehmen dazu, Beschwerdeverfahren zu ermöglichen (§ 8 LkSG) und regelmäßig Bericht zu erstatten. Enthalten ist sogar eine besondere gesetzliche Prozessstandschaft (§ 11 LkSG), die es Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen (NRO/NGO) ermöglicht, vor deutschen Gerichten einen Rechtsstreit im eigenen Namen für eine betroffene Person zu führen.
Besonderheit des Gesetzes ist seine Reichweite, die sich jenseits des unmittelbaren Organisationsbereichs der Unternehmen erstreckt: Die Sorgfaltspflichten betreffen nicht nur den eigenen Geschäftsbereich, sondern auch das Verhalten von Vertragspartnern sowie weiterer (mittelbarer) Zulieferer – also entlang der gesamten Lieferkette. Dies gilt in der Lieferkette in beide Richtungen: also up and down.
Das Gesetz gilt ab 2023 zunächst für Unternehmen mit mindestens 3.000, ab 2024 auch für Unternehmen mit mindestens 1.000 Arbeitnehmern im Inland.
Bei Verstoß gegen die gesetzlichen Pflichten kommen Bußgelder von bis zu EUR 8 Millionen oder bis zu 2 % des weltweiten Jahresumsatzes in Betracht. Sogar der Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge ist möglich.
Die zuständige Behörde, das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, hat weitgehende Kontrollbefugnisse. Sie kann etwa Geschäftsräume betreten, Auskünfte verlangen und Unterlagen einsehen sowie Unternehmen auffordern, konkrete Handlungen zur Erfüllung ihrer Pflichten vorzunehmen und dies durch die Verhängung von Zwangsgeldern durchsetzen.
2.
Geschützte Rechtspositionen: Arbeitsschutz und arbeitsrechtliche Grundprinzipien
Zu den geschützten Rechtspositionen entlang der Lieferkette gehören maßgeblich auch solche, die dem Arbeitsschützer und Arbeitsrechtler aus der täglichen Arbeit geläufig sind. Der Fokus richtet sich nun aber nicht mehr nur allein auf das eigene Unternehmen / den eigenen Mandanten / die eigene Mandantin, sondern auch auf Drittunternehmen. § 2 Abs. 2 listet in den Ziffern 5 bis 8 Verbote auf, für die im Fall eines Verstoßes hiergegen ein menschenrechtliches Risiko droht. Bei den in Ziffer 5 genannten Pflichten des Arbeitsschutzes wird dabei explizit auf das Recht des Beschäftigungsortes Bezug genommen. Genannt werden in einer nicht abschließenden Auflistung solche Arbeitsschutzpflichten, bei deren Missachtung die Gefahr von Arbeitsunfällen oder arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren entstehen, wie:
offensichtlich ungenügende Sicherheitsstandards in Bezug auf Arbeitsstätte, Arbeitsplatz und Arbeitsmittel,
das Fehlen geeigneter Schutzmaßnahmen in Bezug auf Gefahrstoffe,
das Fehlen von Maßnahmen zur Verhinderung übermäßiger Ermüdung, insbesondere in Bezug auf Arbeitszeiten und Ruhepausen,
die ungenügende Ausbildung und Unterweisung.
Menschenrechtliche Risiken drohen aber auch bei Verstößen gegen das Verbot der Missachtung der Koalitionsfreiheit
(§ 2 Abs. 2 Nr. 6 LkSG). Aufgelistet wird die Freiheit der Arbeitnehmer sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen, diesen beizutreten, hierfür keine Nachteile zu erleiden und das Betätigungsrecht der Gewerkschaften einschließlich eines Streikrechts und das Recht auf Kollektivverhandlungen.
Weitere menschenrechtliche Risiken werden bei Verstößen gegen das Verbot der Ungleichbehandlung in der Beschäftigung (Nr. 7) gesehen und hierbei beispielhaft die nationale und ethnische Abstammung, soziale Herkunft, Gesundheitsstatus, Behinderung, sexuelle Orientierung, Alter, Geschlecht, politische Meinung, Religion oder Weltanschauung aufgelistet. Explizit wird auch eine Ungleichbehandlung in Bezug auf die Zahlung ungleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit genannt.
Auch ein Verstoß gegen das Verbot des Vorenthaltens eines angemessenen Lohns – nach den Vorgaben des Beschäftigungsortes – begründet das Drohen eines menschenrechtlichen Risikos (Nr. 8).
3.
Umsetzung auf unternehmerischer Ebene: Der Menschenrechtsbeauftragte
Die betroffenen Unternehmen sehen sich nun mit der Aufgabe konfrontiert, die entsprechenden Verfahren und Berichtslinien einzurichten und diese so auszugestalten, dass sie den Anforderungen des LkSG genügen, ohne sich im bußgeldrelevanten Bereich zu bewegen. Gem. § 4 Abs. 3 LkSG werden die Unternehmen ausdrücklich benennen müssen, wessen Zuständigkeit es sein wird, das Risikomanagement zu überwachen. Zur Umsetzung dieser Pflicht nennt das Gesetz auch die Benennung eines Menschenrechtsbeauftragten ohne näher zu konkretisieren, wer für diese Position infrage kommt. Der Gestaltungsspielraum für die Unternehmen ist dementsprechend weit.
Profitieren können Unternehmen davon, dass sie die Regelungsstruktur von unternehmerischen Pflichten und behördlicher Überwachung in Fragen des Arbeitsschutzes bereits kennen. Häufig werden daher die bereits existierenden betrieblichen Arbeitsschutzexperten (z. B. die Fachkräfte für Arbeitssicherheit, §§ 5 ff. ASiG) aufgrund ihrer inhaltlichen Expertise prädestiniert sein, die Geschäftsleitung in den Umsetzungsfragen zu unterstützen – zumindest in Bezug auf das eigene Unternehmen.
Welche Kompetenzen der Menschenrechtsbeauftragte dann haben muss, ist gesetzlich nicht klar vorgegeben. Die Unternehmen können also eigenständig bestimmen, welche Instrumente und Rechte der Menschenrechtsbeauftragte erhält, um gegen Missstände vorzugehen – stets unter dem Vorbehalt der Wirksamkeit. Der Referentenentwurf sieht (S. 25) vor, dass der Menschenrechtsbeauftragte unmittelbar der Geschäftsleitung unterstellt sein sollte.
Das Gesetz bietet dem Rechtsanwender – anders als dies z. B. aus § 13 ArbSchG bekannt ist – nur wenige Hilfestellungen hinsichtlich der Rechtsfolgen. Gänzlich offen ist daher noch, welche organisatorische (Mindest-)Stellung der Menschenrechtsbeauftragte haben muss, über welche finanziellen, fachlichen und organisatorischen Ressourcen er verfügen muss und welche Verantwortung diese Person im Falle eines Bußgeldverfahrens trägt.
Jedenfalls der Gesetzeswortlaut des § 4 Abs. 3 S. 1 LkSG spricht dafür, dass die Überwachung des Risikomanagements von einem Unternehmensangehörigen ausgeübt werden muss und nicht an außenstehende Dritte ausgelagert werden kann. Das Risikomanagement selbst ist gem. § 4 Abs. 1 LkSG sogar „in alle maßgeblichen Geschäftsabläufe […] zu verankern“, sodass sich auch die strategische Frage stellt, ob Dritten ein derart weitreichendes Einblicksrecht überhaupt gewährt werden sollte.
4.
Beteiligung der Arbeitnehmervertretungen: Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss
Das Gesetz bindet auch die Arbeitnehmervertretungen ein: Die gem. § 6 Abs. 1, 2 LkSG geforderte Grundsatzerklärung soll eine Menschenrechtsstrategie enthalten. Zwar soll diese nach dem Gesetzentwurf von der Unternehmensleitung selbständig entworfen werden, gefordert ist jedoch, dass diese Erklärung auch an den Betriebsrat kommuniziert wird (Gesetzentwurf S. 29).
Eine weitere, ab dem 1. Januar 2023 zu beachtende Facette des LkSG ergibt sich aus § 106 Abs. 3 Nr. 5b BetrVG nF. Hiernach gehören zu den wirtschaftlichen Angelegenheiten, die eine Beteiligung des Wirtschaftsausschusses nach sich ziehen, auch Fragen der unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten nach dem LkSG. Das Recht des Wirtschaftsausschusses beschränkt sich jedoch auch in dieser Hinsicht auf Beratungs- und Unterrichtungsrechte, die jedoch umfassend und unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen erfolgen muss.
5. Fazit
Das LkSG gibt den Unternehmen nur in geradezu homöopathischen Dosen Anhaltspunkte, wie das Risikomanagement inhaltlich auszugestalten ist – angesichts der stattlichen Bußgeldandrohung ein eher misslicher Zustand. Bei der Implementierung der internen Risikomanagementsysteme ist daher mit Nachdruck darauf zu achten, dass das System alle maßgeblichen Geschäftsabläufe überwachen kann und dass wirksame Maßnahmen ergriffen werden können.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) stellt unter www.csr-in-deutschland.de unter anderem Leitfäden online, die eine erste (branchenspezifische) Orientierung geben können sowie Hinweise auf Beratungs- und Schulungsangebote.
Autorin
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Köln
Am 21. Juni 2022 veranstaltet der Eberbacher Kreis in Berlin im „Meistersaal“ am Potsdamer Platz einen hochrangig besetzten Kongress über die von der Bundesregierung angestrebte Verwirklichung der tarifvertraglich organisierten Altersversorgung im Rahmen der sog. „Sozialpartnermodelle“. Unser Partner Dr. Marco Arteaga ist der Sprecher des Eberbacher Kreises (Wer wir sind - Eberbacher Kreis (www.eberbacher-kreis.de).
Bereits mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz wurde im Jahr 2018 die gesetzliche Grundlage für die Sozialpartnermodelle geschaffen. Bis heute konnte jedoch noch kein entsprechender Tarifvertragsabschluss auf Verbands- oder Unternehmensebene verzeichnet werden. Noch stehen technische und rechtliche Hürden im Weg, die nach den Plänen der neuen Bundesregierung im Koalitionsvertrag nun zügig überwunden werden sollen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil wird auf dem Kongress einen Ausblick dazu geben, welche Pläne die Bundesregierung verfolgt. In zahlreichen Fachbeiträgen werden Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und der Sozialpartner aufzeigen, welche Gesetzeskorrekturen benötigt werden und welche Gestaltungsspielräume zu erwarten sind. Erfahrungsberichte von
Vertretern aus dem Ausland, wo man mit ähnlichen Versorgungsmodellen schon sehr viel weiter ist, runden das Tagungsprogramm ab. Das endgültige Programm wird der Eberbacher Kreis im Laufe des Monats Mai zur Verfügung stellen.
Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Wir bitten Sie daher bei Interesse um möglichst umgehende Benachrichtigung über Ihre voraussichtliche Teilnahme per E-Mail unter janna.altheim@eberbacher-kreis.de.
Der Eberbacher Kreis ist ein Zusammenschluss einiger der renommiertesten in Deutschland auf dem Gebiet der betrieblichen Altersvorsorge tätigen Rechtsanwälte. Einzelheiten finden Sie unter www.eberbacher-kreis.de
Während der Veranstaltung werden zu Dokumentationszwecken Bild- und Tonaufnahmen gemacht. Mit Ihrer Anmeldung geben Sie Ihr Einverständnis zur Veröffentlichung, es sei denn, Sie widersprechen der Veröffentlichung per E-Mail an info@eberbacher-kreis.de oder per Brief an Eberbacher Kreis, c/o Gleiss Lutz, Lautenschlagerstr. 21, 70173 Stuttgart.
