30.06.2023

Newsletter Arbeitsrecht 2. Ausgabe 2023

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Vorwort

Liebe Leser,

endlich Sommer! Die schönste Zeit des Jahres liegt vor uns. Wir genießen die Zeit am Meer oder in den Bergen. Was liegt da näher, als die richtige Reiselektüre für den Urlaub zusammenzustellen. Mit unserem Newsletter Arbeitsrecht treffen Sie eine gute Wahl, um die aktuellen arbeitsrechtlichen Themen zu verfolgen und sich auf dem Laufenden zu halten.

Das Thema Arbeitszeiterfassung ist spätestens seit der Entscheidung des BAG aus September 2022 in aller Munde. Der EuGH hatte bereits im Jahr 2019 die Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung auf den Weg gegeben. Der Druck auf den Gesetzgeber wuchs zunehmend und alle Augen waren auf Berlin gerichtet. Nun liegt der Referentenentwurf zur Novelle des Arbeitszeitgesetzes vor. Der weite Wurf blieb aus. Ob es der Entwurf in dieser Form in das Gesetzgebungsverfahren schafft, bleibt abzuwarten. Dietmar Heise und Janina Ott beleuchten den Referentenentwurf in unserer aktuellen Ausgabe kritisch und geben erste Ausblicke.

Ein Gesetz, das hingegen schon konkret vor der Tür steht, ist das neue Hinweisgeberschutzgesetz. Auch hier befand sich der nationale Gesetzgeber in Verzug, da die Europäische Richtlinie, auf der das Gesetz basiert, längst hätte umgesetzt werden müssen. Nach einem langwierigen Gesetzgebungsprozess ist es aber nun so weit: Das HinSchG tritt am 2. Juli 2023 in Kraft. Es fordert die volle Aufmerksamkeit von Arbeitgebern, da es nicht nur um den Schutz von Hinweisgebern („Whistleblowern“) vor Repressalien geht, sondern vielmehr auch die Implementierung von Meldesystemen verlangt, um Hinweise überhaupt zu ermöglichen. Dr. Astrid Schnabel, Sandra Sfinis und Martina Ziffels geben einen ersten Überblick zu den arbeitsrechtlichen Schwerpunkten des Gesetzes, Silvia C. Bauer und Dr. Stefanie Hellmich widmen sich dem Thema aus datenschutzrechtlicher Perspektive.

Im Bereich der betrieblichen Altersversorgung befassen wir uns in dieser Ausgabe mit der Frage der Angemessenheit der Vergütung von Organpersonen, Geschäftsleitern und anderen exponierten Funktionsträgern von Unternehmen. Insbesondere bei der Gestaltung von Versorgungszusagen kann es zu Fehlern kommen, die zu empfindlichen Konsequenzen für das Unternehmen und die beteiligten Entscheidungsträger führen können. Jan Hansen zeigt daher in seinem Beitrag die wesentlichen Kriterien auf, die von Unternehmen bei der Gestaltung entsprechender Versorgungszusagen zu beachten sind.

Auch in dieser Ausgabe präsentieren wir wieder unseren internationalen Newsflash aus unserem Netzwerk unyer, in dem seit März 2023 auch die österreichische Kanzlei KWR Mitglied ist. Grund für uns, einen Blick nach Österreich zu werfen. Dr. Anna Mertinz von KWR in Wien berichtet in dieser Ausgabe über eine aktuelle Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu krankheitsbedingten Kündigungen. Caroline Ferté von der Kanzlei FIDAL, unserem französischen unyer-Mitglied, beleuchtet das in der Praxis viel diskutierte Modell der Vier-Tage-Woche aus französischer Perspektive.

Selbstverständlich befassen wir uns daneben auch in diesem Newsletter mit den Entwicklungen in der Rechtsprechung. Wir haben hierbei wieder eine Auswahl getroffen, von der wir hoffen, dass sie für Sie von besonderem Interesse ist. Wie immer freuen wir uns auf Ihr Feedback zu unseren Themen. Sprechen Sie uns gern direkt an, wenn Sie Anregungen oder Fragen haben.

Wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer und viel Spaß bei der Lektüre! 

Ihr

Achim Braner

Referentenentwurf zur vollständigen Arbeitszeiterfassung: Minimalismus und verpasste Chancen

Am 27. März 2023 veröffentlichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) den Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes und anderer Vorschriften (im Folgenden: „RefE-ArbZG“). Das Gesetz übernimmt die Vorgaben, die das BAG vergangenes Jahr in Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) gefunden hatte (Beschluss vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21) und mit dem die Erfurter Richter bereits einem vorhergehenden Urteil des EuGH folgten (Urteil vom 14.5.2019 – C-55/18). Das Gesetzgebungsvorhaben wird absehbar kein großer Wurf, sondern eine minimalistische Regelung des zwingend Notwendigen. Das BMAS dürfte also die Chance verstreichen lassen, das mittlerweile 29 Jahre alte ArbZG an die Entwicklungen der Praxis und der Technik anzupassen.

