30.06.2022
Lieber Leserinnen, liebe Leser,
die Urlaubszeit liegt vor uns. Was liegt da näher als eine gute Reiselektüre für den Urlaub zusammenzustellen? Ob am Strand oder in den Bergen, mit unserem aktuellen Newsletter Arbeitsrecht haben Sie sicher eine gute Wahl getroffen. In dieser Ausgabe befassen wir uns mit einer Vielzahl verschiedener Themen. Die Massenentlassungsanzeige birgt für Arbeitgeber aufgrund der Komplexität der Materie und der sich stetig entwickelnden Rechtsprechung erhebliches Risikopotenzial. Im Mai 2022 konnten Nadine Ceruti und ich in Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht eine höchstrichterlich bislang nicht geklärte Rechtsfrage zum notwendigen Inhalt von Massenentlassungsanzeigen klären lassen. Die Urteile können als ein wichtiger Meilenstein im Zusammenhang mit der Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Massenentlassungsanzeigen bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund dieser Urteile haben wir uns in dieser Ausgabe mit aktuellen Entwicklungen im Massenentlassungsanzeigerecht befasst und geben einen praxisrelevanten Überblick zu wesentlichen Fragen.
Mitte April 2022 hat das Bundesjustizministerium einen zweiten Referentenentwurf für ein Hinweisgeberschutzgesetz veröffentlicht. Mit diesem Gesetzesvorhaben sollen die in der EU-Whistleblower-Richtlinie vom 23. Oktober 2019 (RL (EU) 2019/1937) enthaltenen Vorgaben umgesetzt werden. Der Referentenentwurf sieht für Arbeitgeber mit in der Regel mindestens 50 Beschäftigten die Verpflichtung zur Einrichtung einer internen Meldestelle vor. Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist darüber hinaus der Schutz von Hinweisgebenden vor Repressalien ein weiterer wesentlicher Aspekt. Ein geplantes Datum des Inkrafttretens enthält der Entwurf nicht. Die Zeit drängt, da die EU-Whistleblower-Richtlinie bis zum 17. Dezember 2021 in nationales Recht umgesetzt werden musste. Es wird daher erwartet, dass das Gesetz noch in diesem Jahr verabschiedet wird. Das Thema Whistleblowing wird vor dem Hintergrund zunehmend verschärfter Compliance-Regelungen sowie sich verändernden Arbeitsorganisationen globaler Konzernstrukturen künftig weiter an Bedeutung gewinnen. Alles Gründe für Sandra Sfinis und Martina Ziffels, sich dem Referentenentwurf in dieser Ausgabe zu widmen und einen ersten Überblick zu geben.
Am 21. Juni 2022 eröffnete unser Partner Dr. Marco Arteaga in Berlin einen mit Personen aus Politik, Wissenschaft und Praxis hochkarätig besetzten Kongress zur betrieblichen Altersversorgung (baV). Der bAV Kongress stand unter dem Motto „Leinen los, Sozialpartnermodelle!“. Auf Einladung des Eberbacher Kreises hatten sich rund 150 Branchenvertreter im Meistersaal am Potsdamer Platz versammelt, um über die Zukunft der Sozialpartnermodelle in Deutschland zu diskutieren. In dieser Ausgabe befassen wir uns daher zentral mit dem Thema der betrieblichen Altersversorgung und stellen die baV-Expertinnen und -experten unserer Praxisgruppe vor.Selbstverständlich befassen wir uns daneben auch in diesem Newsletter mit den Entwicklungen in der Rechtsprechung. Wir haben hierbei wieder eine Auswahl getroffen, die für Sie sicher von besonderem Interesse ist. Wie immer freuen wir uns auf Ihr Feedback zu unseren Themen. Sprechen Sie unsere Autorinnen und Autoren direkt an, wenn Sie Anregungen oder Fragen haben.
In den letzten Ausgaben unseres Newsletters haben wir bereits eine neue Rubrik präsentiert, in der wir über arbeitsrechtliche Entwicklungen und Themen aus unserem globalen Netzwerk unyer berichten. Wir freuen uns sehr, dass Antoine Jouhet von FIDAL in Lyon uns in dieser Ausgabe Einblicke in das französische Arbeitsrecht gibt.
Ein kurzes Update an dieser Stelle auch noch einmal zu unserer Beitragsreihe „Dem Personal- und Fachkräftemangel effektiv begegnen [https://www.luther-lawfirm.com/newsroom/newsletter/detail/dem-personal-und-fachkraeftemangel-effektiv-begegnen]“ und dem darin bereits angekündigten Arbeitsvertragsgenerator: Das Warten hat ein Ende! Ab sofort steht Ihnen unser bilinguale Digital-Vertrags-Guide [https://www.luther-lawfirm.com/kompetenzen/beratungsfelder/detail/digitaler-arbeitsvertrags-guide] zur Verfügung. Mit diesem können Sie in maximal 10 Schritten, durch Eingabe der persönlichen Daten und des Gehalts einen einfachen deutschsprachigen sowie deutsch-ukrainischen Arbeitsvertrag generieren. Weitere bilinguale Arbeitsvertragsmuster folgen in Kürze.
In Kürze erscheint zudem unser Sondernewsletter zu den brandaktuellen Änderungen des Nachweisgesetzes, die der Bundestag am 23. Juni 2022 beschlossen hat. Hieraus ergibt sich akuter Handlungsbedarf für Unternehmen.
Haben Sie viel Freude bei der Lektüre. Wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer und eine erholsame Zeit.
Bleiben Sie gesund!
Ihr Achim Braner
Bei umfangreicheren Personalabbaumaßnahmen haben Arbeitgeber im Vorfeld regelmäßig die Hürde einer wirksamen Massenentlassungsanzeige zu nehmen. Die besondere Schwierigkeit für den Arbeitgeber liegt darin, dass die rechtlichen Anforderungen an die Wirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige sehr hoch sind und sie dadurch eine hohe Fehleranfälligkeit birgt. So ist es nicht verwunderlich, dass die Massenentlassungsanzeige häufig zum Streitthema im gerichtlichen Verfahren wird und Fehler die Unwirksamkeit der Kündigungen zur Folge haben.
Mit dem Erlass der europäischen Richtlinie 98/59/EG vom
20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (sog. Massenentlassungsrichtlinie, auch „MERL“) wurde die Grundlage für die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige geschaffen. Der deutsche Gesetzgeber setzte die Vorgaben der MERL mit den
§§ 17 ff. KSchG in nationales Recht um. Die Gerichte legen
§§ 17 ff. KSchG aufgrund der Vorgaben der MERL richtlinienkonform aus, soweit die nationalen Vorschriften Raum für Interpretationen lassen. Die Auslegung orientiert sich dabei am Zweck der MERL. Dieser stellt vornehmlich auf den Schutz der Arbeitnehmenden bei Massenentlassungen ab. Die Rechtsprechung ist in steter Entwicklung und sorgt leider gelegentlich auch für Erstaunen. Arbeitgeber sind daher gut beraten, sich im Vorfeld einer geplanten Massenentlassung intensiv mit dem Thema zu beschäftigen.
1. Pflicht zur Massenentlassungsanzeige
Durch § 17 KSchG wird der Arbeitgeber dazu verpflichtet, eine Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit zu erstatten, wenn innerhalb von 30 Tagen eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmenden entlassen werden soll. Die Anzeigepflicht richtet sich dabei nach der Betriebsgröße.
§ 17 KSchG sieht daher unterschiedliche Schwellenwerte je nach Betriebsgröße vor. Dabei werden alle Entlassungen zusammengerechnet, die in einem beliebig gewählten Zeitraum von 30 Kalendertagen erfolgen. Dies kann dazu führen, dass eine zunächst nicht massenentlassungsanzeigepflichtige Kündigung nachträglich anzeigepflichtig wird, wenn die Schwellenwerte im maßgeblichen 30-Tage-Zeitraum doch noch überschritten werden. Im Ergebnis führt dies dazu, dass die nicht angezeigte Kündigung (nachträglich) unwirksam wird.
Bei der Ermittlung der jeweiligen Betriebsgröße ist auf die Anzahl der regelmäßig im Betrieb beschäftigen Arbeitnehmenden abzustellen. Bei einer Arbeitnehmerzahl von mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmenden wäre die Massenentlassungsanzeige bei der Entlassung von mehr als fünf Arbeitnehmenden zu erstatten. Die Schwellenwerte des § 17 KSchG sind daher je nach Betriebsgröße schnell erreicht. Bei mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmenden müssten 10 % (oder mehr als 25 Arbeitnehmende) der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmenden entlassen werden. Ab einer Betriebsgröße von 500 Arbeitnehmenden ist die Massenentlassungsanzeige bei einer Entlassung von mindestens 30 Arbeitnehmenden zu erstatten. Teilweise kann die Mitarbeiterzahl, insbesondere bei saisonalen Schwankungen, schwer zu bestimmen sein. Es kommt daher auf die Zahl der regelmäßig beschäftigten Mitarbeitenden an. Dementsprechend ist die Personalstärke maßgebend, die für den Betrieb im Allgemeinen, also bei regelmäßigem Gang des Betriebs kennzeichnend ist und nicht die Zahl der im Zeitpunkt der Kündigung tatsächlich beschäftigten Arbeitnehmenden. Nicht erfasst werden freie Mitarbeitende. Gemäß § 17 Abs. 5 KSchG werden ebenso Vorstandsmitglieder von juristischen Personen und Vertretende von Personengesellschaften sowie Geschäftsführer, Betriebsleitung und ähnliche leitende Personen, soweit diese zur selbstständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmenden berechtigt sind, ausdrücklich ausgeschlossen. Hier ist allerdings Vorsicht geboten, da diese Regelung zumindest in Teilen nicht richtlinienkonform sein dürfte. So zählen nach Ansicht des EuGH auch Fremdgeschäftsführer als Arbeitnehmende im Sinne des Massenentlassungsrechts. Sie sind daher sowohl bei der Bestimmung der Betriebsgröße als auch bei der Ermittlung der maßgeblichen Schwellenwerte der Entlassungen zu berücksichtigen. Es empfiehlt sich daher, die in § 17 Abs. 5 KSchG benannten Personengruppen rein vorsorglich bei der Ermittlung der Schwellenwerte zu berücksichtigen und diese in die Massenentlassungsanzeige mit aufzunehmen.
Maßgeblich sind die im jeweiligen Betrieb vorgenommenen Entlassungen. Für die Bestimmung des Betriebs ist alleine der unionsrechtliche Betriebsbegriff maßgeblich. Dies hat das BAG im Februar 2020 in den sog. Air-Berlin-Fällen unter Heranziehung der MERL entschieden. Es gilt somit weder der Betriebsbegriff des Kündigungsschutzgesetzes noch der des Betriebsverfassungsgesetzes. Bei einem Betrieb im Sinne der MERL handelt es sich um eine abgrenzbare Einheit, die über eine gewisse Dauerhaftigkeit und Stabilität verfügt und die zur Erledigung einer oder mehrerer Aufgaben bestimmt ist. Die Einheit muss über eine Gesamtheit von Arbeitnehmende, technische Mittel sowie eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügen. Die Abgrenzung kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Dies gilt insbesondere bei Matrixstrukturen sowie innerhalb von standortübergreifenden Einheiten. Gemeinschaftsbetriebe mehrerer Unternehmen stellen Arbeitgeber bei Massenentlassungsanzeigen ebenfalls regelmäßig vor Herausforderungen.
Unter Entlassungen im Sinne des § 17 KSchG fallen arbeitgeberseitige Kündigungen sowie sonstige Beendigungen des Arbeitsverhältnisses, die vom Arbeitgeber veranlasst werden (z. B. Aufhebungsverträge). Nach einem aktuellen Urteil des LAG Düsseldorf vom 15. Oktober 2021 (7 Sa 405/21) sollen auch krankheitsbedingte Beendigungen als Entlassungen im Sinne des § 17 KSchG gelten. Sie sind daher bei der Ermittlung der Schwellenwerte für die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige zu berücksichtigen.
2. Zuständigkeit und Formblätter der Agentur für Arbeit
Die Massenentlassungsanzeige muss bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht werden. Diejenige Agentur für Arbeit ist zuständig, in deren Bezirk der Betrieb liegt, in dem die Entlassungen vorgenommen werden. Bei der Auswahl ist Gründlichkeit und Genauigkeit geboten, denn eine Massenentlassungsanzeige, die bei der falschen Agentur für Arbeit eingereicht worden ist, hat die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge. Dies hat das BAG nochmals bestätigt (BAG, Urteil vom 13. Februar 2020, 6 AZR 146/19).
Wenn mehrere Betriebe oder Betriebsteile existieren, die von den Entlassungen betroffen sind, stellt sich die Frage, für welche der Betriebe eine Anzeige erstattet werden muss. Gleiches gilt, wenn der Einsatz der Arbeitnehmenden von einem anderen Ort aus gesteuert wird oder für Mitarbeitende im Außendienst. Dies kann im Ergebnis dazu führen, dass die Massenentlassung bei mehreren verschiedenen Agenturen anzuzeigen ist. In jedem Fall ist hier äußerste Vorsicht geboten.
Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige ist es, dass die Agentur für Arbeit die Belastungen für den Arbeitsmarkt auffangen und reduzieren können soll. Sie soll durch die frühzeitige Unterrichtung schnell mit entsprechenden Vermittlungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für die entlassenen Arbeitnehmenden reagieren können. § 17 KSchG enthält daher in Umsetzung der MERL genaue Vorgaben für den Inhalt der Massenentlassungsanzeige.
Für die präzise Umsetzung der Vorgaben und insbesondere die Übersicht über die beizufügenden Anlagen empfiehlt es sich, grundsätzlich die von der Bundesagentur für Arbeit entworfenen Formblätter zu nutzen. Weitergehende Angaben können in einem Anschreiben zur Massenentlassungsanzeige mit dieser bei der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht werden.
Die Bundesagentur für Arbeit stellt den Eingang der Massenentlassungsanzeige sowie deren Vollständigkeit fest. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Mitteilung der Agentur für Arbeit Fehler in der Anzeige nicht heilen kann. Eine fehlerhafte Anzeige bleibt daher unwirksam, auch wenn die Agentur für Arbeit auf keine Fehler hingewiesen hat. Dies hat das BAG jüngst nochmals bestätigt.