Die Datenschutzerklärung des Eberbacher Kreises finden Sie unter www.eberbacher-kreis.de/Datenschutz
Spätestens seit der CCOO-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2019 ist das Thema Arbeitszeiterfassung wieder in den Fokus der politischen und gesellschaftlichen Diskussion gelangt. Kürzlich sorgte ein Gesetzesentwurf für Aufsehen, der eine verpflichtende elektronische Arbeitszeiterfassung u. a. für geringfügig Beschäftigte vorsah, die letztlich jedoch (noch) nicht realisiert wurde. Eine Anpassung des Arbeitszeitrechts scheint derweil in nicht allzu ferner Zukunft zu erwarten zu sein.
Die Folgen der CCOO-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied mit Urteil vom 14. Mai 2019 (CCOO-Entscheidung, Az. C-55/18), dass die Mitgliedsstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer erfasst werden kann. Denn nur auf diese Weise könne die Einhaltung der Arbeitszeitregeln und damit der beabsichtigte Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleistet werden.
Es folgte eine lebhafte Diskussion, welche Folgen sich aus der Entscheidung für den Gesetzgeber und die Arbeitgeber in Deutschland ergeben. Während einige aus der Entscheidung folgerten, dass der Gesetzgeber nunmehr die Arbeitgeber zu einer vollumfänglichen Arbeitszeiterfassung (Beginn, Ende, Dauer) verpflichten müsse – so z. B. von der Linkspartei und den Grünen gefordert – stieß diese Auslegung an anderer Stelle auf Unverständnis. So stellte Prof. Dr. Hanau, Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Helmut-Schmidt Universität in Hamburg, in seiner Stellungnahme als Sachverständiger vor dem Bundesausschuss für Arbeit und Soziales heraus, dass die Anträge wohl auf einem Missverständnis beruhen würden. So habe der EuGH in seiner Entscheidungsbegründung die flächendeckende Einführung von Systemen zur Aufzeichnung der Arbeitszeit nicht angeordnet. Es sei lediglich von einer Messung bzw. einem Feststellen der Arbeitszeit die Rede. Das sei ein elementarer Unterschied.
Es kristallisierte sich heraus, dass die Rechtsprechung des EuGH nach herrschender Meinung jedenfalls keine unmittelbare Wirkung auf die Arbeitszeiterfassung in privaten Unternehmen entfaltet. Insbesondere kann das bestehende
deutsche Arbeitszeitrecht nicht in einer Art und Weise unionsrechtskonform ausgelegt werden, die zu einer Pflicht zur Aufzeichnung der gesamten Arbeitszeit führt. Es war und ist weiterhin die Aufgabe des deutschen Gesetzgebers, europäische Richtlinien in nationales Recht zu überführen. Diese Aufgabe kann ihm auch nicht von der nationalen Gerichtsbarkeit abgenommen werden. Zwar können Richter richtlinienwidrige Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lassen, eine Ergänzung nationalen Rechts kann derweil jedoch nicht erfolgen.
Aktueller Stand
Zu einer Umsetzung der Vorgaben des EuGH ins nationale Recht kam es bisher nicht. Das deutsche Arbeitszeitrecht kennt keine grundsätzliche Pflicht zur vollumfänglichen Erfassung der Arbeitszeit. Aus § 16 Abs. 2 ArbZG folgt lediglich die Pflicht zur Erfassung der „über die werktägliche Arbeitszeit […] hinausgehende[n] Arbeitszeit“. Der historische Gesetzgeber war bestrebt, durch die Begrenzung der Nachweispflicht „unnötigen Aufwand“ bei der Arbeitszeiterfassung zu vermeiden.
Soweit der Gesetzgeber der Ansicht war, dass die grundsätzliche Konzeption des Arbeitszeitgesetzes nicht ausreichend ist, hat er Sonderregelungen für bestimmte Branchen und Tätigkeiten in Form einer umfassenden Dokumentationspflicht geschaffen. Eine solche ist z. B. im Bereich der geringfügigen Beschäftigung vorgeschrieben. § 17 Abs. 1 des Mindestlohngesetzes (MiLoG) enthält die Verpflichtung, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit von Arbeitnehmern in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und den im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Wirtschaftszweigen und -bereichen spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertages aufzuzeichnen und diese Aufzeichnungen mindestens zwei Jahre beginnend ab dem für die Aufzeichnung maßgeblichen Zeitpunkt aufzubewahren. Art und Weise der Aufzeichnung sind nicht vorgegeben.
Jüngste Entwicklungen
Bereits der Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP enthielt in Kenntnis der Rechtsprechung des EuGH keine klare Zielrichtung. Es wurde lediglich eine grobe Richtung vorgegeben: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“
Welche Gesetzesänderungen notwendig und sinnvoll sind, wird weiterhin kontrovers diskutiert. Darauf wies auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage einiger Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE vom 5. August 2021 (BT-Drs. 19/31886) hin: „Die Frage, welche gesetzgeberischen Konsequenzen aus dem EuGH-Urteil für Deutschland erwachsen, wird in der Literatur, zwischen den Sozialpartnern und innerhalb der Bundesregierung kontrovers diskutiert. Daher ist für einen Ausgleich der verschiedenen Perspektiven Gründlichkeit geboten.“
Einen ersten Vorstoß in Richtung einer Verschärfung der Dokumentationspflichten enthielt ein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 1. Februar 2022 (Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Änderung im Bereich der geringfügigen Beschäftigung). § 17 Abs. 1 S. 1 des MiLoG sollte wie folgt gefasst werden: „Ein Arbeitgeber, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach § 8 Absatz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch oder in den in § 2a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes genannten Wirtschaftsbereichen oder Wirtschaftszweigen beschäftigt, ist verpflichtet, den Beginn der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen und diese Aufzeichnungen mindestens zwei Jahre beginnend ab der für die Aufzeichnung maßgeblichen Zeitpunkt elektronisch aufzubewahren.“
Eine solche Änderung hätte laut Schätzungen der Bundesregierung dazu geführt, dass von 1,85 Mio. Betrieben, die unter den Geltungsbereich der Dokumentationspflicht fallen, noch 1,5 Mio. Betriebe (ca. 81,1 %) eine elektronische Zeiterfassung einführen müssten. Betroffen gewesen wären vornehmlich kleinere Betriebe, die jedoch auf „für sie erhältliche einfachere und mithin günstigere Lösungen“ hätten zurückgreifen können. Man schätzte, dass für die Einführung der elektronischen Zeiterfassung pro Betrieb mit einer einmaligen Belastung für die Anschaffung von EUR 300,00 zu rechnen wäre. Eine Umsetzung hätte bis zum 1. Oktober 2022 erfolgen müssen.
Der Entwurf wurde insbesondere von den Arbeitgeberverbänden als zu weitgehend kritisiert, während er den Gewerkschaften noch nicht weit genug ging. Kurz bevor der Regierungsentwurf verabschiedet wurde, entfernte man jedoch die weitergehende Dokumentationspflicht und somit die Notwendigkeit für die Arbeitgeber, ein elektronisches und manipulationssicheres System zur täglichen Aufzeichnung der Arbeitszeit anzuschaffen und zu nutzen.
In der Sitzung des Bundeskabinetts am 23. Februar 2022 wurde der finale Gesetzesentwurf verabschiedet und zugleich beschlossen, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie das Bundesministerium der Finanzen gemeinsam prüfen werden, wie durch elektronische und manipulationssichere Arbeitszeitaufzeichnungen die Durchsetzung des Mindestlohns weiter verbessert werden kann, ohne dass insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen durch die Anschaffung von Zeiterfassungssystemen beziehungsweise digitalen Zeiterfassungsanwendungen übermäßig belastet werden. Hierzu soll die Entwicklung einer digitalen Zeiterfassungsanwendung, die den Arbeitgebern kostenfrei zur Verfügung gestellt werden kann, geprüft werden.
Keine Pflicht zur elektronische Arbeitszeiterfassung
Somit kennt das deutsche Arbeitszeitrecht weiterhin keine Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung. Auch aus den Ausführungen des EuGH (CCOO-Entscheidung, Az. C-55/18) ergibt sich keine Notwendigkeit zu einer Zeiterfassung auf informationstechnologischer Grundlage. Ebenso muss das verwendete System nicht zwangsläufig manipulationssicher sein. Kaum realisierbar wäre diese Vorgaben zudem immer dort, wo Arbeitsleistung ohne feste Betriebsstätte oder Zugriff auf informationstechnische Mittel erbracht wird. Dieses Verständnis trägt auch der Schlussantrag des Generalanwalts Pitruzzella, welcher neben der elektronischen Form die Aufzeichnung in Papierform oder „jedes andere geeignete Instrument“ für die Zeiterfassung als praktikabel erachtet hat. Sei es nun der händisch geführte Stundenzettel, das Abhaken eines festen Zeitplans (Schichtarbeit) oder eine fortschrittliche elektronische Zeiterfassung. Voraussetzung bleibt stets, dass die Aufzeichnungen dazu geeignet sind, die geleistete Arbeitszeit einwandfrei zu dokumentieren.
Exkurs: Initiativrecht des Betriebsrats
In dem Zusammenhang mit der Arbeitszeiterfassung stellt sich immer wieder die Frage, ob der Betriebsrat die Einführung eines (elektronischen) Zeiterfassungssystems initiieren bzw. erzwingen kann. Diese Frage ist höchstrichterlich nicht abschließend geklärt. Derzeit ist ein Verfahren beim Bundesarbeitsgericht anhängig, das sich mit dieser Fragestellung beschäftigt (BAG, Az.: 1 ABR 22/21; vormals LAG Hamm, Beschluss vom 27.7.2021 – 7 TaBV 79/20). Jüngst entschied das LAG Düsseldorf über die Frage der Einsetzung einer Einigungsstelle mit dem Gegenstand der Einführung eines elektronischen Arbeitszeiterfassungssystems auf Betreiben des Betriebsrats hin (LAG Düsseldorf, Beschluss v. 24.8.2021 –
3 TaBV 29/21). Das Landesarbeitsgericht gab dem Antrag des Betriebsrats statt und setzte die Einigungsstelle ein, da nach seiner Ansicht ein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung nicht offensichtlich ausgeschlossen sei.
Zur Begründung führte es aus, dass das BAG zwar im Jahr 1989 (BAG 28.11.1989 – 1 ABR 97/88) entschieden habe, dass dem Betriebsrat kein Initiativrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zukomme, da eine solche Auslegung mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer und der damit zusammenhängenden Abwehrfunktion des fraglichen Mitbestimmungsrechts unvereinbar sei. Seitdem habe es diese Rechtsprechung jedoch nicht mehr bestätigt. Kritik habe das Urteil inzwischen von der Instanzrechtsprechung und dem Schrifttum erfahren. Da es sich somit um eine vereinzelte und zudem eine erhebliche Zeit zurückliegende Entscheidung handelt, die beachtliche Gegenstimmen hat, sei die Rechtsprechung des BAG nicht als „gefestigt“ anzusehen. Weiter wird kritisiert, sich die damalige Einordnung des BAG nur auf § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG (Einrichtung und Anwendung von technischen Einrichtungen) bezogen habe, ein Initiativrecht hingegen auch aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (u. a. Regelungen zum Gesundheitsschutz) folgen könne. Da aktuell ein Rechtsbeschwerdeverfahren zu diesem Thema beim BAG anhängig sei und eine Pflicht zur Einführung eines Zeiterfassungssystems schon generell aus der Rechtsprechung des EuGH folge, könne die Einigungsstelle jedenfalls nicht offensichtlich unzuständig sein.