I. Der RefE-ArbZG

1. Inhalt des RefE-ArbZG

Der RefE-ArbZG regelt die Pflicht des Arbeitgebers, Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit zu erfassen. Neben einer Regelung zur Arbeitszeiterfassung bei Vertrauensarbeitszeit, einem Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers sowie Aufbewahrungspflichten des Arbeitgebers enthält der RefE-ArbZG auch eine Tariföffnungsklausel, die weitere Ausnahmen von der Arbeitszeiterfassung durch die Tarifparteien zulässt. Schließlich werden Übergangsvorschriften normiert und Unternehmen mit bis zu zehn Arbeitnehmern von der Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung ausgenommen. Verstöße gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung sind nach § 22 Abs. 1 Nr. 9 und 10 RefE-ArbZG bußgeldbewehrt.

Das BMAS will die Arbeitszeiterfassung erkennbar für alle Arbeitsverhältnisse festlegen. Daher fügt es nahezu gleiche Bestimmungen auch in das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) ein. Geändert werden sollen zudem auch exotische Rechtsgebiete wie die Offshore-Arbeitszeitverordnung und die Binnenschifffahrts-Arbeitszeitverordnung. Die allgemeine Regelung soll § 16 Abs. 2 ArbZG ersetzen. Dieser sah bisher die Zeiterfassung der über acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeit vor. Die Regelung für Jugendliche soll zu einem neuen § 49a JArbSchG werden. Das BAG hatte in seiner Entscheidung vom 13. September 2022 die umfassende Pflicht zur Zeiterfassung allerdings in § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gefunden. Im Referentenentwurf wird die Fundstelle zwar zitiert, über das Verhältnis der beiden Bestimmungen zueinander besagt der Entwurf allerdings nichts. Es liegt keineswegs auf der Hand, dass § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG nunmehr um die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung reduziert wird.

a) Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung

Nach § 16 Abs. 2 Satz 1 RefE-ArbZG ist der Arbeitgeber verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Die Arbeitszeit ist jeweils am Tag der Arbeitsleistung in elektronischer Form aufzuzeichnen. Sie soll durch den Arbeitnehmer oder einen Dritten (z. B. bei externen Einsätzen etwa im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung) aufgezeichnet werden können (§ 16 Abs. 3 RefE-ArbZG). Die Delegation ändert allerdings nichts an der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für die Zeiterfassung.

b) Vertrauensarbeitszeit

Vertrauensarbeitszeit wird genau genommen gleich in zwei Normen geregelt: Der Arbeitgeber kann nach § 16 Abs. 4 RefE-ArbZG auf die Kontrolle der vom Arbeitnehmer aufgezeichneten Arbeitszeit verzichten. Der Arbeitgeber muss jedoch weiterhin sicherstellen, dass er über Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten Kenntnis informiert wird – also doch kein vollständiger Verzicht auf Kontrolle. Die Verfasser des Entwurfs stellen sich vor, dass eine solche Warnung mühelos als Teil der elektronischen Zeiterfassung zu programmieren ist. Die Softwarehersteller werden helfen können. Preis und Aufwand sind offen.

Mancher Arbeitgeber wird ein solches System nicht mehr als Vertrauensarbeitszeit verstehen. Dem Referentenentwurf ist allerdings zuzugestehen, dass auch schon bisher weder das Gesetz noch das BAG einen Verzicht auf die Aufzeichnung der (bisher: acht Stunden täglich überschreitenden) Arbeitszeit gestatteten. In einem zweiten Schritt ist allerdings für manche Arbeitnehmer doch echte Vertrauensarbeitszeit nach wie vor möglich: In Umsetzung einer Tariföffnungsklausel.

c) Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers und Aufbewahrungspflichten des Arbeitgebers

Auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber gemäß § 16 Abs. 5 RefE-ArbZG über die aufgezeichnete Arbeitszeit zu informieren. Er hat dem Arbeitnehmer auf Verlangen eine Kopie der Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Dies bringt im Lichte des Art. 15 DSGVO und dessen Interpretation durch den EuGH keine Neuerung. Jeder Arbeitgeber soll verpflichtet werden, die Aufzeichnungen für die Dauer der gesamten Werk- oder Dienstleistung in deutscher Sprache bereitzuhalten. Die Höchstgrenze für die Aufbewahrungspflicht soll zwei Jahre betragen (§ 16 Abs. 6 RefE-ArbZG).

d) Tariföffnungsklausel

§ 16 Abs. 7 RefE-ArbZG enthält eine Öffnungsklausel. Danach kann in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zugelassen werden, dass

  • die Arbeitszeit in nicht-elektronischer Form aufgezeichnet wird,
  • die Arbeitszeit an einem anderen Tag als der erbrachten Arbeitsleistung aufgezeichnet wird. Spätestens muss die Arbeitszeit jedoch bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertages erfasst werden.
  • die Arbeitszeit von bestimmten Arbeitnehmern nicht erfasst werden muss. Darunter fallen solche Arbeitnehmer, bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann. Für diesen im Gesetzesentwurf selbst nicht weiter konkretisierten Personenkreis wird also echte Vertrauensarbeitszeit möglich bleiben. In der Begründung werden unter anderem Führungskräfte genannt. Für leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG soll das ArbZG aber weiterhin insgesamt nicht gelten. Die Tariföffnungsklausel kann also nur Führungskräfte unterhalb der leitenden Angestellten meinen.