3. Anforderungen an den Inhalt der Massenentlassungsanzeige
Die formellen Anforderungen an den Inhalt der Entlassungsanzeige ergeben sich aus § 17 Abs. 3 S. 2 bis 5 KSchG. Nach dem Gesetzeswortlaut „muss“ die Anzeige Angaben zum Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebs, die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmenden, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmenden enthalten
(§ 17 Abs. 3 S. 4 KSchG). Außerdem „sollen“ weitere persönliche Daten der zu entlassenden Arbeitnehmenden mitgeteilt werden, nämlich Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit (§ 17 Abs. 3 S. 5 KSchG).
Mit seinem Urteil vom 25. Juni 2021 sorgte das LAG Hessen für erhebliches Aufsehen unter Arbeitsrechtsexperten, da nach Ansicht des LAG Hessen auch die sog. „Soll-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit zwingend bereits mit der Massenentlassungsanzeige zu machen seien. Ein Fehlen dieser Angaben führe zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und damit auch der angezeigten Kündigungen. Das LAG begründet dies im Wesentlichen damit, dass es sich auch bei den „Soll-Angaben“ um „zweckdienliche“ Angaben im Sinne der MERL handele.
Mit Urteil vom 19. Mai 2022 hob das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des LAG Hessen auf (BAG, Urteil vom
19. Mai 2022, 2 AZR 467/21). Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass die vom Landesarbeitsgericht vertretene Auslegung dem klar erkennbaren Willen des deutschen Gesetzgebers entgegensteht und damit die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung überschreitet. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist zu begrüßen. Demnach steht nunmehr höchstrichterlich entschieden fest, dass die Soll-Angaben nicht bereits mit der Massenentlassungsanzeige einzureichen sind.
4. Die Einbeziehung des Betriebsrats – das Konsultationsverfahren
Existiert im Betrieb ein Betriebsrat, so ist dieser im Rahmen des Verfahrens der Massenentlassung vorab über die beabsichtigte Maßnahme zu unterrichten und zu konsultieren
(§ 17 Abs. 2 KSchG). § 17 Abs. 2 KSchG gibt hierbei die Mindestanforderungen an die Unterrichtung des Betriebsrats vor. Eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat ist der Agentur für Arbeit gleichzeitig zuzuleiten (§ 17 Abs. 3 S. 1 KSchG).
Eine unterbliebene oder eine nicht ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats führt zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und somit zur Unwirksamkeit der anzuzeigenden Kündigungen. Die Frage, ob die unterbliebene Zuleitung der Abschrift an die Agentur für Arbeit ebenfalls die Unwirksamkeit der Kündigungen zur Folge hat, ist gegenwärtig Gegenstand einer Vorlage des Bundesarbeitsgerichts an den EuGH (BAG, Vorlagebeschluss vom 27. Januar 2022,
6 AZR 155/21 (A)).
In einem zweiten Schritt ist dem Betriebsrat die Möglichkeit zu geben, zu beraten, Entlassungen zu vermeiden, einzuschränken und ihre Folgen zu mindern. Die Stellungnahme des Betriebsrats ist der Agentur für Arbeit gemeinsam mit der Massenentlassungsanzeige zuzuleiten. Liegt eine Stellungnahme nicht vor, so ist die Massenentlassungsanzeige nur dann wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor der Erstattung der Anzeige gemäß § 17 Abs. 2 KSchG unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat gegenüber der Agentur für Arbeit darlegt (§ 17 Abs. 3 S. 3 KSchG). Nach einer Entscheidung des LAG Hessen soll auch die Nachreichung der Stellungnahme durch den Arbeitgeber zulässig sein, wobei dann die Frist des § 18 KSchG (Entlassungssperre) erst mit Eingang der vollständigen Anzeige bei der Arbeitsagentur zu laufen beginnt.
5. Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige
Die Massenentlassungsanzeige ist bei der zuständigen Agentur für Arbeit vor Erklärung der Kündigungen zu erstatten. Dies hatte der EuGH mit der Junk-Entscheidung vom
27. Januar 2005 entschieden. Maßgebend ist dabei der Tag, an dem die Kündigung ausgesprochen wird, und nicht ihr Zugang. Unschädlich ist es, wenn der Arbeitgeber die Kündigung bereits vor Erstattung der Anzeige unterzeichnet hat, so lange diese seinen Herrschaftsbereich noch nicht verlassen hat (BAG, Urteil vom 13. Juni 2019, 6 AZR 459/18).
Das BAG akzeptiert eine „Nachmeldung“ von anzeigepflichtig gewordenen Entlassungen. Jedoch nur eingeschränkt: Eine Nachmeldung ist nur für zusätzlich beabsichtigte Entlassungen innerhalb des 30-Tage-Zeitraumes zulässig. Für in der Vergangenheit erfolgte Entlassungen, die nicht angezeigt worden sind, bleibt es bei deren Unwirksamkeit.
6. Fazit
Die Massenentlassungsanzeige birgt für Arbeitgeber aufgrund der Komplexität der Materie und der sich stetig entwickelnden Rechtsprechung erhebliches Risikopotenzial. Dies gilt insbesondere, wenn die Maßnahme unter hohem zeitlichen Druck umgesetzt werden muss. Arbeitgebern ist daher dringend anzuraten, sich vor dem Hintergrund der großen zeitlichen Dynamik von Personalabbaumaßnahmen frühzeitig intensiv mit dem Thema zu beschäftigen und die Massenentlassungsanzeige sorgfältig vorzubereiten.
Autoren
Achim Braner
Nadine Ceruti
Whistleblower, d. h. „jemand, der zum Wohle der Gemeinschaft geheime Machenschaften an seinem Arbeitsplatz veröffentlicht“[1], bzw. Hinweisgeber sollen seit Erlass der EU-Whistleblower-Richtlinie (RL (EU) 2019/1937) stärker geschützt werden. Mit Spannung wurde erwartet, wie der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der EU-Whistleblower-Richtlinie im Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) umsetzt. Darf der Arbeitgeber beispielsweise kündigen, wenn Arbeitnehmende einen externen Meldeskandal herbeiführten, ohne zuvor innerbetrieblich auf etwaige Missstände hinzuweisen?
Mitte April 2022 hat das Bundesjustizministerium einen „vorabgestimmten“ zweiten Referentenentwurf (nachfolgend „HinSchG-E“) veröffentlicht. Dieser sieht für Arbeitgeber mit in der Regel mindestens 50 Beschäftigten die Verpflichtung zur Einrichtung einer internen Meldestelle vor. Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist darüber hinaus der Schutz von Hinweisgebern vor Repressalien ein weiterer wesentlicher Aspekt.
Ein geplantes Datum des Inkrafttretens enthält der Entwurf nicht. Es wird erwartet, dass das Gesetz noch in diesem Jahr verabschiedet wird.
Welche Hinweise unterfallen dem Schutz des Gesetzes (sachlicher Anwendungsbereich)?
Der sachliche Anwendungsbereich des HinSchG-E erfasst alle Informationen über Verstöße gegen nationales Strafrecht, aber auch gegen das von der Richtlinie vorgegebene Unionsrecht sowie Normen des nationalen Rechts, die mit den unionsrechtlich vorgegebenen Regelungsbereichen in sachlichem Zusammenhang stehen.
Im Gegensatz zum ersten Entwurf, werden nicht mehr Informationen über sämtliche bußgeldbewährte Verstöße erfasst, sondern nur „soweit die verletzte Vorschrift dem Schutz von Leben, Leib oder Gesundheit oder dem Schutz der Rechte von Beschäftigten oder ihrer Vertretungsorgane dient“. Für Arbeitgeber bedeutet dies, dass nach derzeitigem Stand des Entwurfs bußgeldbewährte Verstöße gegen die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns oder des Arbeitsschutzes vom sachlichen Anwendungsbereich erfasst sind. Auch Verstöße gegen Rechte der Betriebsverfassungsorgane (z. B. Betriebsrat, Sprecherausschuss) sind erfasst.
Welche Personen sind geschützt (persönlicher Anwendungsbereich)?
Geschützt wird die „hinweisgebende Person“. Das ist gemäß § 1 HinSchG-E jede natürliche Person, die im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit oder im Vorfeld Informationen über die genannten Verstöße erlangt hat und diese meldet bzw. offenlegt. Dieser weit gefasste persönliche Anwendungsbereich erfasst damit neben (ehemaligen) Arbeitnehmenden auch Bewerber, Selbstständige, Freiwillige und Organmitglieder (Aufsichtsratsmitglieder, etc.).
Darüber hinaus werden neben hinweisgebenden Personen auch Personen geschützt, die Gegenstand einer Meldung bzw. Offenlegung sind oder von einer solchen betroffen sind. Der Gesetzesentwurf erfasst mithin auch benannte Zeugen und sogar diejenigen Personen, denen ein Fehlverhalten vorgeworfen wird.
Für welche Arbeitgeber gelten die Regelungen des HinSchG?
Ab Inkrafttreten des Gesetzes sind gemäß
§ 12 Abs. 2 HinSchG-E alle Arbeitgeber sowohl in der Privatwirtschaft als auch in der Verwaltung mit in der Regel mindestens 50 Beschäftigten verpflichtet, wobei gemäß § 42 HinSchG-E für Arbeitgeber mit weniger als 250 Beschäftigten eine Übergangsfrist bis zum 17. Dezember 2023 gelten soll.
Gemäß § 12 Abs. 3 HinSchG-E werden zudem ausgewählte Arbeitgeber unabhängig von der Beschäftigtenzahl verpflichtet, vor allem im Finanzdienstleistungssektor.
Welche Pflichten treffen den Arbeitgeber?
Der Arbeitgeber hat gemäß § 12 Abs. 1 HinSchG-E interne Meldestellen zu errichten. Ausweislich des in § 14 Abs. 1 HinSchG-E zum Ausdruck kommenden Konzernprivilegs, ist es möglich, eine einheitliche interne Meldestelle beispielsweise für Mutter-, Schwester-, oder Tochtergesellschaft zu errichten. Zusätzlich können auch mehrere kleinere und voneinander unabhängige Unternehmen gemäß § 14 Abs. 2 HinSchG-E eine einheitliche interne Meldestelle errichten.
Zudem ist nach §§ 19 ff. HinSchG-E die Errichtung externer Meldestellen durch den Bund vorgesehen, deren Aufgaben vom Bundesamt für Justiz wahrgenommen werden und zusätzlich auf Landesebene errichtet werden können.
Bisher hielt das BAG den Versuch einer innerbetrieblichen Klärung teilweise für erforderlich, bevor sich Arbeitnehmende an externe Stellen wandten. Ist eine solche Abstufung (interne Abhilfe vor externer Rüge) auch im HinSchG-E vorgesehen?
Nein. Das Gesetz unterscheidet zwischen der vertraulichen Meldung an die internen und externen Meldestellen einerseits und der Offenlegung gegenüber der Öffentlichkeit (z. B. Presse, soziale Medien) andererseits. Meldungen betreffen Hinweise an die Meldestellen, die ausreichend stichhaltig sind. Offenlegungen betreffen Informationen über Verstöße gegenüber der Öffentlichkeit.
Der hinweisgebenden Person kommt nach § 7 HinSchG-E ein Wahlrecht zu, ob sie sich an eine interne oder externe Meldestelle wendet. Für eine Offenlegung gegenüber der Öffentlichkeit (Presse, Soziale Netzwerke) muss die hinweisgebende Person jedoch zuvor grundsätzlich eine Meldung gegenüber der externen Meldestelle erstattet haben und es dürften keine Folgemaßnahmen ergriffen worden sein oder sie dürfte nicht rechtzeitig Rückmeldung erhalten haben. Jedoch ist der Whistleblower in besonderen Fällen auch dann geschützt, wenn er sich direkt an die Öffentlichkeit wendet, beispielsweise bei der Gefahr einer irreversiblen Schädigung der körperlichen Unversehrtheit einer Person.
Was beinhaltet das Verbot von Repressalien?
Repressalien sind Handlungen oder Unterlassungen im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit, die eine Reaktion auf eine Meldung oder eine Offenlegung sind und durch die der hinweisgebenden Person ein ungerechtfertigter Nachteil entsteht oder entstehen kann. Es kommt also jede benachteiligende Maßnahme in Betracht, die infolge der Meldung oder Offenlegung ergriffen wird. Das erfasst im Arbeitsverhältnis beispielsweise die Erklärung einer Kündigung, der Ausspruch einer Abmahnung, die Verweigerung der Teilnahme an einer Weiterbildungsveranstaltung, negative Leistungsbeurteilungen, Änderungen der Arbeitszeiten, (Ruf-)Schädigungen oder das Herbeiführen finanzieller Verluste.
Gilt gegenüber Hinweisgebern ein Kündigungsverbot?
Nein, aber: Verboten sind nur Repressalien in Reaktion auf gemeldete oder offengelegte Hinweise. Insofern ist die Konstellation mit dem Maßregelungsverbot aus § 612a BGB vergleichbar, nach dem Arbeitnehmende keine Maßregelung für die zulässige Ausübung eines Rechts erleiden düren. Ein absolutes Kündigungsverbot gilt nicht, sodass beispielsweise die Erklärung einer verhaltens-, betriebs- oder personenbedingten Kündigung aus anderen Gründen weiterhin denkbar ist.
Im Gegensatz zum Maßregelungsverbot nach § 612a BGB gilt für Repressalien gemäß § 36 Abs. 2 HinSchG-E allerdings eine Beweislastumkehr. Legt der Arbeitnehmende dar, dass er eine Meldung oder Offenlegung eines Verstoßes nach dem HinSchG-E mitgeteilt oder zugänglich gemacht hat und im Anschluss daran eine Benachteiligung erlitten hat, ist es Sache des Arbeitgebers, die Tatsachen zu beweisen, dass die Maßnahme nicht infolge der Meldung oder Offenlegung ergriffen wurde und die hinweisgebende Person keine ungerechtfertigte Benachteiligung erfahren hat.
Was geschieht im Falle eines Verstoßes gegen die Regelungen des HinSchG?