Es sprechen jedoch weiterhin gewichtige Argumente gegen die Annahme eines Initiativrechts des Betriebsrats. Zwar umfasst der Wortlaut des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG – anders als
§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG – auch die „Einführung“ technischer Einrichtungen, allerdings muss die technische Einrichtung dazu bestimmt sein, Verhalten oder Leistung von Arbeitnehmern zu überwachen, was bei einer reinen Arbeitszeiterfassung nicht der Fall ist. Beabsichtigt der Arbeitgeber zudem gar keine Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung, besteht schon keine Gefahr einer Leistungs- und Verhaltenskontrolle der Arbeitnehmer. Mithin besteht der das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats erst auslösende drohende Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer nicht. Die Zubilligung eines Initiativrechts würde vielmehr zu einem nichtgerechtfertigten Eingriff in die unternehmerische Autonomie des Arbeitgebers führen.
Ein entsprechendes Initiativrecht ergibt sich auch nicht aus
§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Das Mitbestimmungsrecht bezieht sich allein auf Maßnahmen und Entscheidungen des Arbeitgebers, die der Arbeitgeber gerade aus Gründen des Gesundheitsschutzes ergreift oder ergreifen muss. Es müsste eine Gefährdung bestehen, die im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung festzustellen wäre. Die bloße Besorgnis einer Überschreitung von Höchstarbeitszeiten ohne eine entsprechende Aufzeichnung ist, auch vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung, nicht ausreichend, um dem Arbeitgeber eine Dokumentationspflicht aufzuerlegen.
Eine klare Positionierung des BAG zur Frage des Initiativrechts des Betriebsrats im Rahmen der zu erwartenden Entscheidung ist wünschenswert. Sie darf mit Spannung erwartet werden.
Ausblick
Erste zaghafte Schritte in Richtung einer bereichspezifischen strengeren Dokumentationspflicht wurde getan. Ob es sich bei einem objektiven, verlässlichen und zugänglichen System zur Arbeitszeiterfassung zwingend um ein elektronisches System handeln muss, darf jedoch bezweifelt werden. Die kontroverse Diskussion über das Thema Arbeitszeiterfassung setzt sich nun schon seit über zweieinhalb Jahren fort. Mit einem zeitnahen Ende der Diskussionen ist – erfreulicherweise – nicht zu rechnen. Der Wille des Gesetzgebers zur Anpassung des Arbeitszeitgesetzes scheint vorhanden zu sein. Dabei hat er nicht nur die Arbeitszeiterfassung, sondern eine Flexibilisierung der wöchentlichen Arbeitszeiten im Blick. Es bleibt abzuwarten auf welche Änderungen man sich in Zukunft verständigen wird, es ist zu hoffen, dass sie maßvoll gewählt werden und die Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ausgewogenem Maße berücksichtigen. Ein überschießender Aktionismus hingegen ist zur Ausgestaltung der Arbeitswelt 4.0 ebenso wenig zielführend, wie eine fortdauernde Untätigkeit.
Autor
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Hamburg
Urteilsbesprechungen
Die Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit des Arbeitgebers zur Inanspruchnahme des Urlaubs besteht auch gegenüber langzeiterkrankten Arbeitnehmern. Wird sie nicht erfüllt, verfällt der Urlaub dennoch 15 Monate nach Ende des jeweiligen Jahres, wenn der Arbeitnehmer während des jeweiligen Jahres durchgehend arbeitsunfähig erkrankt war. Soweit dies nicht der Fall ist, bedarf es noch einer Klärung durch den EuGH.
BAG, Urteil vom 07.09.2021 – 9 AZR 3/21 (A)
Der Fall
Der klagende Arbeitnehmer kündigt sein mit der beklagten Arbeitgeberin bestehendes Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen zum 31. Dezember 2019. Vom 18. November 2015 bis zum Beschäftigungsende ist er arbeitsunfähig erkrankt. Ihm steht ein vertraglicher Anspruch von 30 Urlaubstagen pro Kalenderjahr zu. Die Beklagte gewährte ihm im Jahr 2015 an 21 Arbeitstagen Urlaub, in den Jahren 2016 und 2017 keinen Urlaub. Sie hatte ihn weder aufgefordert, Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass der Urlaub verfallen kann. Der Kläger verlangt Abgeltung von 9 Urlaubstagen für das Jahr 2015 sowie von jeweils 30 Urlaubstagen für die Jahre 2016 und 2017. Die Klage hat in der ersten und zweiten Instanz keinen Erfolg.
Die Entscheidung
Das BAG weist die Klage hinsichtlich der Urlaubsabgeltung für die Jahre 2016 und 2017 ebenfalls ab. Bezüglich der Urlaubsabgeltung für das Jahr 2015 setzt es das Verfahren analog § 148 ZPO aus, bis der EuGH über ein bereits anhängiges gleichgelagertes Vorlageverfahren (BAG, Beschluss vom 07.07.2020 – 9 AZR 401/19 (A)) entschieden hat.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs für die Jahre 2016 und 2017. Der Urlaub ist nach Ablauf von jeweils 15 Monaten nach Ende des jeweiligen Jahres gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen. Nach ständiger Rechtsprechung ist § 7 Abs. 3 BUrlG unionsrechtskonform so auszulegen, dass der Urlaub bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers 15 Monate nach Ende des jeweiligen Urlaubsjahres erlischt, obwohl es dem Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen.
Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte es unterlassen hatte, den Kläger über den Urlaub sowie über die Verfallsmöglichkeit ordnungsgemäß zu informieren und ihn zur Inanspruchnahme aufzufordern. Zwar verlangt das EU-Recht (Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG), dass ein Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer in der Lage ist, seinen Urlaub zu nehmen; er muss den Arbeitnehmer also – ggf. förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Kalenderjahres (bzw. des Übertragungszeitraums gemäß § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG) erlischt. Erfüllt der Arbeitgeber diese Obliegenheiten nicht, erlischt der Urlaub nicht. Diese Obliegenheiten bestehen grundsätzlich auch bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern. Allerdings verfällt der Urlaub gleichwohl, wenn es aufgrund der Langzeiterkrankung – was erst im Nachhinein feststellbar ist – objektiv unmöglich gewesen wäre, durch die Mitteilung den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Urlaub zu nehmen. Für den Verfall des Urlaubs ist dann nicht die Verletzung der Hinweisobliegenheiten kausal, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit.
Dies konnte das BAG selbst entscheiden, da diese Voraussetzungen insoweit durch den EuGH geklärt sind (EuGH, Urteil vom 25.06.2020 – C-762/18 und C-37/19 – Varhoven kasationen sad na Republika Bulgaria). Anders verhält es sich jedoch bezüglich des Urlaubs aus dem Jahr 2015. Da der Kläger im Jahr 2015 nicht durchgehend arbeitsunfähig war, hätte zumindest die Möglichkeit bestanden, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. In dieser Situation ist noch nicht eindeutig geklärt, unter welchen Umständen der Urlaub verfallen kann, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit nicht erfüllt hat. Hierzu ist bereits eine EuGH-Vorlage anhängig (BAG, Beschluss vom 07.07.2020 – 9 AZR 401/19 (A)), sodass das hiesige Verfahren insoweit analog
§ 148 ZPO bis zur Entscheidung des EuGH auszusetzen ist.
Unser Kommentar
Die Entscheidung stellt einen weitere Baustein im Urlaubs-„Mosaik“ des BAG dar. Seit mehr als zehn Jahren ändert sich das deutsche Urlaubsrecht grundlegend dadurch, dass der EuGH sukzessive neue – in der Regel arbeitnehmerfreundliche – Entscheidungen fällt, die auch in Deutschland zu befolgen sind. Der letzte große Umbruch lag in der Statuierung der oben dargestellten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers (EuGH, Urteil vom 06.11.2018 – C-684/16 – Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften); werden diese nicht erfüllt, können Urlaubsansprüche grundsätzlich nicht verfallen. Diese Aussage kann jedoch mit anderen – arbeitgeberfreundlichen – Aussagen des EuGH kollidieren, wie der vorliegende Fall anschaulich zeigt. Nach dem deutschen Gesetzeswortlaut in § 7 Abs. 3 BUrlG ist der Urlaub nur ausnahmsweise in das nächste Kalenderjahr übertragbar und erlischt dann jedenfalls nach drei Monaten. Dem hatte der EuGH schon vor längerer Zeit einen Riegel vorgeschoben, indem eine Übertragbarkeit von 15 Monaten angeordnet hat, wenn der Arbeitnehmer krankheitsbedingt daran gehindert war, den Urlaub zu nehmen (EuGH, Urteil vom 22.11.2011 – C-214/10 – KHS; EuGH, Urteil vom 29.11.2017 – C-214/16 – King). Nach und nach setzt sich also das Mosaik weiter zusammen, indem die letzten Sonderkonstellationen geklärt werden. Dies dauert leider (zu) lange. Arbeitgeber sollten beim Thema Urlaubsrecht daher immer auf dem neuesten Stand sein und die Arbeitnehmer im Zweifel lieber häufiger und ausführlicher informieren, um vermeidbare Risiken auszuschließen.
Autor
Dr. Paul Gooren, LL.M. (Chicago)
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Berlin
Nach einer Entscheidung des BAG unterfallen die im Rahmen eines allgemeinen Lockdowns zur Pandemiebekämpfung angeordneten behördlichen Betriebsschließungen nicht dem vom Arbeitgeber zu tragenden Betriebsrisiko. Können Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer aufgrund einer Schließungsverfügung nicht einsetzen, liegt zwar Annahmeverzug vor. Das Risiko der Annahmeunmöglichkeit muss der Arbeitgeber aber nicht als Teil des Betriebsrisikos tragen.
BAG, Urteil vom 13.10.2021, 5 AZR 211/21
Der Fall
Die Parteien stritten über die Vergütung für den Monat April 2020 während des ersten Corona-Lockdowns. Die beklagte Arbeitgeberin betreibt einen Handel mit Nähmaschinen und Zubehör und unterhält hierzu eine Filiale in Bremen. Die Klägerin ist dort als geringfügig Beschäftigte zu einer Monatsvergütung von EUR 432,00 im Verkauf tätig.
Aufgrund der Allgemeinverfügung der Freien Hansestadt Bremen vom 23. März 2020 zur Eindämmung des Coronavirus schloss die Arbeitgeberin das Verkaufsgeschäft und zahlte der Klägerin für den Monat April 2020 keinen Lohn.
Mit der Klage begehrte die Klägerin die Zahlung des Lohns für den Monat April 2020 und stützte ihre Klage darauf, dass die Schließung nach der Betriebsrisikolehre ein Fall des von der Arbeitgeberin zu tragenden Betriebsrisikos sei. Dies gelte auch in der Pandemie. Die Arbeitgeberin verweigerte die Zahlung und berief sich darauf, dass die pandemiebedingten Schließungen das allgemeine Lebensrisiko betreffen und nicht das von ihr zu tragende Betriebsrisiko.