e) Übergangsvorschriften

§ 16 Abs. 8 RefE-ArbZG regelt die Übergangsvorschriften. Arbeitgeber mit mindestens 250 Arbeitnehmern dürfen bis zum Ablauf von einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes die Arbeitszeit in nicht-elektronischer Form erfassen. Arbeitgeber mit weniger als 250 Arbeitnehmern dürfen dies bis zum Ablauf von zwei Jahren, Arbeitnehmer mit weniger als 50 Arbeitnehmern bis zum Ablauf von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes. Wie oben erwähnt bleibt die Erfassung auf elektronischem Wege für Arbeitgeber mit bis zu zehn Arbeitnehmern dauerhaft freiwillig. Es kommt auf die Unternehmensgröße an, nicht die Betriebsgröße. Dabei zählen Köpfe, also Teilzeitkräfte genauso voll wie Vollzeitmitarbeiter.

II. Bewertung

Der RefE-ArbZG regelt richtigerweise die vom BAG aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG hergeleitete Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im ArbZG. Verglichen mit der bisherigen Rechtslage nach dem Beschluss des BAG vom 13. September 2022 enthält der RefE-ArbZG relevante Neuerungen nur hinsichtlich Form und Zeitpunkt der Arbeitszeiterfassung. Das hilft der Praxis nicht viel. Das Arbeitsleben und die Technik haben sich seit Schaffung der ersten europäischen Richtlinie vor 30 Jahren, deren Erneuerung vor 20 Jahren und dem Inkrafttreten des auf den europäischen Regelungen fußenden ArbZG vor 29 Jahren stark verändert: Der kurze E-Mail-Check am Abend oder die insbesondere seit Corona verstärkte Nutzung von Homeoffice und mobiler Arbeit seien nur als Beispiele genannt. All dies war aus technischen Gründen vor rund 30 Jahren nicht möglich. Antworten hierauf sind in weiten Teilen auch im Lichte der EU-Arbeitszeit-Richtlinie (vom 4.11.2003, RL 2003/88/EG) möglich, wenn das BMAS denn nur wollte. Das größte europarechtliche Hindernis ist eine tägliche Mindestruhepause von elf Stunden. Sie würde aber beispielsweise bei einem regelmäßigen Arbeitsbeginn um 9:00 Uhr nicht ausschließen, dass der Arbeitnehmer auch nach einem zehnstündigen Arbeitstag um 21:30 Uhr legal in wenigen Minuten eine E-Mail schreibt. Das verbietet nur das ArbZG.

a) Was ist Arbeitszeit?

Das ArbZG enthält in § 2 einige Definitionen. Arbeitszeit ist in § 2 Abs. 1 ArbZG definiert als „Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen“. Die EU-Arbeitszeit-Richtlinie definiert Arbeitszeit anders: Danach ist das „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Der vage Begriff und auch die Differenzen zum Verständnis der EU haben einige Fragen hervorgebracht, bspw.:

  • Wie ist Reisetätigkeit im Rahmen von Dienstreisen zu behandeln? Gibt es Unterschiede zwischen aktiver (z. B. Autofahrt) und passiver Reisetätigkeit (z. B. Bahnreisen). Mittlerweile gibt es Gerichte in Deutschland, die das negieren.
  • Wie ist Rufbereitschaft zu bewerten? Vor dem Hintergrund der europäischen Definition steht die deutsche Position (keine Arbeitszeit, solange der Arbeitnehmer nicht in Anspruch genommen wird) durch Entscheidungen des EuGH in Frage.

b) Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit

Der Arbeitgeber wird künftig Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen haben. Damit soll sich das Gesetz eng an eine vom BAG gefundene Klausel anlehnen. Das BAG soll allerdings Einzelfälle entscheiden; seine Aufgabe ist nicht das Festlegen abstrakter Regeln. Das BMAS hat augenscheinlich kaum reflektiert. Der Entwurf dürfte zu neuen Fragen in der praktischen Umsetzung führen, würde er Gesetz: Was ist etwa zu dokumentieren, wenn der Arbeitnehmer um 8:00 Uhr seine Arbeit beginnt, von 11:00 Uhr bis 22:00 Uhr eine Zugreise antritt, während der er nicht arbeitet, sondern auch schläft, und von 22:00 Uhr bis 23:00 Uhr seine am nächsten Tag um 8:00 Uhr beginnende Arbeit vorbereitet – was selbst bei innerdeutschen Reisen derzeit nicht völlig realitätsfern ist? Nach derzeit noch herrschendem Verständnis wäre dieser Fall arbeitszeitrechtlich korrekt. Aufzuschreiben wäre aber möglicherweise ein Beginn der täglichen Arbeit um 8:00 Uhr, das Ende um 23:00 Uhr, eine Dauer von vier Stunden sowie ein Beginn am Folgetag um 8:00 Uhr. Die Einhaltung der täglichen Mindestruhezeit von elf Stunden wäre so nicht nachgewiesen. Und wie verhält es sich mit der viertelstündigen E-Mail-Runde um 21:00 Uhr, wenn der Arbeitnehmer von 9:00 Uhr bis 18:00 Uhr gearbeitet hat bei halbstündiger Pause? Arbeitszeitrechtlich wäre das ebenfalls zulässig. Muss der Arbeitsbeginn um 9:00 Uhr, das Ende der täglichen Arbeitszeit um 21:15 Uhr sowie eine tägliche Arbeitszeit von 8,75 Stunden erfasst werden? Nach dem Gesetzesentwurf müsste der Arbeitnehmer, der bei Feierabend seine E-Mail-Aktivitäten noch nicht absehen kann, noch am selben Abend Korrekturbuchungen für das Ende und die Dauer der Arbeitszeit vornehmen. Das ist wahrscheinlich technisch nicht ausgeschlossen, belastet aber Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit viel zusätzlicher Bürokratie. Gerade im Falle eines Remote-Zugriffs auf die elektronische Zeiterfassung kann die Zeiterfassung selbst leicht länger dauern als die eigentliche E-Mail-Bearbeitung. Ist die Zeiterfassung selbst dann eigentlich auch Arbeitszeit?