Neben dem Umstand, dass entgegen dem Repressalienverbot ergriffene Maßnahmen (z. B. Kündigungen) gemäß § 134 BGB nichtig sind, ist der Verursacher einer verbotenen Repressalie nach § 37 HinSchG-E verpflichtet, der hinweisgebenden Person den durch die Repressalie erlittenen Schaden zu ersetzen. Dies können – ggf. auch künftige – finanzielle Einbußen, Schmerzensgeld sowie eine billige Entschädigung in Geld wegen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sein. Ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses besteht gemäß § 37 Abs. 2 HinSchG-E jedoch nicht.
Zudem sind die im HinSchG-E vorgesehenen Bußgeldvorschriften zu beachten, die beispielsweise bei der Behinderung von Meldungen, dem Ergreifen verbotener Repressalien oder der Verletzung der Vertraulichkeit an die Ordnungsbehörden im Einzelfall in Höhe von bis zu EUR 100.000,00 zu zahlen sein können.
Ausblick
Nach Inkrafttreten des Gesetzes sind Arbeitgeber gehalten, dieses zügig umzusetzen. Insbesondere durch die Verpflichtung zur Einrichtung einer internen Meldestelle ergibt sich konkreter Handlungsbedarf. Dabei wirft das Gesetz, nicht zuletzt durch das Erfordernis zur Wahrung der Vertraulichkeit, komplexe Fragestellungen auf. Darüber hinaus hat der Arbeitgeber sich mit dem Betriebsrat auseinanderzusetzen, um dessen Mitbestimmungsrechte wahren.
Weitere Informationen zu den arbeitsrechtlichen Regelungen des HinSchG-E, insbesondere zu dem Repressalienverbot und den Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats, geben wir Ihnen in unserem Webinar „Der HinweisgeberschutzG-E aus arbeitsrechtlicher Perspektive“ am 7. Juli 2022 von 12.30 Uhr bis 13.15 Uhr. Wir laden Sie herzlich ein, an dem Webinar teilzunehmen: [https://www.luther-lawfirm.com/newsroom/veranstaltungen/detail/10340].
Autorinnen
Sandra Sfinis
Martina Ziffels
[1] Pons, https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/englisch-deutsch/whistle-blower
Luther Partner Dr. Marco Arteaga eröffnet hochkarätig besetzten bAV-Kongress
Am 21. Juni 2022 fand in Berlin unter dem Motto „Leinen los, Sozialpartnermodelle!“ ein mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Praxis hochkarätig besetzter Kongress zur betrieblichen Altersversorgung (bAV) statt. Auf Einladung des Eberbacher Kreises hatten sich rund 150 Branchenvertreter im Meistersaal am Potsdamer Platz versammelt, um über die Zukunft der Sozialpartnermodelle in Deutschland zu diskutieren.
Der Eberbacher Kreis ist ein im Jahr 2016 gegründeter Zusammenschluss führender bAV-Berater aus nationalen und internationalen Wirtschaftskanzleien.
In seiner Eröffnungsrede wies der Sprecher des Eberbacher Kreises, Luther Partner Dr. Marco Arteaga, auf die Bedeutung der durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz eingeführten Sozialpartnermodelle gerade für kleine und mittelständische Arbeitgeber hin:
„Insbesondere KMU bürden sich mit der Teilnahme an Sozialpartnermodellen weder Haftungsrisiken noch Verwaltungsaufwand auf, können aber bei den Sozialleistungen mit den großen Arbeitgebern im Kampf um qualifizierte Fachkräfte mithalten“, so Arteaga.
Auch aus der Politik erhalten die Sozialpartnermodelle Rückenwind. Staatsekretär Dr. Rolf Schmachtenberg (BMAS) betonte in Vertretung des kurzfristig verhinderten Bundesarbeitsministers Hubertus Heil, dass die Sozialpartnermodelle ein ideales und innovatives Instrument böten, um die bedeutende Rolle der Tarifparteien in der Alterssicherung weiter auszubauen. Das tarifliche Sozialpartnermodell eröffne, so Schmachtenberg, Möglichkeiten für einfache, attraktive, sehr kostengünstig organisierte Betriebsrenten bei gleichzeitig hoher Sicherheit.
„Die Bundesregierung steht deshalb zu diesem Modell und dankt den Kolleginnen und Kollegen, die bei den Sozialpartnern derzeit an der Umsetzung des Modells arbeiten“, sagte Schmachtenberg.
Peter Klotzki, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Freien Berufe, sieht in den Sozialpartnermodellen ein wirksames Mittel, um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Freien Berufe stärker zu binden und dem Fachkräftemangel entgegenzutreten:
„Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden, können wir alle Berufsgattungen der Freien Berufe in einer einzigen Kasse bzw. einem einzigen Sozialpartnermodell zusammenfassen. Wir erwarten hierdurch enorme Kostenvorteile im Interesse der Beschäftigten.“
Abgerundet wurde das Tagungsprogramm durch Beiträge prominenter Stimmen aus dem Ausland.
David Webber, Professor an der Boston University und Autor des vielbeachteten Buches „The Rise of the Working Class Shareholder – Labor‘s Last Best Weapon”, der frühere CEO des mit einem Vermögen von rd. EUR 250 Mrd. zweitgrößten niederländischen Pensionsfonds „Zorg en Welzijn“ (PFZW), Peter Borgdorff sowie Thomas R. Schönbächler, Vorsitzender der Geschäftsleitung der größten schweizerischen Pensionskasse, lieferten in ihren Vorträgen spannende Einblick in das Pensionswesen in den USA, den Niederlanden und der Schweiz.
Das Team Pensions bei Luther berät zu allen Themen rund um die bAV
Wenn ein Versorgungstarifvertrag aus dem Jahr 2008 einen Anspruch der Arbeitnehmenden auf einen Arbeitgeberzuschuss zum umgewandelten Entgelt regelt, können die Arbeitnehmenden aufgrund der gesetzlichen Übergangsregelung in § 26a BetrAVG nicht noch zusätzlich einen weiteren Arbeitgeberzuschuss verlangen. Verweist ein Firmentarifvertrag aus dem Jahr 2019 auf einen solchen Versorgungstarifvertrag, ist ein Anspruch auch über den 31. Dezember 2021 hinaus ausgeschlossen.
BAG vom 8.3.2022 – 3 AZR 361/21 und 3 AZR 362/21
Hintergrund
Mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz (BRSG), das zum
1. Januar 2018 in Kraft trat, wurde mit dem gesetzlichen Arbeitgeberzuschuss nach § 1a Abs. 1a Betriebsrentengesetz (BetrAVG) für die versicherungsförmigen Durchführungswege Direktversicherung, Pensionskasse und Pensionsfonds ein verpflichtender Arbeitgeberzuschuss zur Entgeltumwandlung eingeführt. Mit diesem Zuschuss gibt der Arbeitgeber den größten Teil der bei ihm durch die Entgeltumwandlungsvereinbarung entstehende Sozialversicherungs-Beitragsersparnis an die Arbeitnehmenden zurück. Der Zuschuss ist vom Arbeitgeber grundsätzlich in Höhe von 15 % des umgewandelten Entgelts zu leisten, sofern nicht im Einzelfall die tatsächlich entstehende Sozialversicherungsbeitragsersparnis niedriger ist. Von dieser gesetzlichen Regelung darf durch Tarifvertrag auch zuungunsten der Arbeitnehmenden abgewichen werden, § 19 Abs. 1 BetrAVG.
Aufgrund der Übergangsregelung des § 26a BetrAVG gilt die Zuschusspflicht des Arbeitgebers für Entgeltumwandlungsvereinbarungen, die vor dem 1. Januar 2019 geschlossen wurden, erst nach Ablauf einer Übergangsfrist von drei Jahren. Für alle nach dem 1. Januar 2019 geschlossenen Entgeltumwandlungsvereinbarungen ist der Arbeitgeberzuschuss sofort zu leisten. Damit sind ab dem 1. Januar 2022 grundsätzlich alle betroffenen Entgeltumwandlungen verpflichtend zu bezuschussen.
Das BAG hatte in diesem Zusammenhang die Frage zu entscheiden, ob ein vom Arbeitgeber schon vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung freiwillig gewährter Zuschuss die gesetzliche Verpflichtung bereits erfüllt, oder ob gegebenenfalls ein zusätzlicher Zuschuss gezahlt werden muss.
Die Fälle
In beiden Verfahren streiten die Parteien über die Verpflichtung des Arbeitgebers, einen Arbeitgeberzuschuss nach
§ 1a Abs. 1a BetrAVG in den Jahren 2019 und 2020 zu zahlen. Beide Kläger (Arbeitnehmende) wandelten auf der Grundlage eines Flächentarifvertrags zur Altersversorgung aus dem Jahr 2008 Entgelt zu einem Pensionsfonds um. Dieser eröffnet den Arbeitnehmenden die Möglichkeit, Entgelt bis zur steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Höchstgrenze für die Finanzierung betrieblicher Altersversorgungsleistungen zu verwenden. Der Arbeitgeber gewährte ihnen aufgrund des Tarifvertrags zusätzlich einen Altersvorsorgegrundbetrag in Höhe des 25-fachen Facharbeiterecklohns pro Kalenderjahr.
In dem einen Fall kommt ein Flächentarifvertrag aufgrund beidseitiger Tarifbindung direkt zur Anwendung, in dem anderen Fall war jedoch ein Firmentarifvertrag aus dem Jahre 2019 anzuwenden, der auf den vorgenannten Flächentarifvertrag verweist.
Die Entscheidungen
Beide Klagen hatten keinen Erfolg.
Der Flächentarifvertrag war vor dem 1. Januar 2019 abgeschlossen worden. Das BAG stufte ihn auf der Grundlage des § 26a BetrAVG als eine kollektivrechtliche Entgeltumwandlungsvereinbarung im Sinne der dortigen Regelung ein. Daher kann ein Anspruch auf einen Zuschuss per se erst nach dem 31. Dezember 2021 entstehen.
Arbeitnehmende können wegen der gesetzlichen Übergangsbestimmung in § 26a BetrAVG bis zum 31. Dezember 2021 demnach keinen weiteren Arbeitgeberzuschuss verlangen, wenn ein Tarifvertrag zur Altersversorgung aus dem Jahr 2008 schon einen Anspruch der Arbeitnehmenden auf Entgeltumwandlung sowie Zusatzleistungen des Arbeitgebers zum umgewandelten Entgelt vorsieht.
Nach Ansicht des BAG handelt es sich bei dem Firmentarifvertrag hingegen um eine kraft Gesetzes zugelassene Abweichung nach § 19 Abs. 1 BetrAVG. Danach darf von bestimmten Regelungen des BetrAVG – u. a. § 1a BetrAVG – in einem Tarifvertrag auch zuungunsten der Arbeitnehmenden abgewichen werden.
Dass hier aus Sicht des BAG von einer solchen Abweichung auszugehen war, wurde damit begründet, dass dieser Firmentarifvertrag auf die von § 1a BetrAVG abweichenden Regelungen des Flächentarifvertrags zur Altersversorgung Bezug nimmt. U. a. hatten die dort getroffenen Regelungen mit dem Altersversorgungsgrundbetrag eine von § 1a Abs. 1a BetrAVG abweichende Verteilung des wirtschaftlichen Nutzens und der Lasten der Entgeltumwandlung enthalten.
Verweist also ein Firmentarifvertrag aus dem Jahr 2019 auf einen solchen Flächentarifvertrag und weicht damit von
§ 1a BetrAVG zuungunsten der Arbeitnehmenden ab, ist ein Anspruch auch über den 31. Dezember 2021 hinaus ausgeschlossen. Die Übergangsregelung des § 26a BetrAVG spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Unser Kommentar
Viele Fragen sind durch die lang erwarteten Entscheidungen des BAG zum Arbeitgeberzuschuss nach § 1a Abs. 1a BetrAVG leider offen geblieben, etwa, ob der Flächentarifvertrag zur Altersversorgung aus dem Jahr 2008 von der Tariföffnung des § 19 Abs. 1 BetrAVG Gebrauch machen und den Anspruch der Arbeitnehmenden modifizieren konnte, obwohl er vor dem Inkrafttreten des BRSG abgeschlossen wurde.
Zumindest zur Frage, ob Tarifverträge kollektivrechtliche Entgeltumwandlungsvereinbarungen nach der Regelung des
§ 26a BetrAVG darstellen können, schafft das Gericht durch seine Einordnung Klarheit.
Arbeitgeber und ihre Verbände sollten in Tarifverträgen, die neu abzuschließen sind, klare Vorgaben zum Arbeitgeberzuschuss vereinbaren. Es sollte explizit festgelegt werden, inwieweit es sich um Zuschusszahlungen zur Entgeltumwandlung handeln soll.
Autor
Sebastian Walthierer
Begehrt ein Kläger Auskunft über und Kopie von personenbezogenen Daten, ist ein Klageantrag, der ergänzend zum Wortlaut des Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 DS-GVO auslegungsbedürftige Begriffe enthält, über deren Inhalt nicht behebbare Zweifel bestehen, nicht hinreichend bestimmt. Die mangelnde Bestimmtheit des Antrags führt zur Klageabweisung. Nur, wenn dem Kläger eine weitere Konkretisierung der Anträge nicht zumutbar ist und für die Parteien kein Zweifel an ihrem Inhalt besteht, kann von diesem Grundsatz abgewichen werden, da dann die Reichweite von Antrag und Urteil feststehen.
BAG, Urteil vom 16.12.2021 – 2 AZR 235/21
Der Fall
Nachdem die Beklagte Meldungen über mögliche Missstände beim Kläger aus einem bei ihr bestehenden Hinweisgebersystem erhalten hatte, kündigte sie dem Kläger aus verhaltensbedingten Gründen. In einem abgetrennten Verfahren wurde die Kündigungsschutzklage rechtskräftig zugunsten des Klägers entschieden.
Parallel zu diesem Verfahren machte der Kläger mit seiner Klage seine Ansprüche auf Auskunft und Erteilung von Kopien gem. Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 und Abs. 3 S. 1 DS-GVO geltend. Er begehrte im Wesentlichen Auskunftserteilung über seine personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten, die die Arbeitgeberin in ihren IT-Systemen gespeichert hat.