Die Entscheidung
Nachdem die Klägerin in den Vorinstanzen obsiegte, war die Revision der Arbeitgeberin erfolgreich. Ein Anspruch der Klägerin auf Vergütung wegen Annahmeverzugs nach §§ 615
S. 1, 611a Abs. 2 BGB besteht nicht.
Das BAG stellte zunächst fest, dass mangels Einsatzes im April 2020 Annahmeverzug eingetreten sei. Die Klägerin sei trotz Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit nicht eingesetzt worden. Ob die Klägerin die Arbeitsleistung tatsächlich oder wörtlich angeboten habe, könne dahinstehen, da aufgrund der Allgemeinverfügung offenkundig gewesen sei, dass die Arbeitgeberin das Angebot nicht habe annehmen können.
Während das LAG noch festgehalten hatte, dass ein Fall der Annahmeunwilligkeit der Arbeitgeberin vorgelegen habe, da die Klägerin mit anderen Aufgaben als dem Verkauf befasst hätte werden können, hielt dies der Überprüfung durch das BAG nicht stand. Zum einen hatte das LAG nicht den Inhalt der Arbeitspflicht festgestellt, sodass gar nicht feststand, ob der Klägerin überhaupt andere Aufgaben hätten zugewiesen werden können. Zum anderen hätte die unterlassene Möglichkeit der Beschäftigung mit anderen Aufgaben keinen Anspruch auf Annahmeverzugslohn begründet, sondern ggf. einen Anspruch auf Schadensersatz ausgelöst.
Sodann setzte sich das BAG mit den Folgen einer Annahmeunfähigkeit auseinander. Während der Verzugslohnanspruch nach § 615 S. 1 BGB kein Verschulden des Arbeitgebers voraussetze, gelten § 615 S. 1, 2 BGB entsprechend in den Fällen in denen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trage. Die Gerichte hätten den Willen des Gesetzgebers insoweit zu respektieren und Kriterien herauszuarbeiten, die eine Risikotragung des Arbeitgebers rechtfertigen. Im vorliegenden Fall trage der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls jedoch nicht.
Nach der Rechtsprechung zur Betriebsrisikolehre trage der Arbeitgeber das Betriebsrisiko, da er den Betrieb leite, die betrieblichen Abläufe organisiere, die Verantwortung trage und die Erträge beziehe. Deshalb müsse er dafür einstehen, dass die Arbeitsleistung aus Gründen unmöglich werde, die in seinem Einflussbereich liegen. Über diese internen Störungen hinaus trage der Arbeitgeber auch das Risiko für die von außen auf das Unternehmen einwirkenden Umstände, die sich als höhere Gewalt darstellen oder für Entscheidungen aufgrund äußerer Einflüsse. Ob der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls bei einer durch die Corona-Pandemie bedingten Betriebsschließung trage, bedürfe der Differenzierung.
Nehme der Arbeitgeber die Pandemie zum Anlass, aus eigener Entscheidung den Betrieb zu schließen, treffe ihn aufgrund der autonomen Entscheidung grundsätzlich das Betriebsrisiko.
Müsse der Arbeitgeber aufgrund einer behördlichen Anordnung im Rahmen der Pandemiebekämpfung den Betrieb schließen, lasse sich die Annahme, der Arbeitgeber trage in diesem Fall stets das Risiko des Arbeitsausfalls, nicht mit höherer Gewalt begründen. Als solche stelle sich allenfalls die Pandemie dar. Die Ursache der Betriebsstörung liege vielmehr in einer hoheitlichen Maßnahme. Der Arbeitgeber trage nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn die behördlich verfügte Betriebsschließung im Rahmen allgemeiner staatlicher Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung erfolge und betriebsübergreifend zum Schutz der Bevölkerung diene. In einem solchen Fall realisiere sich gerade nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Risiko. Das allgemeine Risiko, das Folge letztlich politischer Entscheidungen zur Eindämmung des die Allgemeinheit insgesamt treffenden Infektionsrisikos sei, müsse der Arbeitgeber nicht tragen.
Dass der Staat für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte die finanziellen Folgen durch den erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld abgemildert habe, stehe dieser Bewertung nicht entgegen. Lägen die Voraussetzungen für Kurzarbeit vor, dürfte der Arbeitgeber aufgrund seiner Rücksichtnahmepflicht verpflichtet sein, von diesem Instrument Gebrauch zu machen. Darauf und auf etwaige nachgelagerte Ansprüche komme es für den Anspruch auf Annahmeverzugslohn jedoch nicht an.
Unser Kommentar
Die Entscheidung des BAG mag man als Paukenschlag bezeichnen. Immerhin stellt sie die bislang sehr großzügige Beantwortung der Frage, was vom Begriff des Betriebsrisikos erfasst ist, infrage. Systematisch prüft das BAG die einzelnen Voraussetzungen des Annahmeverzugs und sodann der Betriebsrisikolehre und differenziert zwischen Schließungen aufgrund Arbeitgeberentscheidung und solchen, die ohne zwischengeschaltete Arbeitgeberentscheidung umzusetzen waren.
Fast genauso interessant wie die entscheidungsrelevante Frage der Reichweite des Betriebsrisikos ist das Zusammenspiel im Bereich von Kurzarbeit und etwaigen Schadensersatzansprüchen. Während es im vorliegenden Fall darauf nicht ankam, da die Klägerin nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, weist das BAG darauf hin, dass ein Arbeitgeber ggf. aufgrund seiner Rücksichtnahmepflicht den Bezug von Kurzarbeitergeld ermöglichen müsse. Ob ein Arbeitgeber tatsächlich unter teilweise hohem administrativen Aufwand öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen muss und wie weit Bemühungen gehen müssen – z. B. wenn mit dem Betriebsrat keine kurzfristige Einigung über die Einführung von Kurzarbeit erreicht werden kann – bleibt abzuwarten.
Unabhängig von der rechtlichen Verpflichtung dürften sich einige Arbeitgeber aber zum Zwecke einer langfristigen Personalstrategie mit der Frage auseinandersetzen, ob im Rahmen des wirtschaftlich Vertretbaren Zahlungen an Mitarbeiter aufrecht erhalten werden, um auch nach Ende der Pandemie auf Mitarbeiter zurückgreifen zu können und arbeitsfähig zu sein.
Autorin
Dr. Astrid Schnabel, LL.M. (Emory)
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Hamburg
Eine in einer Versorgungsregelung als Voraussetzung für Leistungen der betrieblichen Altersversorgung festgelegte Höchstaltersgrenze der Vollendung des 55. Lebensjahres ist zulässig.
BAG, Urteil vom 21.09.2021 – 3 AZR 147/21
Der Fall
Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf betriebliche Altersversorgung.
Die im Jahr 1961 geborene Klägerin war seit dem 18.7.2016 bei dem beklagten Arbeitgeber zunächst befristet und seit dem 14.11.2016 unbefristet beschäftigt.
Nach der geltenden Versorgungsordnung wurden im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung alle Beschäftigten bei der Unterstützungskasse angemeldet, die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stehen und bei dessen Beginn das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
Der Arbeitgeber meldete die Klägerin nicht bei der Unterstützungskasse an, weil sie bei Beschäftigungsbeginn ihr 55. Lebensjahr bereits vollendet hatte. Dagegen wendete sich die Klägerin mit ihrer Klage.
Die Entscheidung
Die Klägerin berief sich auf die Unwirksamkeit der Altersgrenze und unterlag.
Das BAG führte in seiner Entscheidung aus, dass die festgelegte Altersgrenze zur Aufnahme in das Versorgungssystem von 55 Jahren sachlich gerechtfertigt sei.
Auch Arbeitgeber dürfen zur Gestaltung der betrieblichen Altersversorgung in Versorgungsordnungen das Mittel der Festsetzung von Altersgrenzen für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrenten nutzen, § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG.
Der Ausschluss Beschäftigter von Versorgungsleistungen, wenn diese bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 55. Lebensjahr bereits vollendet haben, sei – so das BAG – auch unter Berücksichtigung der Anhebung der Regelaltersgrenze rechtlich nicht zu beanstanden. Er beeinträchtige das legitime Interesse der Beschäftigten daran, sich im Lauf des Erwerbslebens eine angemessene Altersversorgung aufzubauen, „nicht übermäßig“.
Dabei geht das Gericht von einem typischen Erwerbsleben von mindestens 40 Jahren als Bezugsgröße aus. Auf dieser Grundlage sah der 3. Senat eine Höchstaltersgrenze für den Zugang zu einer betrieblichen Altersversorgung von 50 Jahren als „gerade noch hinnehmbar“ an. Nicht mehr angemessen sei demgegenüber eine Höchstaltersgrenze der Vollendung des 55. Lebensjahres nach Ablauf einer zehnjährigen Wartezeit, weil damit faktisch eine Altersgrenze der Vollendung des 45. Lebensjahres bestehe, der Ausschluss also bei typisierender Betrachtung das halbe Erwerbsleben betreffe.
Eine mittelbare Benachteiligung i.S.d. § 3 Abs. 2 AGG von Frauen wegen ihres Geschlechts lag aus Sicht des BAG ebenfalls nicht vor. Diese folge insbesondere nicht daraus, dass Frauen häufiger als Männer von der streitgegenständlichen Altersgrenze betroffen wären. Bei typisierender Betrachtung sei mit dem Wiedereintritt von Frauen in das Berufsleben nach Zeiten der Kindererziehung bereits vor der Vollendung des 55. Lebensjahres zu rechnen. Die Klägerin behaupte auch nicht, dass mehr Frauen als Männer nach der Vollendung des 55. Lebensjahres in ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten träten. Das Recht auf selbstbestimmte Gestaltung des Familienlebens werde durch die Altersgrenze folglich nicht rechtswidrig beeinträchtigt.
Unser Kommentar
Das BAG folgt seiner ständigen Rechtsprechung und bestätigt mit dieser Entscheidung die Urteile vom 18.3.2014 –
3 AZR 69/12 – und vom 12.2.2013 – 3 AZR 100/11 – zur Festsetzung von Altersgrenzen in betrieblichen Versorgungssystemen. Entscheidend ist auch weiterhin, ob im Rahmen eines typischen Erwerbslebens von mindestens 40 Jahren noch ein angemessener Zeitraum verbleibt, um vor dem Erreichen der Höchstaltersgrenze eine betriebliche Versorgung aufzubauen oder für angemessene Alternativen zu sorgen.
Das Gericht befasste sich hier mit geschlechtsbezogenen Unterschieden zur Dauer eines typischen Erwerbslebens und zog Statistiken der Deutschen Rentenversicherung aus dem Jahr 2019 heran. Danach lagen im Jahr 2019 den Versicherungsrenten in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich 39,0 Versicherungsjahre zugrunde. Bei Frauen belief sich diese Zahl auf 36,5, bei Männern auf 41,9 Versicherungsjahre.
Ob und wie sich statistische Veränderungen auf die Entscheidungen des BAG im Hinblick auf Höchstaltersgrenzen in Versorgungsordnungen zukünftig auswirken, bleibt dabei abzuwarten.
Autor
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Frankfurt a.M.