c) Zeitpunkt und Form der Arbeitszeiterfassung

Der neue RefE-ArbZG setzt mit dem Gebot der Erfassung noch am selben Tag deutlich strengere – und auch im Lichte des Europarechts nicht erforderliche – Maßstäbe als bisher. Die tägliche Erfassung zu verlangen ist zudem weder nach der Rechtsprechung des EuGH noch nach derjenigen des BAG erforderlich. Soll der Arbeitszeitschutz indes minutiös genau umgesetzt werden, wird im Regelfall nur die tägliche Erfassung der Arbeitszeit zu richtigen Ergebnissen führen. Nach Tagen wird die Erinnerung nur vage sein.

Außerdem verlangt der RefE-ArbZG eine elektronische Erfassung der Arbeitszeit für alle Unternehmen mit mehr als zehn Arbeitnehmern. Welche Anforderungen an die elektronische Erfassung zu stellen sind, lässt der Entwurf offen. Genügt also schon ein elektronischer Notizblock? Genügt ein Excel-Chart? Möglich erscheint, dass durch die Neuregelung nur handschriftliche Aufzeichnungen unzulässig sind. Die Rechtsprechung des EuGH würde aber auch strengere Deutungen tragen: Laut EuGH soll ein nicht ohne Weiteres manipulierbares System eingerichtet werden. Das spricht dafür, dass eine (elektronische) Excel-Tabelle der verlangten elektronischen Zeiterfassung nicht gerecht werden wird. Manipulationen wären am weitesten ausgeschlossen, wenn ein System den Beginn, das Ende, Unterbrechungen und die Dauer der Arbeitszeit an Ereignissen anknüpfend vollautomatisch erfasst. Allerdings ist nicht ersichtlich, weshalb etwa die Zeiten einer Dienstreise oder falsche Zeiterfassungen nicht korrigiert werden dürfen, sondern Arbeitszeiten objektiv falsch dokumentiert bleiben müssen. Auch wird kaum erklärbar sein, weshalb die Tarifparteien Dispens von einer automatischen Erfassung gewähren und die händische Aufzeichnung in Papierform gestatten dürfen. Viel spricht also dafür, dass auch einfache elektronische Zeiterfassung etwa auf Excel-Charts möglich ist, wenn die weiteren Anforderungen – wie etwa die Warnung des Arbeitgebers bei Überschreitungen – sichergestellt werden kann. So sieht es auch das BMAS ausweislich der Begründung zu dem Gesetzesentwurf.

d) Tariföffnungsklausel

Neu im Vergleich zur bisherigen Rechtslage ist auch die unter § 17 Abs. 7 RefE-ArbZG geregelte Öffnungsklausel. Das eröffnet zwar den Tarifparteien gewisse Verhandlungsspielräume. Erfahrungsgemäß schaffen die Gewerkschaften Spielräume für die Arbeitgeber aber nicht zum Nulltarif. Im Übrigen dürfte sowohl die Befreiung von der Aufzeichnungspflicht in elektronischer Form als auch der Verzicht auf die tägliche Aufzeichnung überwiegend keine Branchenfrage sein, sondern von der Unternehmensgröße abhängen. Die Übertragung der Befreiungen auf die Tarifparteien erscheint daher keine zwingend infolge größerer Sachnähe erforderliche Lösung zu sein. Was Vertrauensarbeitszeit betrifft, so haben nach wie vor einzelne Gewerkschaften ideologische Vorbehalte (sog. „Selbstausbeutung“). Ihnen einen Dispens zu übertragen erscheint sinnfrei und verantwortungslos.

Wenn aber das BMAS selbst die Verantwortung nicht tragen und die Optionen selbst regeln will, so geht die Tariföffnung viel zu kurz: Was ist mit nicht tarifgebundenen Arbeitgebern, was ist mit Arbeitgebern, in deren Branche nicht oder nicht üblicherweise (Flächen)Tarifverträge geschlossen werden? Das bisherige ArbZG gestattet insbesondere in § 7 Abs. 3 bis 6 und in § 12 die Abweichung von materiellen Regelungen durch die Betriebsparteien und mangels Betriebsrat durch die Arbeitsvertragsparteien, in Bereichen ohne Tarifvertrag durch aufsichtsbehördliche Genehmigung. Es ist kein Grund außer unsorgfältiger Arbeit des BMAS ersichtlich, weshalb Ausnahmen von der gesetzlich vorgeschriebenen Form der Arbeitszeiterfassung ausschließlich tarifgebundenen Arbeitgebern eröffnet werden sollen.