Er beantragte, die Beklagte zu verurteilen,
„1. dem Kläger Auskunft über die von ihr verarbeiteten und nicht in der Personalakte des Klägers gespeicherten personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten des Klägers zu erteilen, im Hinblick auf die Zwecke der Datenverarbeitung die Empfänger, gegenüber denen die Beklagte personenbezogene Daten des Klägers offengelegt hat oder noch offenlegen wird, die Speicherdauer oder, falls dies nicht möglich ist, Kriterien für die Festlegung der Dauer, die Herkunft der personenbezogenen Daten des Klägers, soweit die Beklagte diese nicht bei dem Kläger selbst erhoben hat und das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung einschließlich Profiling sowie aussagekräftiger Informationen über die involvierte Logik sowie die Tragweite und die angestrebten Auswirkungen einer derartigen Verarbeitung.
2. dem Kläger eine Kopie seiner personenbezogenen Leistungs- und Verhaltensdaten, die Gegenstand der von ihr vorgenommenen Verarbeitung sind, zur Verfügung zu stellen.“
Der Kläger stützte seinen Antrag somit wörtlich auf die unter Art. 15 Abs. 1 lit. a bis f genannten Informationen, ergänzte jedoch die Begriffe der „Leistungs- und Verhaltensdaten“ und schränkte das Auskunftsbegehr auf „nicht in der Personalakte gespeicherte“ personenbezogene Daten ein.
In erster Instanz gab das Arbeitsgericht Stuttgart (Urteil vom 5. Juni 2019 – 3 Ca 4960/18) der Klage vollumfänglich statt. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Urteil vom 17. März 2021 – 21 Sa 43/20) hat das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert, den Tenor mit zahlreichen Einschränkungen, Bedingungen und Beispielsfällen neu gefasst und die Klage im Übrigen abgewiesen.
Die Entscheidung
Die arbeitgeberseitige Revision war erfolgreich. Das Urteil des LAG Baden-Württemberg sei rechtsfehlerhaft, da seine Urteilsformel nicht hinreichend bestimmt sei. Ein Titel müsse aus sich selbst heraus einen bestimmten oder zumindest bestimmbaren Inhalt haben, damit der Umfang der materiellen Rechtskraft und damit die Entscheidungswirkungen feststellbar seien. Andernfalls würden Unklarheiten über den Inhalt der Verpflichtung aus dem Erkenntnisverfahren in das Vollstreckungsverfahren verlagert. Zudem müsse für den Schuldner aus rechtsstaatlichen Gründen erkennbar sein, in welchen Fällen er ein Zwangsmittel zu befürchten habe.
Nach diesen Maßstäben sei ein Tenor zu unbestimmt, wenn er auf gesetzliche Regelungen Bezug nähme, die selbst auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe und Verweisungen enthielten. Auch die vom Kläger zuletzt gestellten Anträge auf Auskunft und Erteilung von Kopien seien nicht hinreichend bestimmt und somit unzulässig. Die Verwendung auslegungsbedürftiger Begriffe komme nur in Betracht, wenn einerseits für den Kläger eine weitere Konkretisierung unmöglich oder nicht zumutbar sei und andererseits für die Parteien kein Zweifel an ihrem Inhalt bestehe. Ein Antrag, der lediglich den Gesetzestext wiederhole, sei folglich regelmäßig nicht geeignet, einen bestimmten Streit der Beteiligten mit Rechtskraftwirkung beizulegen.
Der Antrag des Klägers, der die einer Auslegung bedürfenden Begriffe der „Leistungs- und Verhaltensdaten“ verwende und durch die Ausnahme eines Speicherorts („nicht in der Personalakte des Klägers gespeichert“) zu zusätzlicher Unklarheit führe, welche Auskünfte begehrt seien, erfülle die Bestimmtheitserfordernisse nicht. Welche Daten „Leistungs- und Verhaltensdaten“ seien, sei zwischen den Parteien streitig und lasse sich auch nicht durch den Rückgriff auf die zum § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ergangene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und der dort entwickelten Definitionen hinreichend feststellen.
Der Senat verkenne dabei nicht, dass es aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes einen Weg geben müsse, den aus Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 DS-GVO folgenden Anspruch prozessual durchzusetzen. Die Frage nach der Zulässigkeit eines Antrags, der nur den Gesetzeswortlaut nach Art. 15 Abs. 2 Hs. 2 DS-GVO wiedergebe, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber noch keinerlei Auskunft erhalten habe, könne angesichts der Besonderheiten des unionsrechtlich determinierten Auskunftsanspruchs dahinstehen. Denn der Kläger habe seinen Anspruch mit weiteren Bedingungen versehen, die aus dem von ihm formulierten Anspruch nicht ein „Minus“, sondern ein „Aliud“ zu dem Anspruchsinhalt gem. Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 DS-GVO machen würde. Insoweit könne die Antragsbegrenzung auch nicht gedanklich gestrichen werden. Zudem habe der Kläger nicht berücksichtigt, dass die Beklagte im laufenden Verfahren bereits Auskünfte erteilt habe und dies nicht zum Anlass genommen, sein (verbleibendes) Begehr zu konkretisieren.
Folglich sei auch der Anspruch auf Erteilung von Kopien gem. Art. 15 Abs. 3 S. 1 DS-GVO unzulässig, da im Falle einer Verurteilung ebenfalls unklar wäre, auf welche personenbezogenen Daten sich die Verurteilung konkret bezöge und wann der Anspruch erfüllt wäre. Insoweit habe der Kläger die Möglichkeit, seinen Anspruch im Rahmen einer Stufenklage geltend zu machen. Es gehe dem Kläger bei dem Antrag auf zur Verfügungstellung von Kopien gerade nicht darum, Informationen zu einer weiteren Konkretisierung seines Antrags zu erhalten. Eine bloße Wiederholung des Normwortlauts sei, anders als womöglich beim Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 DS-GVO, grundsätzlich nicht ausreichend. Es lasse sich nicht erkennen, von welchen personenbezogenen Daten eine Kopie verlangt werden würde. Insoweit bedürfe es auch keines Vorabentscheidungsverfahrens, wie der Senat bereits an anderer Stelle (BAG, Urteil vom
27. April 2021 – 2 AZR 342/20) begründet habe. Denn die dortigen Ausführungen seien auch entsprechend auf den Auskunftsanspruch zu übertragen. Mangels Entscheidungserheblichkeit könne überdies dahinstehen, ob dem Effektivitätsgrundsatz dadurch Genüge getan würde, dass man eine am bloßen Wortlaut der Norm orientierte Antragstellung als ausreichend ansähe.
Unser Kommentar
Mit der vorliegenden Entscheidung bestätigte das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung vom 27. April 2021 (Az: 2 AZR 342/20), in der es die Anforderungen an die Bestimmtheit von Auskunftsanträgen auf der Grundlage des Art. 15 DS-GVO erstmals konkretisierte. Es entschied, dass ein pauschaler Antrag auf „Überlassung sämtlicher E-Mails, die Gegenstand der Datenverarbeitung sind und an die dienstliche E-Mail-Adresse des Beschäftigten gesendet wurden oder ihn namentlich nennen“, zu unbestimmt sei. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass der vorliegenden Entscheidung mit der einschränkend ergänzten Auskunftsbegehr eine besondere Sachverhaltskonstellation zugrunde liegt. Im Regelfall werden Ansprüche auf Auskunftserteilung und der Erteilung von Kopien in der Praxis unter unveränderter Wiedergabe des Gesetzeswortlauts des Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 DS-GVO geltend gemacht. Die Frage nach der Zulässigkeit dieser Antragsstellung ließ das BAG bedauerlicherweise weiterhin offen. Die Relevanz dieser Frage ist evident, da eine fehlerhafte Beantwortung zu Schadenersatzansprüchen nach Art. 82 DS-GVO und Geldbußen nach Art. 83 DS-GVO führen könnte und Auskunftsansprüche immer häufiger im Rahmen von Kündigungsschutzklagen genutzt werden, um Arbeitgeber zusätzlich unter Druck zu setzen.
Vor dem Hintergrund dieser nicht höchstrichterlich entschiedenen Rechtsfrage steht Arbeitgebern, die sich mit einem Auskunftsbegehren konfrontiert sehen, das sich dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 DS-GVO bedient oder sich an ihm orientiert, das Argument der Unbestimmtheit der Anträge weiterhin als Verteidigungsmittel zur Verfügung. Das gilt insbesondere dann, wenn der Antragsteller zum Zwecke einer vermeintlichen Konkretisierung auslegungsbedürftige Begriffe verwendet.
Ein Arbeitnehmer, der aufgrund einer Behinderung die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle nicht mehr erfüllen kann, ist auch bereits während der Probezeit auf einer anderen Stelle einzusetzen, für die er die notwendigen Kompetenzen, Fähigkeiten und Verfügbarkeit aufweist, soweit diese Maßnahme den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastet.
EuGH, Urteil vom 10.2.2022 – C-485/20
Ausgangsfall
Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde als Fachmitarbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege bei der belgischen Eisenbahngesellschaft HR Rail SA eingestellt und begann im November 2016 seine Probezeit. Im Dezember wurde bei dem Kläger ein Herzleiden diagnostiziert, das einen Herzschrittmacher erforderlich machte. Die als Herzschrittmacher eingesetzten medizinischen Geräte reagieren empfindlich auf elektromagnetische Felder und dürfen diesen nicht wiederholt ausgesetzt werden. Da elektromagnetische Felder auch in Gleisanlagen verbreitet vorkommen, konnte der Kläger die Wartungs- und Instandhaltungstätigkeiten, zu deren Erbringung er ursprünglich eingestellt worden war, nicht länger ausüben. Im Juni 2018 wurde die Erkrankung des Klägers als Behinderung behördlich anerkannt. Die zuständige öffentliche Stelle für Verwaltungsmedizin stellte fest, dass der Kläger ungeeignet ist, die Funktion, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen. Er könne jedoch für Tätigkeiten mit durchschnittlicher Aktivität, ohne Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern und ohne Arbeiten in Höhenlagen oder bei Vibration eingesetzt werden. Der Kläger wurde daraufhin innerhalb von HR Rail SA als Lagerist eingesetzt. Die Arbeitgeberin teilte dem Kläger mit, er werde Unterstützung erhalten, um innerhalb von HR Rail SA eine neue Stelle zu finden. Die Berufung des Klägers gegen die Entscheidung der Stelle für Verwaltungsmedizin wurde zurückgewiesen. Im September 2018 wurde das Arbeitsverhältnis des Klägers gekündigt und eine Sperrzeit zur Wiedereinstellung auf derselben Besoldungsstufe verhängt. Im Nachgang teilte der Generaldirektor der HR Rail SA mit, dass die Probezeit des Klägers beendet worden sei, da er die Tätigkeit, für die er eingestellt worden sei, nicht mehr ausüben könne und – anders als bei festen Mitarbeiternden, bei denen eine Behinderung festgestellt werde – innerhalb der Probezeit keine Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz vorgesehen sei. Der Kläger erhob Klage beim belgischen Staatsrat auf Nichtigerklärung der Entscheidung zur Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Der Staatsrat setzte das Verfahren aus und wandte sich zur Vorabentscheidung einer Auslegungsfrage betreffend die Richtlinie 2000/78 (Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf) an den EuGH. Es sei unklar, ob Art. 5 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass ein Arbeitgeber verpflichtet ist, einer Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen Funktionen ihres bisherigen Arbeitsplatzes zu erfüllen, an einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen ist, für den sie die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern eine solche Maßnahme keine übermäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt.
Entscheidung über Vorlagefrage
Der EuGH legte die Vorlagefrage dahin aus, ob die Formulierung „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ in Art. 5 der Richtlinie 2000/78 impliziere, dass ein Arbeitnehmer, der aufgrund einer Behinderung für ungeeignet zur Erbringung der wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle erklärt wird, auch innerhalb der Probezeit auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die Kompetenzen, Fähigkeiten und Verfügbarkeiten aufweist. Die so verstandene Vorlagefrage bejaht der EuGH mit der Einschränkung, dass die zu ergreifenden Maßnahmen den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belasten dürfen. Zunächst weist der EuGH darauf hin, dass Zielsetzung der Richtlinie 2000/78 ein wirksamer Schutz vor Diskriminierung u. a. aufgrund von Behinderung sei. Die Richtlinie konkretisiere das in der Grundrechte Charta der Europäischen Union allgemein niedergeschriebene Diskriminierungsverbot.
Der Kläger des Ausgangsfalls könne sich auch bereits während der Probezeit auf die Richtlinie 2000/78 berufen. Diese gelte für den öffentlichen und privaten Bereich inklusive öffentlicher Stellen und finde Anwendungen auf den Zugang zu unselbstständiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit sowie allen Formen und Ebenen der Berufsberatung, Berufsausbildung, Weiterbildung und Umschulung. Die weit gefasste Bestimmung schließe daher auch Arbeitnehmende ein, die nach ihrer Einstellung vom Arbeitgeber zu Ausbildungszwecken eine Probezeit absolvierten. Insoweit habe der EuGH bereits entschieden, dass auch Personen, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, unter den Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2000/78 fallen, wenn diese unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohnverhältnis erbracht werden. Schließlich sei für den Kläger unstreitig eine Behinderung festgestellt worden.
Weiter weist der EuGH darauf hin, dass die von Arbeitgebern nach der Richtlinie 2000/78 und ihren Erwägungsgründen zu ergreifenden geeigneten, das heißt wirksamen und praktikablen Maßnahmen unter Berücksichtigung der individuellen Situation zu bestimmen sind. Die Richtlinie ist zudem in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 3 des VN-Übereinkommens (Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) auszulegen. Nach diesem Übereinkommen erfasst die Diskriminierung aufgrund von Behinderung auch die Versagung angemessener Vorkehrungen.
Art. 5 der Richtlinie 200/78 sieht das Ergreifen angemessener Vorkehrungen vor, um die Gleichbehandlung zu gewährleisten. Der EuGH hat bereits entscheiden, dass die in Erwägungsgrund 20 der Richtlinie benannten Maßnahmen keine abschließende Aufzählung darstellen. Das Gericht stellt daher klar, dass auch solche Maßnahmen des Arbeitgebers erfasst würden, die es dem Arbeitnehmenden ermöglichen, seine Beschäftigung zu behalten. Es stelle auch eine angemessene Maßnahme im Sinne der Richtlinie dar, den Arbeitnehmenden, der aufgrund einer Behinderung endgültig ungeeignet für seinen Arbeitsplatz geworden ist, auf einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen.