Ein Anspruch auf Zustimmung zur begehrten Brückenteilzeit besteht dann nicht, wenn bei Antragstellung die Mindestankündigungsfrist von drei Monaten nicht mehr erfüllt werden kann und der Arbeitgeber auf die Einhaltung der Mindestankündigungsfrist nicht verzichtet. Eine Auslegung des Antrags als solchem auf Brückenteilzeit zum nächstmöglichen Termin scheidet aus, soweit dem Arbeitgeber keine konkreten Anhaltspunkte für eine hilfsweise Verkürzung oder Verschiebung der Brückenteilzeit bekannt sind.
BAG, 07.09.2021 – 9 AZR 595/20
Der Fall
Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, dem Antrag der Klägerin auf zeitlich begrenzte Verringerung der Arbeitszeit (Brückenteilzeit) zuzustimmen. Die Klägerin ist seit 2007 bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte gewährte der Klägerin auf Grundlage von § 12 Abs. 1 BAT/AOK-Neu für die Zeiträume 1. April 2012 - 31. März. 2019 sowie 1. April 2019 - 31. März 2020 eine Reduzierung ihrer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit auf Basis einer Vollzeittätigkeit auf zuletzt 33 Wochenstunden. Die Klägerin begehrte mit Antrag vom 22. Januar 2020 unter Hinweis auf die Pflegebedürftigkeit ihres Vaters erneut die Reduzierung ihrer vertraglichen Arbeitszeit für den Zeitraum 1. April 2020 - 31. März 2021. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass die Angaben der Klägerin ohne Vorlage von Nachweisen, wie einem Attest oder Gutachten, nicht ausreichten.
Die Klägerin vertritt die Auffassung, dass ihr nach § 9 a Abs. 1 TzBfG ein Anspruch auf die zeitlich begrenzte Verringerung ihrer Arbeitszeit zustehe. Die Beklagte ist der Auffassung, der Antrag der Klägerin sei wegen der Unterschreitung der dreimonatigen Ankündigungsfrist (§ 9 a Abs. 3 S. 1 iVm § 8 Abs. 2 S. 1 TzBfG) unwirksam. Einen Verzicht auf diese Mindestfrist habe die Beklagte nicht erklärt.
Die Vorinstanzen hatten der Klage stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Revision der Beklagten. Die Klägerin hat den Rechtsstreit in der Revisionsinstanz in der Hauptsache für erledigt erklärt. Dem stimmte die Beklagte nicht zu.
Die Entscheidung
Die Revision der Beklagten hat hingegen Erfolg. Das BAG kam zu dem Ergebnis, dass kein Anspruch auf Zustimmung zur Brückenteilzeit für den beantragten Zeitraum besteht. Voraussetzung des Anspruchs auf zeitlich begrenzte Reduzierung der Arbeitszeit nach § 9 a TzBfG sei die Einhaltung der Mindestankündigungsfrist von drei Monaten gem. § 9 a Abs. 3 TzBfG iVm § 8 Abs. 2 S. 1 TzBfG.
Die Beklagte habe, anders als vom LAG angenommen, den Antrag auf Brückenteilzeit nicht vorbehaltlos mit der Klägerin erörtert und habe dadurch auch nicht auf die Geltendmachung des Fristversäumnisses verzichtet. Ein Arbeitgeber können zwar auf die allein zu seinem Schutz vorgesehene Ankündigungsfrist von drei Monaten verzichten, ohne dies ausdrücklich erklären zu müssen. Die Reaktion des Arbeitgebers müsse jedoch nach objektivem Empfängerhorizont eindeutig, unmissverständlich und zweifelsfrei zum Ausdruck bringen, dass er auf die Einhaltung der Ankündigungsfrist keinen Wert lege und diese in der weiteren Behandlung des Antrags auf Brückenteilzeit auch nicht mehr geltend machen werde. Dies sei etwa dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber den Antragsteller lediglich zur Konkretisierung der Verteilung der reduzierten Arbeitszeit auffordere oder der Brückenteilzeit an sich zustimme und nur die gewählte Verteilung der reduzierten Arbeitszeit ablehne. Die bloße Ablehnung des Antrags auf Brückenteilzeit unter Verweis auf betriebliche Gründe, die der beantragten Verringerung der Arbeitszeit entgegenstehen, rechtfertige hingegen nicht die Annahme eines solchen Verzichts auf die Mindestankündigungsfrist oder des Fehlens weiterer Ablehnungsgründe.
Der Antrag auf Brückenteilzeit könne auch nicht als ein Angebot auf Reduzierung der Arbeitszeit zum frühestmöglichen Zeitpunkt ausgelegt werden. Die Auslegungsgrundsätze, die bei der Bestimmung von Anträgen auf dauerhafte Arbeitszeitreduzierung (§ 8 TzBfG) zur Anwendung kommen, könnten nicht ohne weiteres auf Brückenteilzeitbegehren übertragen werden. Während es dem Mitarbeiter bei der dauerhaften Reduzierung der Arbeitszeit erkennbar um das „Ob“ der Reduzierung gehe und daher von einer hilfsweisen frühestmöglichen Gewährung ausgegangen werden könne, sei dies bei Anträgen auf Brückenteilzeit gerade nicht ohne weiteres erkennbar. Mit dem Antrag auf Brückenteilzeit (§ 9 a TzBfG) lege der Arbeitnehmer nicht nur den Beginn, sondern auch das Ende der Reduzierung der Arbeitszeit fest. Ohne konkrete Anhaltspunkte könne der Arbeitgeber daher nicht annehmen, dass der Arbeitnehmer hilfsweise zu dem von ihm benannten Zeitraum eine Verschiebung oder eine Verkürzung des Reduzierungszeitraums ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt begehrt. Solche konkreten Anhaltspunkte hätten im konkreten Fall nicht vorgelegen. Es sei nicht bekannt gewesen, ob die Klägerin im Anschluss an die begehrte Brückenteilzeit eine andere Unterstützung für ihren pflegebedürftigen Vater habe. Dem Antrag auf Brückenteilzeit der Klägerin könne auch nicht hilfsweise die Verkürzung des Reduzierungszeitraums beginnend mit dem frühestmöglichen Zeitraum und endend mit dem beantragten 31. März 2021 entnommen werden. Ein dahin ausgelegter Antrag würde den Mindestreduzierungszeitraum von einem Jahr (§ 9 a Abs. 1. S. 2 TzBfG) unterschreiten und damit die Voraussetzungen des Anspruchs nicht erfüllen.
Unser Kommentar
Das BAG bestätigt seine bisherige Rechtsprechung zur Auslegung von Brückenteilzeitbegehren und stärkt den vom Gesetzgeber vorgesehenen Schutz des Arbeitgebers. Die dreimonatige Mindestankündigungsfrist dient allein dem Zweck, Arbeitgebern die Möglichkeit zu verschaffen, sich auf den vorübergehenden Teilausfall der Arbeitskraft des Arbeitnehmers einzustellen und seine Abläufe entsprechend anzupassen oder für einen Ersatz zur Abdeckung des bestehenden Arbeitskräftebedarfs zu sorgen. Ein Verzicht auf diesen Schutz kann zutreffender Weise nur angenommen werden, wenn die Beantwortung des Antrags auf Brückenteilzeit zweifelsfrei ergibt, dass der Arbeitgeber an der dreimonatigen Schutzfrist nicht festhält. Ein anderes würde dem hinter der Ankündigungsfrist stehenden Schutzgedanken entgegenstehen.
Für Arbeitgeber verbleibt es jedoch bei der Ungewissheit, wann der Arbeitnehmer nach objektivem Empfängerhorizont von einem Verzicht ausgehen kann. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist Arbeitgebern daher zu raten, in einer Rückmeldung oder Ablehnung des Brückenteilzeitantrags neben den inhaltlichen Ablehnungsgründen oder dem Verweis auf die fehlende Umsetzungsmöglichkeit der gewünschten Arbeitszeitverteilung auch auf die Nichteinhaltung der Mindestankündigungsfrist zu verweisen.
Zuzustimmen ist dem BAG auch insoweit, als von einer flexiblen Antragstellung zum nächstmöglichen Termin nur ausgegangen werden kann, wenn eindeutige Anhaltspunkte ein solches Verständnis des Brückenteilzeitantrags nahelegen. Jedoch wird sich in der Praxis auch hier die Frage stellen, wann diese eindeutigen Anhaltspunkte vorliegen. Dies gilt insbesondere, wenn der Antrag die Mindestzeit der Reduzierung der Arbeitszeit von einem Jahr (§ 9a Abs. 1 S. 2 TzBfG) überschreitet und somit eine Verkürzung der Brückenteilzeit innerhalb des beantragten Zeitraums in Betracht kommt. Vor dem Hintergrund einer Auslegung von Anträgen auf Brückenteilzeit ist daher im Einzelfall dennoch Vorsicht geboten. Je nach Dauer, Fallgestaltung und Begründung des Brückenteilzeitantrags durch den Arbeitnehmer ist Arbeitgebern daher zur Schaffung klarer Verhältnisse und der Vermeidung einer arbeitgeberseitig nicht gewünschten Verschiebung / Verkürzung der Brückenteilzeit auch insoweit die Aufnahme eines Hinweises auf die Nichteinhaltung der Mindestankündigungsfrist zu raten.
Autor
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Frankfurt a.M.
Der Arbeitnehmer hat auch dann Anspruch auf Annahmeverzugslohn, wenn er auf einer Beschäftigung gemäß einem von ihm erstrittenen Weiterbeschäftigungsurteil beharrt und ein Angebot des Arbeitgebers auf Abschluss eines befristeten Prozessarbeitsverhältnisses ablehnt.
BAG, Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 205/21
Der Fall
Der Kläger machte Vergütung wegen Annahmeverzugs geltend. Die Beklagte verweigerte die Zahlung mit der Begründung, der Kläger habe es böswillig unterlassen, anderweitigen Verdienst zu erzielen. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt zum 30. September 2019. Die von dem Kläger hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage war erfolgreich. In dem klagestattgebenden Urteil aus August 2019 verurteilte das Arbeitsgericht die Beklagte zugleich, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen. Der Rechtsstreit endete mit der Rücknahme der Berufung durch die Beklagte Ende Dezember 2019. Im September 2019 bot die Beklagte dem Kläger den Abschluss einer Vereinbarung über ein befristetes Prozessarbeitsverhältnis „für die Dauer des noch laufenden Gerichtsverfahrens“ an, die der Kläger ablehnte. In dem befristeten Prozessarbeitsverhältnis sollte der Kläger Aufgaben ausüben, die nach seiner Einschätzung zu ca. 80 % der zuletzt von ihm ausgeübten Tätigkeit als „Qualitätsmanager“ entsprachen. Zudem sollte er die bisherige Vergütung, jedoch keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und keinen bezahlten Urlaub erhalten. Der Kläger forderte die Beklagte seinerseits auf, ihn entsprechend dem Urteil des Arbeitsgerichts als Qualitätsmanager weiter zu beschäftigen. Am 1. Oktober 2019 erschien der Kläger nach Aufforderung der Beklagten zur Arbeitsaufnahme im Betrieb. Da der Kläger die Unterzeichnung der Vereinbarung über ein befristetes Prozessarbeitsverhältnis verweigerte, kam es jedoch nicht zur Arbeitsaufnahme. Ab dem 1. Januar 2020 wurde der Kläger weiterbeschäftigt.