Schließlich bleibt die Tariföffnungsklausel hinsichtlich Herausnahme von Personengruppen aus der Aufzeichnungspflicht vage: Die Tarifparteien können Arbeitnehmer von der Aufzeichnungspflicht ausnehmen, „bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festlegt werden kann“ (§ 16 Abs. 7 Nr. 3 RefE-ArbZG). Interessant hinsichtlich der ersten beiden Varianten: Nach dem Wortlaut soll es nicht darauf ankommen, dass die Arbeitszeit nicht gemessen werden kann, sondern lediglich, dass sie nicht gemessen wird. Kann sich der Arbeitgeber also einen Dispens von der Aufzeichnungspflicht über die Tarifparteien beschaffen, dass er die Arbeitszeit bestimmter Personengruppen kraft seiner Entscheidung nicht aufzeichnet?

e) Was gilt für leitende Angestellte?

Das ArbZG soll nach wie vor nicht für leitende Angestellte i. S. d. § 5 Abs. 3 BetrVG gelten. Also wird für diese Arbeitnehmergruppe auch die neue Aufzeichnungspflicht nicht gelten. Das wirft allerdings die Frage nach der vom BAG gefundenen Aufzeichnungspflicht aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG auf.

Der Referentenentwurf verzichtet auf eine Aussage zu dem Verhältnis der beiden Regeln zueinander. Insbesondere verzichtet er auf eine positive Regelung, dass § 3 ArbSchG fortan nicht mehr für Arbeitszeitschutz gelten soll. Konsequent gedacht dürfte § 16 ArbZG künftig als die Sonderregelung für diejenigen Arbeitnehmer zu betrachten sein, die unter den Geltungsbereich des ArbZG fallen. Für alle Arbeitnehmer, die § 18 ArbZG aus dem Anwendungsbereich herausnimmt, die aber unter den Anwendungsbereich des ArbSchG fallen, dürfte § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG als generellere Regelung weiterhin ebenfalls die volle Erfassung der Arbeitszeit verlangen. Das gilt insbesondere auch für leitende Angestellte. Der Vorteil für die Arbeitgeber wäre immerhin, dass für leitende Angestellte eine elektronische Aufzeichnung nicht Pflicht würde und dass Verstöße „nur“ gegen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG nicht bußgeldbewehrt sind.

f) Keine Ausnahme für Marginalfälle

Der Referentenentwurf sieht keine Ausnahmen der Aufzeichnungspflicht für Marginalfälle vor. Arbeitszeiten, die nach Feierabend für eine schnelle Lektüre einer E-Mail, ein kurzes Telefonat oder einen dienstlichen Chat anfallen, müssen also auch dokumentiert werden. Insofern verhilft der Gesetzesentwurf nicht im Ansatz zu Erleichterungen für die seit vielen Jahren kritisch geführte Diskussion, ob solche Tätigkeiten unter die geschützte Arbeitszeit fallen.

g) Bereitschaftszeiten?

Die arbeitszeitliche Bewertung von Bereitschaftszeiten ist und war ohnehin im Wandel. Der EuGH betrachtet unter bestimmten Voraussetzungen selbst Rufbereitschaft als Arbeitszeit. Der Gesetzesentwurf hält keine Lösungen für die Erfassung solcher Zeiten bereit. Soweit Bereitschaftszeiten eine geringere Belastung als „normale“ Arbeit zugemessen wird und da auch das geltende ArbZG Ausnahmeregelungen für Bereitschaftszeiten vorsieht, können diese Formen von Arbeit nicht ohne Differenzierung von „normaler“ Arbeit erfasst werden. Sonst wäre die Nachweis- und Kontrollfunktion der Zeiterfassung kaum den Aufwand wert, den der Referentenentwurf von den Arbeitgebern abfordern will.

h) Bezahlung der erfassten Arbeitszeit?

Hinsichtlich der Bezahlung der Arbeitszeit dürfte sich unmittelbar am wenigsten ändern. Arbeitszeitrechtlicher Arbeitsschutz und die Vergütungspflicht von Arbeit bleiben zwei Paar Schuhe. Das gilt auch für Überstunden. Im Sinne des Arbeitsschutzes wird es auch nach wie vor darauf ankommen, wie lange der Arbeitnehmer arbeitet. Ob die Arbeitsleistung vom Arbeitgeber angeordnet oder zumindest geduldet wurde, dürfte eine schuldrechtliche Frage bleiben.