Der EuGH stellt jedoch auch klar, dass die Richtlinie Arbeitgeber nicht zu solchen Maßnahmen verpflichte, die ihn unverhältnismäßig belasten. Entsprechend der Erwägungsgründe der Richtlinie sind insbesondere der finanzielle Aufwand der Maßnahme sowie die Größe und die finanziellen Ressourcen des Arbeitgebers sowie die Verfügbarkeit öffentlicher Mittel zu berücksichtigen.
Mit Blick auf den vom Staatsrat Belgien zu beurteilenden Sachverhalt wies der EuGH darauf hin, dass die Beschäftigung des Klägers auf der Position als Lagerist nach der Feststellung seiner Behinderung bei dieser Beurteilung zu berücksichtigen sei. Voraussetzung der Beschäftigung auf einer anderen Stelle sei schließlich das Vorhandensein eines freien Arbeitsplatzes.
Unser Kommentar:
Die Entscheidung des EuGH reiht sich neben weiteren Entscheidungen zum besonderen Schutz von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz ein und ist insoweit konsequent. Die Auslegung der Richtlinie 2000/78 wirkt sich über den konkreten, in Belgien spielenden Fall auch auf das deutsche Arbeitsrecht aus. Insbesondere die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetztes (AGG), das der Umsetzung der Richtlinie 2000/78 ins nationale Recht dient, werden künftig an dieser Auslegung gemessen werden müssen.
Unter Berücksichtigung dieser Entscheidung des EuGH ergibt sich somit auch hierzulande eine Einschränkung der Kündigungsmöglichkeiten eines Mitarbeiters während der Probezeit, wenn dieser die Tätigkeit, für die er eingestellt wurde, aufgrund einer Behinderung nicht mehr auszuüben vermag. Vor dem Ausspruch einer Probezeitkündigung in einem solchen Fall wird nun regelmäßig zu prüfen sein, ob der Wegfall des Beschäftigungsinteresses allein auf der fehlenden Eignung infolge der Behinderung beruht und ob es einen anderen freien Arbeitsplatz gibt, auf dem der Mitarbeiter eingesetzt werden kann. Voraussetzung bleibt jedoch, dass der dem Mitarbeiter mit Behinderung anzubietende Arbeitsplatz frei ist und der Mitarbeiter die Fähigkeiten und Kenntnisse mitbringt, um diese Position zu besetzen.
Vor dem Hintergrund dieses besonderen, bereits während der Probezeit bestehenden Schutzes von Menschen mit Behinderung, die aufgrund der Behinderung die zunächst ausgeübte Tätigkeit nicht mehr erbringen können, sollten Arbeitgeber künftig bereits vor dem Ausspruch einer Probezeitkündigung eine etwaige alternative Beschäftigung berücksichtigen. Eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird künftig trotz der Vereinbarung einer Probezeit erheblich erschwert. Dies zeigt sich insbesondere anhand der Verteilung der prozessualen Darlegungs- und Beweislast. So genügt es nach § 22 AGG, dass der Arbeitnehmer Indizien beweist, die eine Benachteiligung etwa aufgrund einer Behinderung vermuten lassen. Der Arbeitgeber wird dann in vollem Umfang beweisen müssen, dass die Kündigung innerhalb der Probezeit nicht aufgrund der Einschränkungen wegen der Behinderung erfolgt ist, sondern ein anderer Grund, wie etwa die fehlende fachliche Eignung, Hintergrund der Kündigung ist. Eine solche Darstellung wird dem Arbeitgeber in vielen Fällen nur schwer möglich sein.
Darüber hinaus betont der EuGH zwar, dass die Maßnahmen nur dann ergriffen werden müssen, wenn der Arbeitgeber durch diese nicht unverhältnismäßig belastet wird. Die Darlegungs- und Beweislast für diese Unverhältnismäßigkeit liegt jedoch ebenfalls beim Arbeitgeber.
Es bleibt daher abzuwarten, welche Anforderungen die nationalen Arbeitsgerichte an die Darlegung der Umstände stellen. Arbeitgebern ist vorerst zu raten, die Kündigung eines Arbeitnehmers mit Behinderung auch in der Probezeit inhaltlich sorgfältig vorzubereiten. Je nach Tätigkeit und Art der Behinderung, der Personalsituation im Unternehmen und den sonstigen Umständen ist der Arbeitgeber zur Vermeidung einer Diskriminierung und Darlegung einer wirksamen Kündigung zur umfangreichen Dokumentation der Umstände angehalten.
Autorin
Cyrielle Ax
In § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG ist in Umsetzung von Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 RL 98/59/EG vorgesehen, dass der Arbeitgeber gleichzeitig mit der Mitteilung an den Betriebsrat der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten hat. Die Kernfrage des Vorlagebeschluss des BAG an den EuGH ist, ob es sich bei Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 RL 98/59/EG um eine bloß verfahrensordnende Vorschrift handelt oder ob sie – zumindest auch – Individualschutz für Arbeitnehmende im Falle von Massenentlassungen gewährleisten soll.
BAG, Vorlagebeschluss vom 27.1.2022 – 6 AZR 155/21
Der Fall
Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtstreits zwischen dem klagenden Arbeitnehmer und dem Beklagten, der als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Arbeitgeberin bestellt wurde. Die Parteien streiten darüber, ob das Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung wirksam aufgelöst wurde. Mit Beschluss aus dem Jahr 2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet und im Jahr 2020 die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs der Arbeitgeberin beschlossen. Die sich an den Stilllegungsbeschluss anschließende Interessenausgleichsverhandlung wurde mit dem gem. § 17 Abs. 2 KSchG durchzuführenden Konsultationsverfahren verbunden. Mit am 17. Januar 2020 an den Betriebsrat übermittelten Entwurf eines Interessenausgleichs wurde das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat eingeleitet und durchgeführt. Allerdings wurde entgegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG keine Abschrift des an den Betriebsrat übermittelten Interessenausgleichsentwurfs an die zuständige Agentur für Arbeit übermittelt. Am 23. Januar 2020 wurde bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige erstattet. Das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde daraufhin zum 30. April 2020 gekündigt. Die Agentur für Arbeit beraumte bereits für den 28. und 29. Januar 2020 für mehr als 100 Arbeitnehmende Beratungstermine an. Der Kläger verteidigte sich gegen die Kündigung und verwies insbesondere auf den Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG. Nachdem der Kläger in den ersten beiden Instanzen keinen Erfolg hatte, verfolgt er mit der Revision sein Klageziel unverändert weiter.
Die Entscheidung
Das BAG hat den Rechtsstreit ausgesetzt und dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Welchem Zweck dient Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, wonach der Arbeitgeber der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabs. 1 Buchst. b Ziffern i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung an die Arbeitnehmervertretung zu übermitteln hat?
Nach Ansicht des BAG ist die allein entscheidende Frage im vorliegenden Rechtsstreit, ob die Kündigung wegen des vorliegenden Verstoßes gegen die Verpflichtung aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, mit der Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 RL 98/59/EG umgesetzt worden ist, nichtig ist. Dieser Verstoß könne zur Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB führen, wenn Schutzzweck des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zumindest auch der individuelle Schutz von Arbeitnehmenden ist. Aufgrund des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes müsse der Verstoß dieselbe Rechtsfolge – also die Nichtigkeit der Kündigung – haben, wie sie die Rechtsprechung auch bei Verstößen gegen andere zumindest auch dem Arbeitnehmerschutz dienenden Vorschriften des Massenentlassungsschutzes angenommen hat. Um den Schutzzweck des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zu ermitteln, sei eine Auslegung von Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 RL 98/59/EG erforderlich. Die Auslegung dieser Bestimmung obliege jedoch allein dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV.
Unser Kommentar
Der EuGH könnte mit seiner Entscheidung eine weitere Hürde für Arbeitgeber in Massenentlassungsverfahren aufstellen. Schon jetzt verstecken sich im § 17 KSchG eine Vielzahl an Fallstricken, die Arbeitgebern größte Sorgfalt abverlangen. So sind nach der Rechtsprechung des BAG beispielsweise Kündigungen im Rahmen eines Massenentlassungsverfahrens nichtig, wenn der Arbeitgeber der Anzeige an die Agentur für Arbeit die Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen nicht beigefügt hat oder die Glaubhaftmachung über die Unterrichtung des Betriebsrats und den Stand der Beratungen fehlerhaft ist. Auch Fehler im Anzeigeverfahren im Hinblick auf die „Muss-Angaben“ des § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG führen zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und damit zur Nichtigkeit der Kündigung. Diese Rechtsfolge tritt ferner auch dann ein, wenn die Anzeige bei der falschen Agentur für Arbeit erfolgt. Der 6. Senat lässt in seinem Vorlagebeschluss erkennen, dass nach seiner Auffassung gute Argumente dafür sprechen, dass es sich bei der Vorgabe in Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 RL 98/59/EG nur um eine bloße Verfahrensvorschrift handelt. Nach dem BAG spricht gegen einen individualschützenden Charakter der Vorschrift, dass die geforderte Zuleitung der Mitteilung zu Beginn des Konsultationsverfahrens erfolgt und somit auf die Vermittlungstätigkeit der Arbeitsverwaltung keinen Einfluss haben kann. Zudem ist in der Richtlinie ein Tätigkeitwerden der zuständigen Behörde ohnehin erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich mit der Anzeige des Arbeitgebers gem. Art. 3 Abs. 1 RL 98/59/EG, vorgesehen. Hinzu kommt, dass bei dem vorliegenden Fall gerade deutlich geworden ist, dass auch trotz eines Verstoßes gegen die Verpflichtung aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG der zeitnahe Beginn der Vermittlungstätigkeit von mehr als 100 Arbeitnehmenden gewährleistet werden konnte. Das BAG nennt also einige gewichtige Argumente, die gegen die Annahme sprechen, dass Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 RL 98/59/EG einen Individualschutz für Arbeitnehmende gewährt.
Aus Arbeitgebersicht wäre es jedenfalls begrüßenswert, wenn sich der EuGH von den Argumenten des BAG überzeugen lässt. Bis zur Klärung der Vorlagefrage ist Arbeitgebern in jedem Fall zu empfehlen, gleichzeitig mit der Mitteilung an den Betriebsrat auch eine Abschrift an die Agentur für Arbeit zu übersenden.
Auch wenn mit jeder höchstrichterlichen Entscheidung die Unklarheiten im Kontext von Massenentlassungsverfahren weniger werden, wie beispielsweise mit der jüngsten Entscheidung des BAG zur „Soll“-Vorschrift im § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG, ist Arbeitgebern zu empfehlen, die Verfahrens- und Formvorschriften bei Massenentlassungsverfahren genau im Blick zu behalten. Denn auch „kleine“ Fehler können erhebliche Folgen für die Wirksamkeit der im Massenentlassungsverfahren ausgesprochenen Kündigungen haben.
Autorin
Kathy Just
Eine weitere Entscheidung des BAG zur Unwirksamkeit von Rückzahlungsklauseln von Fort- und Ausbildungskosten führt erneut zu Anpassungsbedarf bei Klauseln, die die Eigenkündigung nicht von der Rückzahlungspflicht der Arbeitnehmenden wegen einer unverschuldeten, dauerhaften Leistungsunfähigkeit ausnehmen.
BAG, Urteil vom 1.3.2022 – 9 AZR 260/21
Der Fall
Die Parteien streiten über die Rückzahlung von Fortbildungskosten. Die Klägerin, Arbeitgeberin und Betreiberin einer Rehaklinik, beschäftigte die Beklagte (Arbeitnehmerin) als Altenpflegerin und trug die Kosten einer Fortbildung der Beklagten zur „Fachtherapeutin Wunde ICW“ in Höhe von EUR 4.090,00 für Kursgebühren und bezahlte Freistellung.
Die Beklagte verpflichtete sich in dem zwischen den Parteien abgeschlossenen Fortbildungsvertrag, das Arbeitsverhältnis nach Ende der Fortbildung für mindestens sechs Monate fortzusetzen. Gegenstand des Fortbildungsvertrags war auch eine Regelung zur Rückzahlungsverpflichtung. Die Beklagte hatte danach die durch die Klägerin übernommenen Fortbildungskosten für den Fall, dass diese vor Ablauf der genannten Bindungsfrist aufgrund einer eigenen ordentlichen, nicht vom Arbeitgeber zu vertretenden Kündigung, aus den Diensten der Klägerin ausscheidet, zu einem Anteil von 1/6 für jeden vorzeitigen Monat der Beendigung, zurückzuzahlen.
Nachdem die Beklagte das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis noch vor dem Abschluss der Fortbildung kündigte, diese jedoch erfolgreich abschloss, forderte die Klägerin zur anteiligen Rückzahlung in Höhe von 4/6 der übernommenen Fortbildungskosten auf. Diese Forderung machte die Klägerin klageweise geltend. Die Beklagte beantragte die Klageabweisung in der Auffassung, die Rückzahlungsklausel des Fortbildungsvertrages sei gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam.
Die Beklagte hatte sowohl in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht als auch in zweiter Instanz vor dem Landesarbeitsgericht Erfolg. Mit der Revision verfolgte die Klägerin ihr Klageziel in dritter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht weiter.
Die Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht hat die zulässige Revision zurückgewiesen und die Auffassung des LAG bestätigt, dass die Rückzahlungsklausel, die als allgemeine Geschäftsbedingung an den Regelungen der §§ 305 ff. BGB zu messen ist, gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam ist. Dies deshalb, da die Klausel nur Eigenkündigungen des Arbeitnehmenden ausnimmt, welche nicht vom Arbeitgeber zu vertreten sind, nicht aber Eigenkündigungen des Arbeitnehmenden, die wegen einer unverschuldeten, dauerhaften Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmenden ausgesprochen werden.
Nach dem BAG sei es im Wege von einzelvertraglichen Vereinbarungen grundsätzlich zulässig, den Arbeitnehmenden an den Kosten einer vom Arbeitgeber finanzierten Ausbildung zu beteiligen, soweit er vor Ablauf bestimmter Fristen aus dem Arbeitsverhältnis ausscheide. Es sei jedoch nicht zulässig, die Rückzahlungspflicht schlechthin an das Ausscheiden aufgrund einer Eigenkündigung des Arbeitnehmenden innerhalb der vereinbarten Bindungsfrist zu knüpfen. Vielmehr müsse nach dem Grund des vorzeitigen Ausscheidens differenziert werden. Die Zahlungsverpflichtungen, die an die vom Arbeitnehmenden ausgehende Kündigung anknüpften, würden nämlich die in Art. 12 Abs. 1 GG grundgesetzlich geschützte freie Wahl des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmenden beeinträchtigen und müssten deshalb durch begründete und billigenswerte Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt sein oder durch gleichwertige Vorteile ausgeglichen werden. Insgesamt müsse die Erstattungspflicht – auch dem Umfang nach – dem Arbeitnehmenden nach Treu und Glauben zumutbar sein.