Der Kläger verlangte Vergütung wegen Annahmeverzugs für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2019. Die Beklagte lehnte dies ab und meinte, ein Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs sei nicht entstanden, da der Kläger es böswillig unterlassen habe, anderweitigen Verdienst in gleicher Höhe zu erzielen. Die Annahme der angebotenen Vereinbarung über ein befristetes Prozessarbeitsverhältnis und die dafür vorgesehenen Konditionen seien dem Kläger zumutbar gewesen. Während der Kläger beim Arbeitsgericht nicht erfolgreich war, gab das LAG der Klage auf die Berufung des Klägers statt.
Die Entscheidung
Die Revision der Beklagten war erfolglos. Nach dem Urteil des BAG hat der Kläger Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs nach § 615 S. 1 i.V.m. § 611a Abs. 2 BGB. Anderweitigen Verdienst musste sich der Kläger nicht anrechnen lassen.
Das Unterlassen des Erzielens anderweitigen Verdienstes durch den Arbeitnehmer ist böswillig im Sinne des § 11 Abs. 2 KSchG, wenn ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Maßgebend ist eine Gesamtabwägung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Nach Auffassung des BAG sei die von der Beklagten angebotene Beschäftigung dem Kläger an sich zumutbar gewesen, da diese bei unveränderter Vergütung zu 80 % den Arbeiten entspreche, die der zuletzt bis zur Kündigung schon ausgeübt habe. Damit habe der Kläger zwar vorsätzlich eine ihm bekannte anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit bei demselben Arbeitgeber außer Acht gelassen. Daraus könne ihm jedoch kein eine Böswilligkeit begründender Vorwurf gemacht werden, da der Kläger nicht verpflichtet gewesen sei, trotz des erstrittenen Weiterbeschäftigungsurteils während des laufenden Kündigungsschutzprozesses neben dem gekündigten Arbeitsverhältnis ein befristetes Prozessarbeitsverhältnis einzugehen. § 11 Nr. 2 KSchG regele – wie § 615 S. 2 BGB – eine aus § 242 BGB hergeleitete Obliegenheit, aus Rücksichtnahme gegenüber dem Arbeitgeber einen zumutbaren Zwischenverdienst zu erzielen. Die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers finde jedoch dort eine Grenze, wo der Arbeitnehmer einen (vorläufig) vollstreckbaren Titel und damit einen den Arbeitgeber bindenden Rechtsanspruch habe. Es habe vielmehr der Beklagten – wollte sie das Annahmeverzugsrisiko mindern – oblegen, ihrer Verpflichtung aus dem Weiterbeschäftigungsurteil nachzukommen und die Weiterbeschäftigung des Klägers während des Kündigungsschutzprozesses nicht vom Abschluss eines befristeten Prozessarbeitsverhältnisses abhängig zu machen.
Unser Kommentar
Die Weiterbeschäftigung eines gekündigten Arbeitnehmers während der Dauer eines Kündigungsschutzverfahrens kann auf verschiedenen rechtlichen Grundlagen erfolgen, die das BAG in diesem Urteil ausdrücklich benennt. Neben der tatsächlichen Beschäftigung aufgrund eines im Weiterbeschäftigungsurteil titulierten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs kommen vertragliche Vereinbarungen in Betracht, wie die vorübergehende Fortsetzung des gekündigten Arbeitsverhältnisses entweder auflösend bedingt auf die rechtskräftige Abweisung der Kündigungsschutzklage oder befristet bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Kündigungsschutzprozesses. Ob daneben auch der Abschluss eine weiteren zweckbefristeten Arbeitsvertrags neben dem gekündigten Arbeitsvertrag in Betracht kommt, hat das BAG zuletzt offen gelassen (vgl. Urteil vom 20.5.2021 – 2 AZR 457/20).
Bei Vorliegen eines vorläufig vollstreckbaren Weiterbeschäftigungsurteils ist der Arbeitnehmer zunächst in einer starken Rechtsposition. Der Arbeitgeber kann in diesem Fall mit dem Angebot eines befristeten Prozessarbeitsverhältnisses neben dem gekündigten Arbeitsverhältnis den Annahmeverzug nicht beseitigen. Dem Arbeitgeber stehen jedoch Möglichkeiten zur Verfügung, sich gegen eine (drohende) Zwangsvollstreckung des Weiterbeschäftigungsanspruchs zu wenden. Kann der Arbeitgeber einen nicht zu ersetzenden Nachteil infolge der Vollstreckung glaubhaft machen, kann die Vollstreckbarkeit ausgeschlossen oder eingestellt werden. Auch dann, wenn der Arbeitgeber Gründe vorbringen kann, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen und im Prozess einen Auflösungsantrag stellt, kommt aufgrund dessen eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung in Betracht.
Autor
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Hamburg
Soll-Angaben bei der Massenentlassungsanzeige verpflichtend?
LAG Hessen, Urteil vom 25.06.2021 – 14 Sa 1225/20
Die im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige gegenüber der zuständigen Agentur für Arbeit durch den Arbeitgeber zu machenden Angaben sind in § 17 Abs. 3 Satz 4 und 5 KSchG geregelt. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen sog. „Soll-Angaben“ und sog. „Muss-Angaben“, wobei die „Soll-Angaben“ durch die Rechtsprechung bisher nicht als verpflichtend für eine wirksame Massenentlassungsanzeige erachtet wurden. Dies hat sich nun geändert.
Der Fall
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung. Die Beklagte erstattete am 18. Juni 2019 eine Massenentlassungsanzeige (MEA) bei der zuständigen Agentur für Arbeit und kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin am folgenden Tag. Am 23. Juni 2019 reichte die beklagte Arbeitgeberin der Agentur für Arbeit die Anlage zu Feld 34 der MEA nach. In dieser Anlage werden die Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der durch die Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer gemacht. Es handelt sich hierbei um diejenigen Angaben, die gemäß § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG in der MEA gemacht werden „sollen“. Das ArbG Frankfurt hielt die MEA vom 18. Juni 2019 für fehlerhaft und damit unwirksam, da diese die aus Sicht des Gerichts notwendigen „Soll-Angaben“ nicht enthalten habe. Diese seien erst nach erfolgter Kündigung nachgereicht worden. Damit sei die Kündigung aufgrund fehlender wirksamer MEA unwirksam.
Die Entscheidung
Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Auch das LAG Hessen vertrat die Ansicht, dass vor Zugang der Kündigung keine wirksame MEA durch die Beklagte erfolgt sei. Das LAG begründete dies damit, dass die gebotene Auslegung des § 17 Abs. 3 KSchG nach der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (MERL) ergebe, dass eine MEA nur ordnungsgemäß sei, wenn sie auch die „Soll-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit enthalte. Nach den Regelungen der MERL seien in der MEA alle „zweckdienlichen“ Angaben zu machen. Die MERL differenziere hierbei nicht zwischen solchen Angaben, die aufgrund ihrer Zweckdienlichkeit in jedem Fall zu erfolgen haben und solchen Angaben, die zwar zweckdienlich, aber gleichwohl verzichtbar seien. Die Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit seien, auch wenn es sich hierbei z. T. um nach § 1 AGG verpönte Merkmale handele, zweckdienlich, denn sie seien sowohl für die Vermittlungsbemühungen als auch sozioökonomisch von Bedeutung. Der Arbeitgeber habe in der Konsequenz alle Angaben zu machen, die ihm – ggf. nach erforderlichen Nachforschungen – möglich seien. Nach Auffassung des LAG stehen weder der eindeutige Wortlaut des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG, noch die Systematik der Norm oder der Wille des nationalen Gesetzgebers dieser Auslegung entgegen. Zwar unterliege der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung des nationalen Rechts Schranken, denn der Gehalt einer nach Wortlaut, Systematik und Sinn eindeutigen Regelung könne nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung in sein Gegenteil verkehrt werden. Die richterliche Rechtsfortbildung dürfe nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen. Eine Gesetzesinterpretation, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greife daher unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein. Das LAG geht in seiner Entscheidung davon aus, dass aus der Formulierung des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG als Soll-Vorschrift jedoch nicht zwingend folge, dass das Unterbleiben der Angaben keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der MEA haben dürfe. Eine Soll-Vorschrift müsse nicht zwingend schwächere Rechtsfolgen als eine Muss-Vorschrift nach sich ziehen. Vielmehr könne das „Soll“ auch dahingehend verstanden werden, dass nur dort eine Pflicht begründet werde, wo das geforderte Verhalten dem Normadressaten möglich sei, die Pflicht aber in diesem Fall uneingeschränkt bestehe. Einen systematischen Widerspruch zu der als Muss-Vorschrift ausgestalteten Regelung in § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG erkennt das LAG nicht. Die in § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG aufgeführten Daten würden die Sphäre des Arbeitgebers betreffen und diesem in jedem Fall vorliegen. Die Ausgestaltung des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG als Soll-Vorschrift sei daher gesetzeshistorisch damit zu begründen, dass die Verhandlungen mit dem Betriebsrat nicht durch vorzeitige Festlegungen auf einzelne Arbeitnehmer belastet werden sollten. Das gesetzgeberische Ziel, mehr Raum für Verhandlungen mit dem Betriebsrat zu ermöglichen, sei durch den geänderten Entlassungsbegriff jedoch obsolet.
Unser Kommentar
Die Entscheidung des LAG Hessen überrascht, da sie im Gegensatz zu der in der Literatur und Rechtsprechung bisher vertretenen herrschenden Meinung steht, dass ein Unterlassen der Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG im Rahmen einer MEA nicht zur Unwirksamkeit dieser führt. Die Argumentation des LAG Hessen überzeugt zudem nicht.
Der Gesetzgeber hat mit den Regelungen in Satz 4 und 5 die Vorgaben der MERL richtlinienkonform umgesetzt. Für eine weitergehende richtlinienkonforme Auslegung von § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG verbleibt daher kein Raum. Die weiteren Angaben nach Satz 5 sind zudem entgegen der Ansicht des LAG bereits nicht zweckdienlich i.S.d. MERL. Insbesondere sind die Angaben nach Satz 5 nicht dazu geeignet, die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zu unterstützen. Auch verkennt das LAG, dass mit dem Einreichen der Massenentlassungsanzeige noch keine unumkehrbaren Maßnahmen zur Durchführung der Betriebsänderung, insbesondere zur Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer, ergriffen werden.
Gegen das Urteil des LAG Hessen ist Revision eingelegt. Bis höchstrichterlich entschieden ist, ob es tatsächlich zwingend der Aufnahme der Soll-Angaben in der MEA bedarf, ist vor dem aktuellen Entscheidung des LAG Hessen dringend anzuraten, in der MEA auch Angaben zum Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit zu machen. Auf die ausdrücklichen Anweisungen der Agentur für Arbeit auf dem maßgeblichen Formblatt, nach welchen die Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nachgereicht werden können, dürfen sich Arbeitgeber nicht mehr verlassen. Leider lässt sich der Entscheidung des LAG nicht entnehmen, welche Anstrengungen dem Arbeitgeber im Einzelnen abverlangt werden, sollten ihm die Soll-Angaben zu den zu kündigenden Arbeitnehmern nicht vorliegen. Das Gericht geht jedenfalls davon aus, dass alle in der MEA enthaltenen Angaben objektiv richtig sein müssen, also auch diejenigen nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG. Genügt es also, die Angaben in der Personalakte auf diese Daten hin zu prüfen oder ist der Arbeitgeber gehalten, die Arbeitnehmer zu bitten, ihm diese fehlenden Daten zu ihrer Person zur Verfügung zu stellen? Wie ist damit umzugehen, wenn die Arbeitnehmer keine oder objektiv unrichtige Angaben machen, z. B. nicht über eine zweite bestehende Staatsangehörigkeit aufklären? Auch diese Überlegungen zeigen, dass die Entscheidung des LAG Hessen praxisfern ist und bei ihrem Fortbestand faktisch zu einem zweiten Kündigungsschutz über den Weg der MEA führen würde.