III. Ausblick

Bekannt ist bislang lediglich ein Referentenentwurf. Das ist der Gesetzesentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium. Im Gesetzgebungsverfahren folgen noch ein mit dem Bundeskanzler und den Ministerien abgestimmter Kabinettsentwurf, bis das parlamentarische Verfahren der eigentlichen Gesetzgebung beginnen kann. Vor der Anfang Juli beginnenden und Anfang September endenden parlamentarischen Sommerpause ruht jedes Gesetzgebungsverfahren. Damit dürfte mit einer Verabschiedung des Gesetzes frühestens im vierten Quartal dieses Jahres zu rechnen sein. Nach derzeitigem Stand könnten die Änderungen zum 1. Januar oder 1. April 2024 in Kraft treten. Allerdings erscheint es fraglich, ob sich die Regierungsparteien auf diesen Gesetzesentwurf einigen werden. Der Koalitionsvertrag birgt Sprengstoff: Die drei Regierungsparteien haben sich verpflichtet die Gewerkschaften und Arbeitgeber zu unterstützen, flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen und dafür auch „Experimentierräume“ zu schaffen. Den Koalitionsvertrag erfüllt der Bundesarbeitsminister mit dem Entwurf nicht.

IV. Handlungsbedarf für Unternehmen

Durch die unter § 16 Abs. 8 RefE-ArbZG geregelten Übergangsvorschriften wird für Unternehmen eine kurze Schonfrist hinsichtlich der Zeiterfassung in elektronischer Form geschaffen. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes dürften zudem noch Wochen oder Monate vergehen. Trotzdem scheint absehbar, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kommen wird. Daher sind Arbeitgeber gut beraten, allmählich eine den zu erwartenden Regelungen entsprechende Zeiterfassung im Unternehmen auf den Weg zu bringen, soweit nicht ohnehin schon die Arbeitszeit in hinreichendem Maße elektronisch erfasst wird.

Das Hinweisgeberschutzgesetz steht vor der Tür

Nach einem langwierigen Gesetzgebungsprozess wird es nun Ernst: Das Hinweisgeberschutzgesetz („HinSchG“) tritt am 2.7.2023 in Kraft. Anders, als der Gesetzesname es vermuten lässt, geht es nicht nur um den Schutz von Hinweisgebern („Whistleblowern“) vor Repressalien, vielmehr verlangt das Gesetz auch die Implementierung von Meldesystemen, um Hinweise überhaupt zu ermöglichen.

I. Anwendungsbereich und Gegenstand

In persönlicher Hinsicht schützt das HinSchG hinweisgebende Personen, die im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit oder im Vorfeld einer beruflichen Tätigkeit Informationen über Verstöße erlangt haben und diese an die vorgesehenen Meldestellen melden oder offenlegen. Geschützt werden sollen auch Personen, die Gegenstand einer Meldung oder Offenlegung sind sowie sonstige Personen, die von einer Meldung oder Offenlegung betroffen sind. Adressat der Verpflichtungen sind sog. Beschäftigungsgeber, die mindestens eine Person beschäftigen. Allerdings gilt die Verpflichtung zur Einrichtung einer internen Meldestelle nur für Beschäftigungsgeber mit in der Regel mindestens 50 Beschäftigten. Außerdem gibt es für private Beschäftigungsgeber mit 50 bis 249 Beschäftigten hinsichtlich der Verpflichtung zur Einrichtung der internen Meldestelle eine Übergangsfrist bis zum 17. Dezember 2023, soweit sie nicht bestimmten Kategorien angehören (z. B. dem Finanzdienstleistungssektor). Bezugspunkt des HinSchG sind Meldungen und Offenlegungen von Informationen über Verstöße, die das Gesetz katalogartig auflistet. Wichtig ist, dass Informationen über Verstöße nur in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen, wenn sie sich auf den Beschäftigungsgeber oder eine andere Stelle, mit der die hinweisgebende Person beruflich im Kontakt stand, beziehen.

II. Einrichtung interner Meldestellen

Beschäftigungsgeber sind verpflichtet, interne Meldestellen einzurichten. Diese Meldestellen betreiben Meldekanäle, über die sich bspw. Beschäftigte und dem Beschäftigungsgeber überlassene Leiharbeitnehmer an die internen Meldestellen wenden können. Die interne Meldestelle kann direkt bei dem Beschäftigungsgeber eingerichtet werden oder er kann einen Dritten damit beauftragen. Dies ermöglicht den Einsatz Externer (etwa Anwälte als Ombudspersonen) oder ggfs. die Einrichtung einer zentralen Meldestelle im Konzern. Die Meldestelle muss unabhängig sein und es dürfen sich keine Interessenkonflikte ergeben. Insofern ist noch umstritten, ob und unter welchen Voraussetzungen tatsächlich eine zentrale interne Meldestelle im Konzern eingerichtet werden kann. Der Beschäftigungsgeber bleibt auch bei Einsatz eines Externen in jedem Fall dafür verantwortlich, den Verstoß abzustellen.