Nach dem BAG genügte die Klausel diesen Anforderungen nicht. Es begründete seine Auffassung damit, dass, wenn der Arbeitnehmende ohne sein Verschulden dauerhaft nicht mehr in der Lage ist, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, aufgrund von Unmöglichkeit kein Leistungsaustausch mehr stattfindet. Der Arbeitgeber kann daher unabhängig von der Kündigung des Arbeitnehmers dessen Qualifikation bis zum Ablauf der Bindungsdauer nicht nutzen und am Fortbestehen dieses nicht mehr erfüllbaren Arbeitsverhältnisses kein billigenswertes Interesse haben,
welches die Einschränkung des Grundrechts des Arbeitnehmenden auf freie Wahl des Arbeitsplatzes nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG rechtfertigt. Auch ein gleichwertiger Vorteil des Arbeitnehmenden sei nicht gegeben, da es dem Arbeitnehmenden aus gesundheitlichen Gründen ohne sein Verschulden dauerhaft nicht möglich ist, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen und die bei der Fortbildung erlangten Kenntnisse nutzbar zu machen.
Unser Kommentar
Die Entscheidung des BAG ergänzt die bereits umfängliche vergangene Kasuistik zu der (Un-)Wirksamkeit von Rückzahlungsklauseln zu Aus-, Fort- und Weiterbildungskosten und verschärft die praktischen Herausforderungen an deren wirksamen Formulierung. Neben der Vielzahl an Wirksamkeitsanforderungen zur Bestimmtheit und Angemessenheit, betrifft die Entscheidung den Auslöser der Rückzahlungsverpflichtung. Im Besonderen geht es um die Frage, welche Fälle der Eigenkündigung des Arbeitnehmenden eine Rückzahlungsverpflichtung des Arbeitnehmenden auslösen dürfen.
Grundsätzlich galt nach der Rechtsprechung des BAG der Sphärengedanke, wonach eine Rückzahlungspflicht nur an solche Ereignisse anknüpfen durfte, die in die Verantwortungs- und Risiko-Sphäre des Arbeitnehmenden und nicht des Arbeitgebers fallen. Bereits im Jahr 2018 hatte das BAG über die Wirksamkeit einer Rückzahlungsklausel zu entscheiden, bei der der Arbeitnehmende die Eigenkündigung wegen des unverschuldeten Verlustes seiner medizinischen Tauglichkeit zur Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung erklärte, was von der Rückzahlungsverpflichtung nicht ausgenommen war. Die Klausel war nach Auffassung des BAG – wenngleich eher der Risikosphäre des Arbeitnehmenden zuordnen – unwirksam (BAG, Urteil vom 11. Dezember 2018, - 9 AZR 383/18). Diese Rechtsprechung wird von der Entscheidung bekräftigt.
Rückzahlungsklauseln, die die personenbedingte Eigenkündigung des Arbeitnehmenden nicht von der Rückzahlungsverpflichtung ausnehmen, sind unwirksam und in Zukunft in Musterklauseln zu überarbeiten, jedenfalls diejenigen personenbedingten Eigenkündigungen, die auf nicht vom Arbeitnehmenden zu vertretenden Gründen beruhen. Wegen des abstrakten Prüfungsmaßstabs kommt es für die Unwirksamkeit der Klausel auch nicht darauf an, ob ein Arbeitnehmender tatsächlich aus unverschuldeten personenbedingten Gründen kündigt. Vielmehr ist eine solche Klausel bereits unwirksam, wenn der Arbeitgeber die Klausel stellt, indem er sie in den Vertrag einführt.
Autor
Daniel Greger
Zur Begründung einer Klage auf Überstundenvergütung muss der Arbeitnehmende weiterhin darlegen, dass er über die Normalarbeitszeit hinaus gearbeitet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers bereit gehalten hat und dass die geleisteten Überstunden vom Arbeitgeber ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt wurden.
BAG, Urteil vom 4.5.2022 – 5 AZR 359/21, Pressemitteilung
Der Fall
Die Beklagte betreibt ein Einzelhandelsunternehmen. Der Kläger war bei der Beklagten als Auslieferungsfahrer beschäftigt. Seine Arbeitszeit erfasste der Kläger mittels technischer Zeitaufzeichnung. Dabei wurden allerdings nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit erfasst. Die Pausenzeiten wurden nicht erfasst. Nach Auswertung der Aufzeichnungen seiner Arbeitszeit ergab sich am Ende des Arbeitsverhältnisses ein positiver Saldo von 348 Stunden zugunsten des Klägers. Der Kläger hat mit seiner Klage Überstundenvergütung in Höhe von EUR 5.222,67 brutto verlangt. Zur Begründung seiner Klage hat er ausgeführt, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Pausen habe er nicht nehmen können, da er sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätte abarbeiten können. Die Beklagte hat diesen Vortrag bestritten.
Das ArbG Emden (Teilurteil vom 9. November 2020 – 2 Ca 399/18) hatte der Klage stattgegeben. Es war der Ansicht, dass die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess durch das Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18) dahingehend modifiziert werde, dass eine positive Kenntnis von Überstunden als Voraussetzung für eine arbeitgeberseitige Veranlassung der Überstunden jedenfalls dann nicht erforderlich sei, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. In dem Urteil vom 14. Mai 2019 hatte der EuGH festgestellt, dass die Mitgliedsstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Der Kläger müsse daher für eine schlüssige Begründung seiner Klage nur die Zahl der geleisteten Überstunden vortragen. Die Beklagte hätte dann ihrerseits die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Kläger darlegen müssen. Das habe sie aber nicht getan.
Das LAG Niedersachsen (Urteil vom 6. Mai 2021 – 5 Sa 1292/20) hat die Klage hingegen überwiegend abgewiesen, mit Ausnahme der Überstunden, welche die Beklagte bereits abgerechnet hatte. Dem EuGH fehle gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV die Kompetenz, zu Fragen der Arbeitsvergütung Stellung zu nehmen. Die Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 befasse sich ausschließlich mit Fragen des Arbeitsschutzes. Es bleibe daher bei der bisher von der Rechtsprechung angenommenen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Der Kläger habe aber nicht ausreichend dargelegt, dass die Arbeit nur unter Ableistung von Überstunden zu bewältigen gewesen wäre. Zu einer Anordnung, Duldung oder Billigung der behaupteten Überstunden durch die Beklagte habe der Kläger ebenfalls nicht ausreichend vorgetragen.
Die Entscheidung
Die Revision des Klägers vor dem BAG hatte keinen Erfolg. Das BAG hat die Entscheidung des LAG Niedersachsen bestätigt. Die Entscheidungsgründe sind bisher nicht veröffentlicht. In der Pressemitteilung wird ausgeführt, dass das LAG Niedersachsen richtig erkannt habe, dass trotz der Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 weiterhin daran festzuhalten sei, dass der Arbeitnehmer in einer Klage zur Überstundenvergütung die arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung der Überstunden darlegen müsse. Der Überstundenprozess betreffe die Frage der Vergütung des klagenden Arbeitnehmers. Die Entscheidung des EuGH betreffe hingegen die Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die sich nach der Rechtsprechung des EuGH darauf beschränken, die arbeitsschutzrechtlichen Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln.
Unser Kommentar
Der Entscheidung des BAG ist zuzustimmen. Das BAG hält an seiner Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess fest und differenziert klar zwischen den arbeitszeitrechtlichen Aspekten und den Vergütungsfragen, die sich in Bezug auf Überstunden stellen.
Für den Überstundenprozesse bedeutet dies, dass – wie bisher – zunächst der Arbeitnehmer konkret darlegen muss, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten er über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat. Darüber hinaus muss der Arbeitnehmende konkret darlegen, dass der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet oder jedenfalls geduldet oder nachträglich gebilligt hat. Erst wenn der Vortrag des Arbeitnehmers dem gerecht wird, muss der Arbeitgeber dazu Stellung nehmen.
Das Urteil des BAG ändert allerdings nichts an der Entscheidung des EuGH zur Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung. Hier bleibt weiterhin abzuwarten, wann und wie der nationale Gesetzgeber diese Verpflichtung umsetzen wird.
Autorin
Dr. Isabel Schäfer
Dem Beschäftigungsanspruch eines Arbeitnehmenden steht das überwiegende Interesse der Arbeitgeberin entgegen, ihre vulnerablen Bewohner des von ihr betriebenen Seniorenheims vor einer Beschädigung von Leib und Leben schützen zu wollen. Die Arbeitgeberin ist dann nicht an der klägerischen Freistellung gehindert.
ArbG Gießen, Urteil vom 12.4.2022 - 5 Ca 1/22
Der Fall
Ein Wohnbereichsleiter eines Altenheims klagte im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auf Beschäftigung trotz Nichtvorlage eines Impf- oder Genesenennachweises. Der Kläger war seit Oktober 2020 in einem von der Beklagten betrieben Altenheim tätig. In dem Heim werden ältere und pflegebedürftige Menschen betreut und untergebracht. Der Kläger ist nicht gegen das Virus SARS-CoV-2 geimpft und hat der Beklagten bis zum relevanten Stichtag des
15. März 2022 weder einen Impf- noch einen Genesenennachweis vorgelegt. Eine medizinische Kontraindikation, die einer Impfung entgegensteht, liegt beim Kläger nicht vor.
Die Beklagte stellte den Kläger im März 2022 ab dem
16. März 2022 bis auf Weiteres widerruflich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei, längstens bis zum 31. Dezember 2022, weil er der Pflicht zur Nachweislegung nicht nachgekommen war. Zur Begründung nahm die Beklagte auf
§ 20a Abs. 1 IfSG Bezug, wonach Personen, die z. B. in Pflegeeinrichtungen oder ambulanten Pflegediensten tätig sind, ab dem 16. März 2022 grundsätzlich geimpft oder genesen sein und einen Nachweis über ihren Geimpft-/Genesenenstatus erbringen müssen.
Im Verfahren vertrat der Kläger die Auffassung, er habe einen Beschäftigungsanspruch. Denn für bereits vor dem Stichtag 16. März 2022 beschäftigte Personen – wie den Kläger – müsse die Beklagte lediglich dem Gesundheitsamt seinen Impfstatus mitteilen. Ein Beschäftigungsverbot bestünde nicht. Zur Freistellung des Klägers sei die Beklagte nicht befugt, da insbesondere die Freistellung von dem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht nicht gedeckt sei. Eine Berechtigung der Beklagten, so ultimativ in das klägerische Privatleben einzudringen, dass sie dem Kläger eine Impfung vorgeben könne, bestünde nicht.
Die Entscheidung
Mangels Verfügungsgrunds wurde der klägerische Antrag abgelehnt. Der allgemeine Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers bestehe gemäß §§ 611a, 613 i. V. m. 242 BGB nur, soweit das Interesse des Arbeitnehmers an seiner Beschäftigung das des Arbeitgebers an seiner Nichtbeschäftigung überwiegt. Der klägerischen Beschäftigung stehe aber das überwiegende schützenswerte Interesse der Beklagten entgegen, die Bewohnerinnen und Bewohner des von ihr betriebenen Altenheims vor einer Beschädigung von Leib und Leben zu schützen. Damit bestünde keine Verpflichtung für die Beklagte, den nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpften Kläger in ihrer Einrichtung tatsächlich zu beschäftigen. Darüber hinaus könne sie den Kläger von der Arbeitsverpflichtung freistellen. Die Berufung wurde nicht zugelassen.
Im Rahmen der Urteilsbegründung zog das ArbG Gießen auch die Gesetzesmaterialien zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht heran (BT-Drs. 20/188). Gesetzgeberischer Wille sei, dass in den genannten Einrichtungen grundsätzlich keine Personen beschäftigt werden sollen, die nicht geimpft oder genesen sind. Ein ausdrückliches Beschäftigungsverbot sei zwar nur in § 20a Abs. 3, S. 4 und 5 IfSG für solche Personen bestimmt, die ab dem 16. März 2022 neu in den genannten Einrichtungen tätig werden und über keinen Impf- oder Genesenennachweis verfügen bzw. vorlegen. Für Bestandsmitarbeitende (also die bereits vor dem Stichtag Beschäftigten) müssten die Arbeitgeber zunächst nur eine Meldung ans Gesundheitsamt tätigen. Am gesetzgeberischen Wille ändere die Gesetzessystematik jedoch nichts, denn es sollen grundsätzlich keine ungeimpften Personen in den Einrichtungen zum Einsatz kommen. Davon seien auch bereits vor dem Stichtag beschäftigte, ungeimpfte Personen – wie der Kläger – betroffen, woraus folge, dass bereits beschäftigte ungeimpfte Personen nicht zwingend tatsächlich zu beschäftigen seien.
An der Freistellung des Klägers sei die Beklagte nicht gehindert gewesen. Das von der Beklagten zu vermeidende Risiko einer Beschädigung von Leib und Leben der Bewohner ihres Altenheims wiege schwerer als die von dem Kläger hinzunehmenden Nachteile seiner Nichtbeschäftigung.
Unser Kommentar
Bei der vorliegenden von Luther erstrittenen Entscheidung handelt es sich um die bundesweit erste arbeitsgerichtliche und zugleich wegweisende Entscheidung.
Im Vorfeld sorgte die Veröffentlichung der Handreichung zur Impfprävention in Bezug auf einrichtungsbezogene Tätigkeiten des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) vom
23. März 2022 für sehr kontroverse Diskussionen. Innerhalb der Handreichung vertrat das BMG die Auffassung, dass die öffentlich-rechtliche Vorschrift des § 20a IfSG kein Recht des Arbeitgebers zur Freistellung begründe. Die unseres Erachtens primär politisch motivierte Interpretation des BMG war schon im März 2022 nicht haltbar. Denn insbesondere unter Gewaltenteilungsgesichtspunkten mag durchaus ein Fragezeichen vermerkt werden, inwieweit das BMG arbeitsrechtliche Wertungen vornehmen kann und sollte, insbesondere ohne ausreichend zwischen der arbeits- und ordnungsrechtlichen Ebene zu unterscheiden. Die ordnungsrechtlichen Kompetenzen eines Hoheitsträgers unterliegen starken grundrechtlichen Beschränkung. Beim Freistellungsinteresse des Arbeitgebers ist der Spielraum ungleich weiter, auch wenn grundrechtliche und v. a. Aspekte des Persönlichkeitsrechts in der Abwägung ebenfalls Berücksichtigung finden müssen.