Autoren
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Frankfurt a.M.
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Frankfurt a.M.
Rechtswegzuständigkeit bei Klage auf Corona-Prämie
LAG München, Beschluss vom 30.07.2021 – 4 Ta 178/21
Die Klage eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Zahlung einer Corona-Prämie nach § 150 a SGB-XI ist eine bürgerliche Rechtstreitigkeit und gehört in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte und nicht zu den Sozialgerichten.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten um die Zahlung einer Corona-Prämie nach § 150 a SGB XI. Die Klägerin des Arbeitsgebers war als Krankenschwester bei der Beklagten, die einen ambulanten Pflegedienst betreibt, beschäftigt.
Die Arbeitnehmerin klagte auf Zahlung der Corona-Prämie beim Arbeitsgericht. Der Rechtsstreit wurde von diesem an das Sozialgericht verwiesen, da der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten nicht eröffnet sei. Es handle sich um eine Angelegenheit der sozialen Pflegeversicherung, für die der Arbeitgeber reine Zahlstelle und nicht Anspruchsgegner sei. Gegen diese Entscheidung hat die Arbeitnehmerin sofortige Beschwerde eingelegt.
Das ArbG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und den Rechtsstreit dem LAG vorgelegt. Die sofortige Beschwerde hatte Erfolg. Nach Auffassung des LAG sei der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für die vorliegende Streitsache nach
§ 2 Abs. 1 Nr. 4a) ArbGG eröffnet. Das LAG führt in seiner Entscheidung aus, die Geltendmachung eines Zahlungsanspruchs auf die Corona-Prämie stelle einen Streit um einen bürgerlich-rechtlichen Anspruch eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber dar, der in einem rechtlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis steht. Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des § 150 a Abs. 1 S. 1 SGB XI, der eine Verpflichtung Arbeitgeber gegenüber seinen Arbeitnehmern begründet und als Voraussetzung für den Anspruch ein Arbeits- und damit ein privatrechtliches Verhältnis vorschreibt. Dabei sei für die Qualifikation die Verortung im öffentlich-rechtlichen SGB XI unerheblich. Nichts anderes ergebe sich aus dem Umstand, dass die Beträge nach § 150 a Abs. 7 SGB XI im Wege der Vorauszahlung von den Pflegekassen an die Arbeitgeber gezahlt werden. Dies entspreche der Rechtslage um das Kurzarbeitergeld, bei dem der Arbeitnehmer als Anspruchsinhaber keinen Kontakt zur Behörde hat und sich für die Zahlung an seinen Arbeitgeber wenden muss.
Beginn des Sonderkündigungsschutzes von Schwangeren
LAG Baden-Württemberg,
Urteil vom 01.12.2021 – 4 Sa 32/21
Um den Beginn der Schwangerschaft zu ermitteln, sollen vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin nur 266 Tage zurückgerechnet werden können. Damit weicht das LAG von der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ab, das in solchen Fällen üblicherweise 280 Tage zurückrechnet.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen ordentlichen Kündigung. Die Klägerin war ab Oktober 2020 als hauswirtschaftliche Helferin beschäftigt und wurde während ihrer Probezeit am 07.11.2010 zum 23.11.2020 gekündigt. Hiergegen wehrte sich die Arbeitnehmerin mit der Kündigungsschutzklage. Im Laufe des Verfahrens wurde eine Schwangerschaftsbestätigung vorgelegt. Diese stammte von der Frauenärztin der Arbeitnehmerin, die am 26.11.2020 bestätigte, dass sich die Arbeitnehmerin in der sechsten Schwangerschaftswoche befinde. Eine ärztliche Bescheinigung über den voraussichtlichen Geburtstermin am 05.08.2021 folgte kurze Zeit darauf. Die Arbeitnehmerin ist der Ansicht, die Kündigung sei wegen Verstoßes gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG während einer Schwangerschaft unwirksam. Zum Zeitpunkt der Kündigung sei sie bereits schwanger gewesen, wovon sie noch nichts gewusst habe. Die Mitteilung über das Vorliegen der Schwangerschaft sei direkt nachdem sie es am 26.11.2020 erfahren habe erfolgt.
Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen, die dagegen eingelegte Berufung hatte keinen Erfolg. Die Kündigung sei, so das LAG, nicht wegen § 17 Abs. 1 MuSchG unwirksam, da im Zeitpunkt der Kündigung keine Schwangerschaft festgestellt werden könne. Das LAG begründet seine Entscheidung damit, dass die Beweislast für das Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Arbeitnehmerin trage. Werde der Beweis über statistische Wahrscheinlichkeiten hergeleitet, sei dies allenfalls über einen Anscheinsbeweis möglich, der allerdings einen Beweis nur bei typischen Geschehensabläufen erleichtere. Eine solche typische Wahrscheinlichkeitsbeurteilung könne nur für einen Zeitraum von 266 Tagen vor der voraussichtlichen Entbindung getroffen werden, da eine Befruchtung der Eizelle erst am 12. oder 13. Zyklustag angenommen werden könne. Die – letztlich fiktive – Vorverlegung des Schwangerschaftsbeginns auf den ersten Tag der letzten Regelblutung beziehe den Kündigungsschutz auf einen Zeitpunkt, zu dem eine Schwangerschaft nicht nur wenig wahrscheinlich, sondern sehr unwahrscheinlich und praktisch fast ausgeschlossen sei. Eine solche Vorverlegung des Kündigungsschutzes auf einen Zeitpunkt vor Beginn der Schwangerschaft habe den Effekt, dass einer zunächst wirksamen Kündigung durch den praktisch stets zeitlich später liegenden tatsächlichen Schwangerschaftsbeginn nachträglich die Wirksamkeit genommen werde.
Rechne man vom voraussichtlichen Entbindungstermin 05.08.2021 aber 266 Tage zurück, so liege der Schwangerschaftsbeginn am 12.11.2020, also erst vier Tage nach Zugang der Kündigung.
Fristlose Kündigung wegen vorsätzlichen Anhustens in der Pandemie
LAG Düsseldorf, Urteil vom 27.04.2021 – 3 Sa 646/20
Das bewusste Anhusten eines Arbeitskollegen mit den Worten „Ich hoffe, du bekommst Corona“ berechtigt auch ohne vorherige Abmahnung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung durch den Arbeitgeber. Der Arbeitgeber trägt allerdings hierfür die Darlegungs- und Beweislast für den Kündigungsvorwurf. Der Rechtsstreit ging im konkreten Fall aber zugunsten des Arbeitnehmers aus.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch Ausspruch einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen Kündigung. Der Kläger war als Mechaniker bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt. Mitte März 2020 stellte der Arbeitgeber im Hinblick aufgrund des sich ausbreitenden Coronavirus seinen internen Pandemieplan auf. Zu den Maßnahmen gehörten u. a. ein Abstandsgebot sowie das Bedecken von Mund und Nase beim Husten oder Niesen mit einem Papiertaschentuch oder Ärmel. Die Belegschaft wurde hierüber umfassend informiert. Die Arbeitgeberin kündigte dem Kläger Anfang April 2020 außerordentlich fristlos. Sie wirft dem Kläger vor, sich mehrfach nicht an die Hygienemaßnahmen sowie an die Sicherheitsabstände gehalten zu haben. Er habe ihr in Gesprächen signalisiert, dass er die Maßnahmen nicht ernst nehme und diese nicht einhalten werde. So habe er einen Mitarbeiter gegen seinen Willen am Arm angefasst und einen Arbeitskollegen vorsätzlich mit einem Abstand von nur einer halben bis einer ganzen Armlänge angehustet. Sinngemäß habe er danach geäußert, er hoffe, dass der Kollege Corona bekäme. Daraufhin hatte die Arbeitgeberin die Kündigung ausgesprochen. Der klagende Arbeitnehmer entgegnet damit, dass er andere Personen keinen Infektionsgefahren ausgesetzt habe und, soweit es ihm möglich gewesen sei, die Sicherheitsabstände und Husten-Etikette eingehalten. Er habe an diesem Tag lediglich einen Hustenreiz verspürt und deshalb spontan husten müssen. Dabei habe er ausreichenden Abstand zum Arbeitskollegen gehabt. Als der andere Arbeitskollege sich belästigt gefühlt und dies geäußert habe, habe er entgegnet, der Kollege möge „chillen, er würde schon kein Corona bekommen“.
Das LAG hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Arbeitgeberin habe nach der umfangreichen Beweisaufnahme den von ihr behaupteten Sachverhalt nicht beweisen können. Da die Arbeitgeberin für den Kündigungsgrund die Beweislast trage, ginge dies zu ihren Lasten. Das LAG stellt allerdings in seiner Entscheidung klar, dass die von der Beklagten behauptete Version des Sachverhalts im konkreten Fall eine fristlose Kündigung hätte rechtfertigen können. Wer bewusst einen Kollegen aus nächster Nähe anhuste und äußere, er hoffe, dass er Corona bekäme, habe in erheblicher Weise die Rücksichtnahmepflicht gegenüber seinem Arbeitskollegen verletzt. Dieser nimmt zumindest billigend in Kauf, den betroffenen Arbeitskollegen entweder objektiv der tatsächlichen, konkreten Gefahr einer lebensbedrohlichen Infektion und Erkrankung oder jedenfalls subjektiv dem entsprechend konkreten Angstgefühl auszusetzen. Wenn der Arbeitnehmer dann auch im Übrigen deutlich mache, dass er nicht bereit sei, die Arbeitsschutzvorschriften einzuhalten, bedürfe es auch keiner vorherigen Abmahnung.
Wirksame Verpflichtung zur Teilnahme an vom Arbeitgeber angeordneten Corona-Tests
LAG München, Urteil vom 26.10.2021 – 9 Sa 332/21
Eine tarifliche Regelung, nach der der Arbeitgeber bei gegebener Veranlassung durch einen Vertrauensarzt oder das Gesundheitsamt feststellen lassen kann, ob der Arbeitnehmer arbeitsfähig und frei von ansteckenden Krankheiten ist, berechtigt den Arbeitgeber in der derzeitigen pandemischen Situation zur Anordnung von Corona-Tests auch bei Personen, die keine Krankheitssymptome zeigen.