III. Verfahren der internen Meldung

Meldungen müssen mündlich oder in Textform möglich sein, zudem sieht das Gesetz vor, dass auf Wunsch der hinweisgebenden Person ein persönliches Treffen mit der zuständigen Person der internen Meldestelle erfolgt. Nachdem der Gesetzesentwurf zwischenzeitlich eine Verpflichtung zur Bearbeitung anonymer Meldungen vorsah, wurde von dieser Verpflichtung nach dem Kompromiss des Vermittlungsausschusses Abstand genommen. Nunmehr „sollte“ die interne Meldestelle auch anonym eingehende Meldungen bearbeiten. Es besteht allerdings keine Verpflichtung, die Meldekanäle so zu gestalten, dass sie die Abgabe anonymer Meldungen ermöglichen. Das HinSchG enthält zudem einen klaren Verfahrensablauf, wie mit eingehenden Meldungen umzugehen ist. Die interne Meldestelle

  • bestätigt der hinweisgebenden Person den Eingang einer Meldung spätestens nach sieben Tagen,
  • prüft, ob der gemeldete Verstoß in den sachlichen Anwendungsbereich des HinSchG fällt,
  • hält mit der hinweisgebenden Person Kontakt,
  • prüft die Stichhaltigkeit der eingegangenen Meldung,
  • ersucht die hinweisgebende Person erforderlichenfalls um weitere Informationen und
  • ergreift angemessene Folgemaßnahmen.

Außerdem ist die interne Meldestelle verpflichtet, hinweisgebenden Personen Rückmeldungen zu der Meldung oder etwaigen Folgemaßnahmen zu geben, soweit dem nicht Gründe (z. B. die Gefährdung weiterer Ermittlungen) entgegenstehen. Folgemaßnahmen nennt das Gesetz nur exemplarisch, in Betracht kommen etwa eine interne Untersuchung oder der Abschluss des Verfahrens.

IV. Externe Meldestellen

Weiterhin sieht das Gesetz vor, dass der Bund beim Bundesamt für Justiz eine Stelle für externe Meldungen einrichtet. Dazu kommen Meldestellen in speziellen Bereichen wie dem Bundeskartellamt. Das Gesetz enthält – ebenso wie bei der internen Meldestelle – bspw. Verfahrensvorgaben sowie Regelungen zu Folgemaßnahmen. Wichtig für Beschäftigungsgeber ist, dass es keinen gesetzlichen Vorrang gibt, nach dem Mitarbeitende Verstöße zunächst bei der internen Meldestelle melden müsste. Die Steigerung der Attraktivität einer internen Meldung überlässt das Gesetz den Beschäftigungsgebern.

V. Schutz der Hinweisgebenden

Entsprechend seinem Namen enthält das HinSchG Vorgaben, die dem Schutz hinweisgebender Personen dienen, die intern oder extern Meldung erstattet bzw. eine Offenlegung vorgenommen haben sowie zu diesem Zeitpunkt hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die von ihr gemeldeten oder offengelegten Informationen der Wahrheit entsprechen. Weiterhin wird vorausgesetzt, dass die Informationen Verstöße betreffen, die in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fallen, oder die hinweisgebende Person zum Zeitpunkt der Meldung oder Offenlegung hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass dies der Fall sei. Nicht gefordert wird also, dass die gemeldeten Tatsachen oder Rückschlüsse zutreffen. Ausreichend ist, dass aus der sog. ex ante-Sicht bei einer objektiven Betrachtung tatsächliche Anknüpfungspunkte für einen Verstoß vorlagen. Auch für die Annahme, dass ein Verstoß i. S. d. HinSchG vorliegt, sollen keine hohen Anforderungen gelten. Jedenfalls reicht das Verständnis eines juristischen Laien. Erleidet eine hinweisgebende Person eine Benachteiligung, z. B. in Form einer Kündigung oder Abmahnung, und macht sie geltend, diese Benachteiligung infolge einer Meldung oder Offenlegung nach diesem Gesetz erlitten zu haben, so wird vermutet, dass diese Benachteiligung eine Repressalie für diese Meldung oder Offenlegung ist. Sodann muss der Beschäftigungsgeber darlegen, dass die Maßnahme nicht wegen der Meldung oder Offenlegung erfolgte. Im Rahmen der Beweiswürdigung kann das Gericht etwa den zeitlichen Zusammenhang zwischen Meldung angeblicher Sanktion berücksichtigen.

VI. Schadensersatz und Bußgelder

Verstöße gegen das HinSchG können sowohl Schadensersatzansprüche als auch Bußgelder nach sich ziehen. Während im Gesetzesentwurf noch der Ersatz immaterieller Schäden vorgesehen war, wurde dies nach dem Kompromiss des Vermittlungsausschusses gestrichen. Insbesondere enthält das HinSchG Bußgeldvorschriften. Während die Offenlegung einer wissentlich unrichtigen Information ordnungswidrig ist, sind auch die Behinderung von Meldungen oder das Nichteinrichten einer internen Meldestelle bußgeldbewehrt. Die Geldbußen können bis zu EUR 50.000 für einen Verstoß betragen. Für das Bußgeld bei Nichtbetreiben bzw. Nichteinrichtung einer internen Meldestelle gilt allerdings eine Schonfrist von sechs Monaten.