Die Frage des Wegfalls der Vergütungspflicht während der Freistellungsphase war nicht Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens. Da die subjektive Leistungsfähigkeit ungeimpfter Personen fehlt, meinen wir aber, dass die Freistellung auch vergütungslos erfolgen kann und zwar getreu dem Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“. Jedenfalls bei impfunwilligen Personen steht einem Anspruch auf Annahmeverzugslohn § 297 BGB entgegen. Allenfalls bei Personen, die eine medizinische Kontraindikation gegen die Corona-Impfung vorweisen können, mag dies möglicherweise anders beurteilt werden. Da aber regelmäßig bei medizinischen Kontraindikationen (z. B. wegen Immunsuppression) auch eine Arbeitsunfähigkeit des Mitarbeiters vorliegen dürfte, sind die Fälle extrem selten.
Als begrüßenswert ist überdies die Tendenz der Arbeitsgerichte festzustellen, in corona-relevanten Sachverhalten den Gesundheitsschutz der Allgemeinheit höher zu bewerten als den Beschäftigungsanspruch des Einzelnen (vgl. z. B. ArbG Düsseldorf, Urteil vom 18. Februar 2022 - 11 Ca 5388/21; LAG Hamburg, Urteil vom 13. Oktober 2021 - 7 Sa 23/21; LAG Köln, Urteil vom 12. April 2021 - 2 SaGa 1/21). Das Bundesverfassungsgericht hat zudem am 19. Mai 2022 die einrichtungsbezogene Impfpflicht des § 20 a IfSG als zulässig bewertet. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos (Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21).
Es muss beliebigen Zuhörenden als Repräsentation der Öffentlichkeit Zugang zum Gerichtssaal gewährt werden und nicht nur den Verfahrensbeteiligten. Dies gilt auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Es liegt ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz vor und damit ein absoluter Revisionsgrund, wenn nicht einmal ein Platz für die Öffentlichkeit vorhanden ist.
BAG, Beschluss vom 2.3.2022 - 2 AZN 629/21
Der Fall
Das LAG Hamburg hat in einem Kündigungsschutzprozess (Az. 4 Sa 86/20) wegen des Corona-Infektionsgeschehens während der Kammersitzung im Gerichtssaal neben den drei Richtern lediglich sieben weitere Personen (allesamt Verfahrensbeteiligte) zugelassen. Für weitere Zuhörende war im Gerichtssaal kein Platz. Die mündliche Verhandlung erfolgte rügelos.
Die Entscheidung
Im Rahmen der Revision gegen das Urteil des LAG Hamburg wurde die Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens gerügt (absoluter Revisionsgrund des § 547 Nr. 5 ZPO). Das Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes bejahte das BAG wegen der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit. Es müssten beliebige Zuhörende – auch in nur sehr begrenzter Zahl – die Möglichkeit des Zutritts haben, ansonsten sei der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht gewahrt. Eine Reduzierung der Zuhörerzahl in einem Saal sei zwar zulässig, um Abstandsregelungen im Zuge einer Pandemiebekämpfung einhalten zu können. Das LAG Hamburg habe aber gerade keine beliebigen Zuhörenden, also nicht den jeweiligen Prozessparteien zuzuordnenden Personen, Zutritt zu der Verhandlung gewährt. Somit sei aber nicht einmal Platz für einen Zuhörenden als Repräsentant oder Repräsentantin der Öffentlichkeit vorhanden gewesen.
Unser Kommentar
Trotz der Pandemiebekämpfung ist der Grundsatz der Öffentlichkeit ein unbestrittenes, fundamentales Prinzip der deutschen Rechtsordnung und ist z. B. in § 52 Satz 1 ArbGG, § 169 Abs. 1 GVG verankert. Daher überrascht die Vorgehensweise des LAG Hamburg. Nach dem Öffentlichkeitsgrundsatz muss allen Zutritt zur Verhandlung ermöglicht werden. Dadurch soll u. a. eine „Geheimjustiz“ verhindert und ein faires Verfahren gewährleistet werden.
Der Grundsatz findet seine Grenzen in der tatsächlichen Unmöglichkeit, woraus sich folgende Fragen für die Praxis ergeben:
Wer ist die Öffentlichkeit?
Alle am Ort der mündlichen Verhandlung anwesenden Nichtverfahrensbeteiligten bilden die unmittelbare Öffentlichkeit.
Kann auf die Öffentlichkeit verzichtet werden?
Nein, es kann nicht auf die Öffentlichkeit verzichtet werden. Insbesondere können die Verfahrensbeteiligten nicht für die Öffentlichkeit verzichten (so z. B. BAG vom 22. September 2016 - 6 AZN 376/16).
Sind Beschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei öffentlichen Sitzungen möglich?
Es können Beschränkungen angeordnet werden, wenn zwingende Gründe wie eine Unmöglichkeit bestehen. Das kann z. B. eine tatsächliche Raumbeschränkung aufgrund der Größe oder Reduzierung der Zuhörerzahl zur Einhaltung von Abstandsregeln sein. Die Reduzierung darf aber nicht zum gänzlichen Ausschluss der Öffentlichkeit führen. Ende November 2020 hat der BGH bereits entschieden, dass Lockdown-Ausgangsbeschränkungen kein triftiger Grund für den Ausschluss der Öffentlichkeit seien (BGH vom 6. Januar 2021 - 5 StR 363/20).
Weiter kann z. B. Kindern und solchen Personen der Zutritt versagt werden, die in einer der Würde des Gerichts nicht entsprechenden Weise erscheinen. Auch aus Gründen der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit, des Persönlichkeitsschutzes oder aus Zweckmäßigkeitsgründen kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden (§ 52 Satz 2 f. ArbGG).
Unterschied zwischen Bitte oder Aufforderung durchs Gericht?
Ob ein Bitten zum Verlassen des Saals einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz darstellt, wird unterschiedlich bewertet. So sei die Schwelle erst bei einem deutlichen Druck seitens des Gerichts überschritten. Wir meinen, dass zwischen einer bloßen Bitte und einer anweisenden Aufforderung regelmäßig kein Unterschied besteht, denn die Öffentlichkeit wird den Saal aus Respekt vor dem Gericht (und ggf. mangels besserer Kenntnis und aus psychologischer Hemmung) verlassen, und zwar unabhängig davon, ob als Bitte oder Aufforderung formuliert.
Wie viele Steh-/Sitzmöglichkeiten müssen für die Öffentlichkeit vorgehalten werden?
Es müssen nicht so viele Plätze bereitgehalten werden, wie Interessenten kommen. Zwischen Steh- und Sitzplätzen wird nicht differenziert. Klar ist aber, dass die Öffentlichkeit faktisch ausgeschlossen wird, wenn nur Platz für einen einzigen Zuhörenden ist.
Welche Rechtsbehelfe stehen zur Verfügung?
In allen Gerichtsbarkeiten stellt ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz in der Regel einen absoluten Revisionsgrund dar, wenngleich abgeschwächt bei Bundessozialgericht, Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzhof.
Der Revisionsgrund ist binnen einer einmonatigen Notfrist geltend zu machen. Voraussetzung ist, dass ein dem Gericht zurechenbarer Verstoß vorliegt, sodass bei noch laufenden Revisionsfristen jetzt auch noch durchaus die Revision auf eine Verletzung der Öffentlichkeit gestützt werden kann – nach unserer Auffassung auch bei der bloßen Bitte, den Saal nicht zu betreten. Ein rügeloses Einlassen und Antragstellung in der Verhandlung – wie im Verfahren vor dem LAG Hamburg – führt nicht zum Verzicht auf den Revisionsgrund.
Kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei der Reglementierung der Raucherpausen
LAG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29.3.2022 – 5 TaBV 12/21
Die Anordnung einer Arbeitgeberin, dass Rauchen nur in den festgelegten Pausen gestattet ist, unterliegt regelmäßig nicht dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus
§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Die Anordnung soll die Einhaltung der Arbeitszeit sicherstellen und betrifft somit nicht das Ordnungsverhalten, sondern das Arbeitsverhalten.
Entscheidungsgründe
Die Beteiligten streiten über die Mitbestimmungspflichtigkeit einer arbeitgeberseitigen Anweisung, nach der das Rauchen nur in den Pausen gestattet ist.
Die Arbeitgeberin, ein Logistikunternehmen an einem Seehafen vereinbarte mit dem Betriebsrat eine Betriebsordnung im Jahre 2011, in der unter anderem geregelt wurde, dass für das gesamte Betriebsgelände ein Raucherverbot bestünde. Das Rauchen sei ausdrücklich nur auf den dafür ausgewiesenen Plätzen gestattet, den Raucherinseln.
Die neuere Anordnung aus 2020 legte nun fest, dass nur in den Pausen auf den Raucherinseln geraucht werden dürfe. Nach Ansicht des Betriebsrates beträfe die Anordnung die Verhaltensordnung im Betrieb und sei deshalb mitbestimmungspflichtig. Der Betriebsrat hatte mit seiner Beschwerde keinen Erfolg.
Zwar könne „soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in Fragen der Ordnung des Betriebs oder des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb“ der Betriebsrat nach § 87 Abs.1 Nr.1 BetrVG mitbestimmen. Hingegen seien Regelungen und Weisungen, die die Arbeitspflicht, bzw. das Arbeitsverhalten unmittelbar konkretisieren, nicht mitbestimmungspflichtig. Laut dem LAG Mecklenburg-Vorpommern sei bei einer Maßnahme, welche sich sowohl auf das Ordnungs- als auch auf das Arbeitsverhalten auswirke, entscheidend, welcher objektive Regelungszweck überwiege. Dieser bestimme sich nach dem Inhalt der Maßnahme sowie nach der Art des zu beeinflussenden betrieblichen Geschehens. Bei der Anordnung, ausschließlich in den Pausen zu rauchen, sei ausschließlich das Arbeitsverhalten betroffen. Die Weisung diene der Einhaltung der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer und habe nicht den Zweck das Miteinander unter den Kollegen zu koordinieren. Die Arbeitgeberin habe zudem nicht die Arbeitsunterbrechungen durch die Raucherpausen zu dulden.
Absender trifft die volle Darlegungs- und Beweislast für den Zugang einer E-Mail
LAG Köln, Urteil vom 11.1.2022 - 4 Sa 315/21
Den Absender einer E-Mail trifft gemäß § 130 BGB die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die E-Mail dem Empfänger zugegangen ist. Ihm kommt nicht dadurch eine Beweiserleichterung zugute, dass er nach dem Versenden keine Meldung über die Unzustellbarkeit der E-Mail erhält.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten darüber, welche Partei zu beweisen hat, dass eine E-Mail rechtzeitig beim Empfänger eingegangen ist.
Die Beklagte hatte eine E-Mail am letzten Tag einer fünf Jahres Frist verschickt, deren Eingang beim Kläger zwar unstreitig war, ihr Zugangszeitpunkt hingegen strittig.
Der rechtzeitige Zugang der E-Mail war Voraussetzung für die Rückzahlung eines Darlehens, welches dem Kläger zur Finanzierung einer Fortbildung gewährt wurde. Im Darlehnsvertrag war geregelt, dass die Beklagte auf die Rückzahlung verzichtet, wenn sie dem Kläger aus betrieblichen Gründen nicht innerhalb von fünf Jahren nach Beendigung der Fortbildung die Übernahme in ein Arbeitsverhältnis anbietet. In der streitigen E-Mail war ein entsprechendes Beschäftigungsangebot enthalten. Der Kläger gab an, dass die E-Mail erst drei Tage nach dem von der Beklagten behaupteten Versand angekommen sei. Die Absenderin berief sich auf die Beweiserleichterung durch den Beweis des ersten Anscheins (Anscheinsbeweis). In ihrem Postausgangskonto war die E-Mail nämlich als „verschickt“ gekennzeichnet und sie brachte vor, dass sie auch keine Meldung der Unzustellbarkeit erhalten habe.
Das LAG Köln wies die eingelegte Berufung der Beklagten zurück. Der Zugang der E-Mail sei vom Versender zu beweisen und darzulegen. Die Absendung der E-Mail begründe keinen Anscheinsbeweis für den Zugang beim Empfänger. Es bestünde immer noch das Risiko, dass die E-Mail nach dem Versenden nicht auf dem Empfängerserver eingeht. Dieses Risiko bestünde genauso wie bei der Briefversendung mit der einfachen Post. Mit diesem Risiko könne nicht der Empfänger belastet werden, denn er sei nicht derjenige der die Art der Übermittlung auswähle. Für den E-Mailschriftverkehr bestünde für den Versender zusätzlich die Möglichkeit, eine Lesebestätigung anzufordern. Bis diese nicht vorläge, müsse der Versender davon ausgehen, dass die E-Mail noch nicht zugegangen sei.
Kündigung im öffentlichen Dienst wegen Kritik an der Corona-Politik wirksam - Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht
LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 2.2.2022 -
10 Sa 66/21
Von Beschäftigten im öffentlichen Dienst kann eine besondere Treuepflicht zum Grundgesetz, zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und zu den Grundfesten des jeweiligen Landes erwartet werden. Eine öffentliche Äußerung einer Beschäftigten, in der sie Staatsorgane verächtlich macht, rechtfertigt die Kündigung.
Entscheidungsgründe
Die von der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die als Polizeiärztin angestellt war, erhobene Kündigungsschutzklage wurde auch in der zweiten Instanz abgewiesen.
Die Angestellte hatte im Herbst 2020 in ihrem Namen eine Kleinanzeige in einer kostenlosen Sonntagszeitschrift mit dem Titel „Infektionsschutzgesetz=Ermächtigungsgesetz“ veröffentlicht. In dem Artikel selbst verglich sie das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten von 1933 mit dem Infektionsschutzgesetz und setzte die Gesetze weitestgehend gleich. Sie äußerte sich über eine „Zwangsimpfung, das Wegnehmen von Kindern, geschlossene Grenzen und ein Arbeitsverbot“ und verwies auf eine Demonstration vor dem Bundestag gegen das Infektionsschutzgesetz.