Entscheidungsgründe
Die klagende Arbeitnehmerin ist als Flötistin bei der Bayrischen Staatsoper tätig. Der Arbeitsvertrag der Klägerin enthält einen Verweis auf den Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern. Dieser verpflichtet Arbeitnehmer, sich bei gegebener Veranlassung auf das Vorliegen von ansteckenden Erkrankungen untersuchen zu lassen. Die Arbeitgeberin führte für die Spielzeit 2020/2021 ein betriebliches Hygienekonzept auf, das regelmäßige Testungen durch PCR-Tests für die Teilnahme an Proben und Aufführungen vorsah. Hierfür organisierte die Arbeitgeberin Testungen, die durch medizinisch geschultes Personal als Nasen-Rachen-Abstrich vorgenommen wurden. Alternativ konnten die Mitarbeitenden einen entsprechenden Testbefund durch einen Arzt eigener Wahl vorzeigen. Nach dem betrieblichen Hygienekonzept wurde diese Maßnahme u. a. darauf gestützt, dass aufgrund der Eigenart der Beschäftigung das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen nicht möglich sei und die Abstände im Orchesterbetrieb nicht immer sicher eingehalten werden könne. Die Arbeitnehmerin teilte der Staatsoper daraufhin mit, dass sie sich keinem Test unterziehen werde. Sie sei weder in einem Risikogebiet gewesen, noch weise sie Anzeichen einer Corona-Erkrankung auf. Sie ist der Auffassung, dieser stelle einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar und berge die Gefahr von Verletzungen im Nasen- oder Rachenbereich. Gerade Spieler von Blasinstrumenten könnten bereits bei geringen Verletzungen im Nasen- und Rachenbereich arbeitsunfähig werden. Die Beklagte beschäftigte die Arbeitnehmerin daraufhin nicht mehr und stellte die Lohnzahlung ein. Mit ihrer Klage machte die Arbeitnehmerin u. a. Vergütungsansprüche für die Zeit der Nichtbeschäftigung geltend.
Das LAG bestätigte das erstinstanzliche Urteil des Arbeitsgerichts München, das die Klage abgewiesen hatte. Die Beklagte habe sich nicht im Annahmeverzug befunden, da die Arbeitnehmerin nicht gewillt gewesen sei, die Arbeitsleistung zu den vertraglich geschuldeten Bedingungen zu erbringen. Die arbeitsvertragliche Anweisung zur Vornahme der Tests habe auf die tarifvertragliche Regelung gestützt werden können. Danach sei der Arbeitgeber berechtigt gewesen, die Testung der Mitarbeiterin zu verlangen, auch ohne dass konkrete Krankheitssymptome vorgelegen haben. Nach der Tarifnorm genüge das Vorliegen einer konkreten Veranlassung in Form eines sachlichen Grundes, der die willkürliche Anordnung von Untersuchungen ausschließe. Das LAG hat weiter ausgeführt, dass als Anlass die ernstzunehmende Gefahr der Ansteckung während Vorliegen einer pandemischen Lage genüge. Der Arbeitgeber habe ein erhebliches Interesse an der Durchführung der Tests, da er sowohl privat-, als auch öffentlich-rechtlich verpflichtet sei, die Gesundheit der anderen Mitarbeitenden zu schützen, vgl. § 618 Abs. 1 BGB.
Kein Anspruch auf Versetzung bei Maskenbefreiungsattest
LAG Hamburg, Urteil vom 13.10.2021 – 7 Sa 23/21
Kann ein Arbeitnehmer seiner Arbeitspflicht nicht mehr nachkommen, weil er aus gesundheitlichen Gründen keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen kann, hat er keinen Anspruch auf Annahmeverzugslohn. Aus § 296 BGB folgt keine Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitspflicht nach den Wünschen oder Belangen des Arbeitnehmers zu bestimmen.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten u. a. über die Zahlung von Annahmeverzugslohn. Der klagende Arbeitnehmer war in der Filiale einer Bank als Finanzberater tätig, in der zur Reduzierung der Gefahr von Corona-Infektionen grundsätzlich die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung galt. Der Arbeitnehmer verweigerte dies und legte umgehend ein ärztliches Attest zur Maskenbefreiung vor.
Der Kläger schlug der Beklagten vor, ihn an einem anderen Standort mit Einzelbüro oder im Homeoffice zu beschäftigen. Dieser Anregung ging die Beklagte nicht nach und teilte dem Kläger mit, dass ihr derzeit keine Arbeitsplätze zur Verfügung ständen, auf denen sie ihm eine Tätigkeit ohne das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung ermöglichen könne. Aus diesem Grund werde sie ihm auch keine Vergütung mehr zahlen.
Das ArbG Hamburg hatte der Klage des Arbeitnehmers stattgegeben, die dagegen eingelegte Berufung hatte Erfolg. Dem Kläger stehe der ausdrücklich eingeklagte Annahmeverzugslohn nicht zu. Zur Begründung führt das LAG aus, dass das von der Beklagten ausgeübte Direktionsrecht hinsichtlich des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung rechtmäßig gewesen sei. Die Arbeitgeberin habe die Arbeitspflicht dahingehend konkretisiert, dass der Arbeitnehmer die Arbeit in einer bestimmten Filiale zu leisten hat. Die Arbeit in dieser Filiale habe der Arbeitnehmer gerade nicht angeboten. Dementsprechend seien keine Ansprüche auf Annahmeverzugslohn entstanden. Der Arbeitgeber sei nicht verpflichtet, neben der von ihm zunächst wirksam konkretisierten Arbeitspflicht auf die Wünsche und Belange des Arbeitnehmers einzugehen. Wenn es der Arbeitgeber schuldhaft unterlasse, dem Arbeitnehmer eine leidensgerechte und vertragsgemäße Arbeit zuzuweisen, könne dies allenfalls einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Schadensersatz begründen. Ein solcher sei nicht eingeklagt worden.
Arbeitgeber darf die Rückkehr aus dem Homeoffice anordnen
LAG München, Urteil vom 26.08.2021 – 3 SaGa 13/21
Ein Arbeitgeber, der seinem Arbeitnehmer gestattet hatte, seine Tätigkeit von zuhause aus zu erbringen, ist gemäß
§ 106 Satz 1 GewO grundsätzlich berechtigt, seine Weisung zu ändern, wenn sich später betriebliche Gründe herausstellen, die gegen eine Erledigung von Arbeiten im Homeoffice sprechen.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Berechtigung des Arbeitnehmers, an seinem Wohnsitz arbeiten zu dürfen. Der Kläger ist bei der Beklagten als Grafiker in Vollzeit beschäftigt. Seit Dezember 2020 arbeiten fast alle sonst im Büro tätigen Beschäftigten von zuhause aus. Nachdem der Arbeitnehmer sich während der Homeoffice-Zeit wiederholt nicht zur Arbeit elektronisch an- und abgemeldet hatte und an virtuellen Meetings unentschuldigt nicht teilnahm, mahnte die Beklagte den Kläger ab und ordnete Ende Februar an, dessen Arbeit künftig wieder im Büro zu erbringen. Im Wege einstweiliger Verfügung begehrte der Arbeitnehmer die Erlaubnis, seine Tätigkeit aus dem Homeoffice heraus erbringen zu dürfen und nur im Betrieb anwesend sein zu müssen, wenn die Anwesenheit im Büro tatsächlich erforderlich sei. Ihm stünde ein Anspruch auf eine Tätigkeit im Homeoffice bereits gem. § 2 Abs. 4 SARS-CoV-2-ArbSchV zu.
Das ArbG München wies den Antrag zurück. Ein Anspruch des Klägers auf eine Tätigkeit aus dem Homeoffice ergäbe sich weder aus dem Arbeitsvertrag, noch aus § 2 Abs. 4 SARS-CoV-2-ArbSchV. Ferner ergäbe sich auch aus § 106 S. 1 GewO keine Pflicht der Beklagten zur Ausübung des Direktionsrechts in der gewünschten Weise. Die Konkretisierung der Arbeitspflicht sei Sache des Arbeitgebers.
Das LAG hat die Berufung zurückgewiesen und die Entscheidung bestätigt. In der Entscheidung führt das LAG aus, dass § 106 GewO dem Arbeitgeber das Recht gebe, den Ort der Arbeitsleitung nach billigem Ermessen zu bestimmen, soweit arbeits- oder tarifvertraglich nichts anderes geregelt ist. Die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen verlange eine Abwägung der wechselseitigen Interessen u. a. nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen. Daran gemessen durfte die Beklagte den Arbeitsort durch Weisung neu bestimmen, da zwingende betriebliche Gründe der Ausübung der Tätigkeit in der Wohnung entgegenstanden. Die technische Ausstattung am häuslichen Arbeitsplatz habe nicht jener am Bürostandort entsprochen und der Arbeitnehmer habe nicht darlegen können, dass die Daten gegen den Zugriff Dritter und der in Konkurrenz tätigen Ehefrau geschützt waren.
Das Recht, die Arbeitsleistung von zuhause zu erbringen, ergebe sich auch nicht aus § 2 Abs. 4 SARS-CoV-2-ArbSchV. Dieser vermittle den Beschäftigten nach dem Willen der Verordnungsgeber kein subjektives Recht auf Homeoffice.
Internationaler Newsflash aus unserem Netzwerk
Bei einer Entsendung von Arbeitnehmern nach Frankreich ist für jeden entsandten Arbeitnehmer eine vorherige Meldung der Entsendung erforderlich. Die französische Verwaltung möchte so sicherstellen, dass bestimmte Arbeitsbedingungen gewährleistet werden.
Natürlich hat auch Frankreich die EU-Richtlinie 2018/957 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen in nationales Recht umgesetzt. Es gibt drei wesentliche Schutzbereiche, in denen bestimmte Bedingungen eingehalten werden müssen: die Arbeitszeit, die gesetzlichen oder tarifvertraglichen Mindestlöhne (mit Überstundenzuschlag bei mehr als 35 Stunden) und der Schutz von Gesundheit und Sicherheit. Zunächst muss bestimmt werden, welcher französische Tarifvertrag anwendbar ist, um insbesondere die Mindestlöhne zu überprüfen. Dabei sollte beachtet werden, dass in fast allen Branchen (auch bei Dienstleistungstätigkeiten) ein Tarifvertrag anwendbar ist.
Für jeden entsandten Arbeitnehmer muss der Arbeitgeber eine vorherige Entsendungsmeldung über das SIPSI-Portal vornehmen. Dabei müssen umfangreiche Angaben über den Arbeitgeber, den Arbeitnehmer, den Ort und die Dauer der Dienstleistung, den gezahlten Lohn und die Unterbringungsbedingungen gemacht werden. Der Arbeitgeber muss auch einen Vertreter in Frankreich benennen, der in der Lage sein muss, im Falle einer Kontrolle während der Entsendung eine ganze Reihe von Dokumenten sofort an die Behörden weiterzuleiten. Insbesondere: Lohnabrechnungen, Arbeitszeitabrechnungen, sowie Lohnzahlungs- und Überstundennachweise. Der Vertreter muss daher jeden Monat die erforderlichen Dokumente zusammenstellen. Dabei kann es sich um einen Mitarbeiter des Unternehmens oder um einen Dritten (Anwaltskanzlei, etc.) handeln.
Für Bautätigkeiten im Hoch- und Tiefbau ist eine zusätzliche Ankündigung erforderlich, um eine staatliche Zulassungskarte zu erhalten (carte BTP). Kontrollen werden hauptsächlich auf den Baustellen durchgeführt.
Autor
Xavier Drouin
Fidal
Straßbourg
Achim Braner
Partner
Frankfurt a.M.
achim.braner@luther-lawfirm.com
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