Die vom Land Baden-Württemberg ausgesprochene ordentliche Kündigung wurde insbesondere mit der mangelnden Eignung der Klägerin für die Tätigkeit als Polizeiärztin begründet. Darüber hinaus habe sie durch ihr Verhalten arbeitsvertragliche Pflichten verletzt. Die Treuepflichten ihrer Position umfassten auch, den Staat, die Verfassung und staatliche Organe nicht verächtlich zu machen, also nicht herabzuwürdigen.
Das LAG Baden-Württemberg bestätigte nun, dass nicht erst die ordentliche Kündigung, sondern bereits eine fristlose Kündigung in einem solchen Fall gerechtfertigt sei. Die Polizeiärztin habe als Angestellte im öffentlichen Dienst eine gesteigerte politische Treuepflicht. Mit der Verwendung des Begriffs „Ermächtigungsgesetz“ habe sie sich bewusst auf das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten bezogen und dadurch Staatsorgane herabgewürdigt und verächtlich gemacht. Sie habe dem Bundestag eine demokratiefeindliche Gesinnung unterstellt und mit dem Hinweis auf die Demonstration zu Widerstand gegen die Polizei aufgerufen. Gegen die Pflicht, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen, habe sie verstoßen.
Unzulässige Datenverarbeitung im Konzern – Entschädigung
LAG Hamm, Urteil vom 14.12.2021 – 17 Sa 1185/20
Eine Datenverarbeitung ist nach der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) nur erforderlich, wenn kein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung steht, um den Interessen des Verantwortlichen zu entsprechen. Im Rahmen der Abwägung ist neben der berechtigten Erwartungshaltung der betroffenen Person maßgeblich zu berücksichtigen, ob der Verantwortliche seinen Informationspflichten nach der DSGVO gegenüber der betroffenen Person nachgekommen ist und dieser die Möglichkeit gegeben hat, ihre nach der DSGVO bestehenden Rechte wahrzunehmen.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche wegen einer unzulässigen Übermittlung personenbezogener Daten. Die Daten, die von dem Arbeitgeber, einem Klinikbetreiber, an eine konzernzugehörige Gesellschaft übermittelt wurden, enthielten Namen, Vornamen, Arbeitsverträge, Einstellungsdaten, Gehälter sowie Ansprüche auf Prämien der klagenden Arbeitnehmerin. Sie waren weder anonymisiert noch pseudonymisiert.
Die DSGVO schreibt vor, dass der Grundsatz der Rechtmäßigkeit bei der Verarbeitung von Daten gewahrt werden muss, Art. 5 Abs.1 Buchstabe a DSGVO. Dafür muss einer der Erlaubnistatbestände für die Datenverarbeitung des Art. 6 Abs.1 Buchstabe a bis f DSGVO vorliegen.
Nach Ansicht des Gerichts sei die Datenweitergabe innerhalb des Konzernverbundes jedoch durch keinen der genannten Erlaubnistatbestände gedeckt gewesen. Die Klägerin habe weder in die Datenverarbeitung eingewilligt, noch sei die Datenverarbeitung zur Durchführung des Arbeitsverhältnisses erforderlich. Die Empfängerin, die konzernzugehörige Gesellschaft nahm Aufgaben der Organisation, des Managements und des Personalcontrollings im Klinikverbund war und war nicht mit der Personalverwaltung befasst. Dadurch war die Datenverarbeitung nicht für das Beschäftigungsverhältnis erforderlich.
Innerhalb der Abwägung der berechtigten Interessen könne ein berechtigtes Interesse bei konzerninternen Datenübermittlung für Verwaltungszwecke zwar vorliegen. Im vorliegenden Fall hätte aber bereits ein milderes, gleich effektives Mittel bestanden: Die Datenübermittlung in anonymisierter Form. Darüber hinaus wurden weitere Datenschutzziele vom Arbeitgeber, dem Klinikbetreiber, verletzt. Die Klägerin sei nicht vorab über die Datenvermittlung unterrichtet worden und ihr wurde keine Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Der beklagte Arbeitgeber wurde zur Unterlassung von weiteren gegen die DSGVO verstoßenden Datenverarbeitungen verurteilt. Zudem wurde er zur Schadensersatzzahlung in Höhe von 2.000 Euro verurteilt. Die Entscheidung liegt, nach zugelassener Revision, mittlerweile dem BAG vor (Aktenzeichen des BAG: 2 AZR 81/22).
Entsendung eines Ersatzmitglieds des Betriebsrats zu einer Grundschulung
LAG Hessen, Beschluss vom 17.1.2022 – 16 TaBV 99/21
Die Entsendung eines Ersatzmitgliedes des Betriebsrates zu einer Grundschulung ist nach der Rechtsprechung des BAG nur ausnahmsweise möglich (19.09.2001 – 7 ABR 32/00). Eine Ausnahme liegt dann vor, wenn das einzige mit dem Betriebsverfassungsrecht vertraute Mitglied eines Dreiergremiums monatelang ausgefallen ist und mit weiteren Ausfällen für die Zukunft gerechnet werden kann.
Entscheidungsgründe
Der dreiköpfige Betriebsrat stritt sich vor Gericht mit dem Arbeitgeber über die Kostenübernahme für die Teilnahme eines Ersatzmitgliedes an einer Grundschulung. Nach Ansicht des Arbeitgebers sei die Schulung nicht notwendig gewesen.
Auf der streitigen Schulung wurde beschlossen, dass der Vorsitz auf ein anderes Betriebsratsmitglied übergehen sollte, da der Betriebsratsvorsitzende über einen längeren Zeitraum erkrankt war und einen längeren Urlaub nach seiner Arbeitsunfähigkeitszeit geplant hatte. Zudem wurde aufgrund der Krankheitsvorgeschichte eine längere Zeit der Genesung prognostiziert. Das LAG Hessen verpflichtete den Arbeitgeber zur Kostenerstattung. Es sei, so das LAG, auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung des Betriebsrates abzustellen. Dabei habe der Betriebsrat eine auf Tatsachen gegründete Prognose anzustellen. Zum einen könne dafür die Vergangenheit eine gewisse Indizwirkung entfalten. Zum anderen könnten weitere Umstände, wie die Größe des Betriebsrats, die Existenz von Betriebsferien oder der andauernde Ausfall einzelner Betriebsratsmitglieder auf die Prognose Einfluss nehmen. Damals musste das Ersatzmitglied davon ausgehen, dass es öfter als Vertretung tätig werden würde, da der Vorsitzende bis dato durchgängig arbeitsunfähig erkrankt war. Zudem wurden aufgrund der Corona-Pandemie die Termine seiner Therapie und der anschließenden mehrwöchigen Reha mehrmals verschoben, wodurch eine Planung der Betriebsratstätigkeit nur erschwert möglich war. Das LAG vertrat die Auffassung, dass eine eingeschränkte Amtsfähigkeit des Vorsitzenden darin zu sehen sei, dass er sein Amt abgegeben habe und künftig nur noch stellvertretender Betriebsratsvorsitzender sein wollte. Es müsse daher mit einem längerfristigen Ausfall des vorherigen Vorsitzenden gerechnet werden und dadurch mit einer häufigen Heranziehung des Ersatzmitglieds. Zudem hatten die beiden regulären Betriebsratsmitglieder sowie der Nachrücker keinerlei Erfahrungen in der Betriebsratsarbeit. Eine Wissensvermittlung der Betriebsratsmitglieder käme durch deren Unerfahrenheit entsprechend nicht in Betracht. Daher sei eine Schulungsteilnahme des Ersatzmitgliedes nötig gewesen und die Kosten zu erstatten.
Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist im Falle von Mutterschutz oder Elternzeit
LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15.3.2022 - 5 Sa 122/21
Die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist gewahrt, wenn der Arbeitgeber im Falle von Mutterschutz oder Elternzeit die behördliche Zulässigkeitserklärung innerhalb der Zwei-Wochen-Frist beantragt hat, gegen die Versagung der Zulässigkeitserklärung rechtzeitig Widerspruch bzw. Klage erhoben hat und sodann die außerordentliche Kündigung unverzüglich nach Kenntnisnahme vom Wegfall des Zustimmungserfordernisses (Ende des Mutterschutzes oder der Elternzeit) ausspricht.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, insbesondere über die Einhaltung der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist. Die Klägerin war bei der Beklagten zur Vermietung, Vermittlung und Betreuung von Ferienwohnungen beschäftigt und war mit Zahlungsaufträgen betraut, wodurch sie regelmäßig Gelder von Kunden in Empfang zu nehmen hatte. Im Mai des Jahres 2019 legte die Klägerin zwei Barzahlungen in Höhe von 20 und 56 Euro nicht in die Kasse und trug die Zahlung nicht ins Kassenbuch ein bzw. stornierte die Buchung im Nachhinein wieder aus dem Buchungssystem. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin schwanger, sodass der Ausspruch der außerordentlichen Kündigung des Arbeitgebers von einer Zulässigkeitserklärung nach § 17 Abs. 2 MuSchG beim Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern (LaGuS) abhing. Das LaGuS versagte seine Zustimmung zur Kündigung und wies den Widerspruch der Beklagten zurück, woraufhin die Arbeitgeberin Klage beim Verwaltungsgericht erhob. Einen Tag nach dem Ende der Elternzeit kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos, hilfsweise zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Die außerordentliche Kündigung mit dem Ende der Elternzeit sei wirksam und verstoße nicht gegen § 626 BGB, laut dem Arbeitsgericht und dem LAG. Ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung liege vor. Ein Diebstahl verletze erheblich die Rücksichtnahmepflicht der Arbeitnehmerin und schädige das Vertrauensverhältnis maßgeblich. Die Klägerin biete zudem nicht mehr die nötige Zuverlässigkeit für den Umgang mit Kundengeldern. Bezüglich der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB sei festzustellen, dass diese gewahrt sei. Die Beklagte habe nicht zu einem früheren Zeitpunkt kündigen können, da das LaGuS die Kündigung für unzulässig erklärt habe und weder im Widerspruchs- noch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren eine gegenteilige Entscheidung ergangen sei. Vielmehr wurde die Kündigung zum frühestmöglichen Zeitpunkt ausgesprochen, nämlich unmittelbar am Tag nach dem Ende der Elternzeit. Zu diesem Zeitpunkt sei das Erfordernis einer behördlichen Zulässigkeitserklärung entfallen. Der behördlichen Zulässigkeitserklärung stehe der Wegfall des Zustimmungserfordernisses gleich. Der Ausgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens sei nicht abzuwarten.
Oberstes französisches Zivilgericht bestätigt Gültigkeit der Entlassungstabelle
Am 11. Mai 2022 hat das oberste französische Zivilgericht („Cour de cassation“) die Gültigkeit der 2017 eingeführten französischen Skala bestätigt.
Eine solche Skala gemäß Art. L. 1235-3 des französischen Arbeitsgesetzes legt Mindest- und Höchstentschädigungen bei ungerechtfertigter Entlassung in Abhängigkeit von der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers und der Zahl der Beschäftigten des Unternehmens fest (mindestens 0,5 und höchstens 20 Monatsgehälter). Sie kann nur dann entfallen, wenn die Entlassung aufgrund der Verletzung eines grundlegenden Rechts als nichtig angesehen wird.
Die Skala wurde von Gewerkschaften und Richtern mit dem Argument kritisiert, dass sie den Gerichten ihre Entscheidungsfreiheit und die Möglichkeit nimmt, entlassenen Arbeitnehmern eine angemessene Entschädigung zuzusprechen, was gegen (i) Art. 10 des Übereinkommens 158 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und (ii) Art. 24 der Europäischen Sozialcharta (ESC) [1] verstossen würde.
Das oberste französische Verwaltungsgericht (Conseil d‘Etat)[2]und der Oberste Gerichtshof Frankreichs (Conseil Constitutionnel)[3] haben bereits entschieden, dass die Skala mit der französischen Verfassung und den von Frankreich ratifizierten internationalen Verträgen übereinstimmt, ebenso wie das oberste französische Zivilgericht in einer nicht bindenden Stellungnahme.[4] Einige Gerichte widersetzten sich und versuchten, zusätzliche Ausnahmen im Einzelfall zu schaffen.[5]
Das oberste französische Zivilgericht entschied endgültig, dass die Skala gültig ist, nicht gegen Art. 10 der ILO verstößt, nicht verworfen werden darf, wenn sie anwendbar ist, und dass Art. 24 der Europäischen Sozialcharta in privaten Rechtsstreitigkeiten nicht unmittelbar anwendbar ist.[6]
Autor
Antoine Jouhet
FIDAL, Lyon
[1] Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte ist in einer nicht bindenden Entscheidung der Ansicht, dass die italienische Skala gegen die Europäische Charta verstößt (Art. 24 b.). Er hat kürzlich in einer Entscheidung vom 17. Juni 2022 dasselbe für Frankreich festgestellt
[2] Entscheidung CE n°415243 vom 7. Dezember 2017
[3] Beschluss CC n°2018-761 vom 21. März 2018
[4] Stellungnahme Cass. n°15012 und n°15013 vom 17. Juli 2019
[5] Ein solcher Ansatz hätte die Büchse der Pandora geöffnet, um die Skala bei jeder Gelegenheit zu umgehen.
[6] Cass. soc. n°21-14.490 und n°21-15.247 vom 11. Mai 2022
Achim Braner
Partner
Frankfurt a.M.
achim.braner@luther-lawfirm.com
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Dr. Eva Maria K. Rütz, LL.M.
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Düsseldorf, Köln
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Sandra Sfinis
Partnerin
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Nadine Ceruti
Counsel
Frankfurt a.M.
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Martina Ziffels
Counsel
Hamburg
martina.ziffels@luther-lawfirm.com
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Cyrielle Therese Ax
Senior Associate
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Kevin Brinkmann LL.M.
Senior Associate
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Daniel Greger
Senior Associate
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Dr. Isabel Schäfer
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Kathy Just
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Katharina Gorontzi, LL.M.
Sebastian Walthierer