VII. Mitbestimmungsrechte

Mitbestimmungsrechte im Zusammenhang mit der Umsetzung des HinSchG können sich aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (Ordnung des Betriebs und Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb) sowie § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG (Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, Leistung und Verhalten zu überwachen) ergeben. Werden bestimmte Vorgaben zum Meldeverfahren aufgestellt, handelt es sich nicht lediglich um mitbestimmungsfreies Arbeitsverhalten, sondern auch um Vorgaben, die gerade das Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb steuern. Beim Betrieb technischer Meldekanäle, z. B. über E-Portale, liegt eine technische Einrichtung vor, die dazu bestimmt ist, die Leistung und das Verhalten der Arbeitnehmer zu überwachen; nach der Rechtsprechung des BAG ist ausreichend, dass eine Einrichtung zur Überwachung geeignet ist. Vor Implementierung des Meldekanals ist demnach eine entsprechende Regelung mit dem Betriebsrat (ggf. auch Gesamt- oder sogar Konzernbetriebsrat) zu treffen. Verortung und personelle Zusammensetzung der internen Meldestelle sind dagegen nicht mitbestimmungspflichtig. Allerdings können beim Einsatz von Arbeitnehmern Beteiligungsrechte des Betriebsrats berührt sein, soweit eine Versetzung oder Einstellung erfolgt.

VIII. Datenschutzrechtliche Herausforderungen

Die Anzeige von Missständen setzt stets voraus, dass die hinweisgebende Person den Namen (etc.) des möglichen Täters nennt und dessen Daten erfasst werden. Der Schutz der Daten aller von einer Meldung Betroffenen wird zunächst durch die Wahrung der Vertraulichkeit sichergestellt: Die interne Meldestelle bzw. die dort tätigen Personen sind zur Vertraulichkeit über die Identität der hinweisgebenden Person, der von der Meldung betroffenen Personen oder auch sonstiger genannter Personen verpflichtet. Ausnahmen gelten nur, wenn eine Einwilligung des jeweils Betroffenen in die Weitergabe seiner Daten vorliegt oder bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (wenn die Weitergabe z. B. für die Strafverfolgung oder für das Ergreifen von Folgemaßnahmen erforderlich sind). Im Übrigen regelt das HinSchG nur, dass die Meldestelle intern Daten verarbeiten darf.

Ergänzend gilt die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Beschäftigungsgeber müssen daher die datenschutzrechtlichen Prinzipien des Art. 5 DSGVO umsetzen. Sie müssen sicherstellen, dass die Verarbeitung (inklusive der Weitergabe der Daten) rechtmäßig erfolgt, die erforderlichen Berechtigungs- und Löschkonzepte umgesetzt werden, die Transparenzpflichten der DSGVO und nicht zuletzt die umfassenden Rechte der Betroffenen auf Auskunft, Löschung usw. gemäß Art. 12 ff. DSGVO umgesetzt werden. Dies kann zu Interessenkonflikten führen. Neben der grundsätzlichen Datenschutzinformation nach Art. 13 DSGVO, die jedem Beschäftigten und auch weiteren Betroffenen bei Erhebung von Daten zur Verfügung zu stellen ist, muss geprüft werden, wann und wie bspw. die beschuldigte Person u. a. über die Herkunft der Daten und damit auch über die hinweisgebende Person informiert wird. Die DSGVO sieht hier grundsätzlich eine Informationspflicht innerhalb eines Monats nach Erhebung der Daten vor; nur unter bestimmten Umständen kann die Information unterbleiben. Es sind interne Prozesse zu schaffen, die den Umgang mit diesen Herausforderungen regeln.

Kritisch ist auch der Umgang mit Auskunftsbegehren nach Art. 15 DSGVO: Während die deutsche Rechtsprechung hier zwar umfassende Auskunftsansprüche der vom Hinweis betroffenen Person bejaht, kann unter Hinweis auf die Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes (§§ 29, 33 BDSG) bzw. auf das Vertraulichkeitsgebot des HinSchG unter bestimmten Umständen von einer Information abgesehen werden, wenn der Beschäftigungsgeber im Rahmen einer Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten zu dem Ergebnis kommt, dass im Einzelfall die Auskunft verweigert werden kann. Hier sind auch Aspekte wie offene oder anonyme Meldung, Umfang der übermittelten Informationen, Richtigkeit der Angaben etc. mit einzubeziehen. Problematisch ist hier, dass Abwägungen den Einzelfall abbilden, stets subjektiv sind und es nie ausgeschlossenen werden kann, dass die Rechtsprechung oder eine Behörde eine Auffassung vertritt, die von der des Beschäftigungsgebers abweicht. Es empfiehlt sich daher eine umfassende Dokumentation der Abwägung. Dies gilt entsprechend für die Löschung: Löschkonzepte sind nicht nur hinsichtlich der Dokumentation des Meldeverfahrens, sondern auch für den Umgang mit Fehlmeldungen zu implementieren. Während die Datenschutzaufsichtsbehörden hier in der Vergangenheit von einer Speicherdauer von zwei Monaten nach Eingang der (Fehl-)Meldung ausgegangen sind, wird sich dies aufgrund der Vorgaben des HinSchG nicht mehr vertreten lassen: Das Gesetz sieht vor, dass Dokumentationen zum internen Meldeverfahren nach Abschluss des Verfahrens grundsätzlich drei Jahre aufzubewahren sind und ggfs. sogar eine Verlängerung der Speicherdauer möglich ist. Ob dies dem Grundsatz der Datenminimierung und Speicherbegrenzung der DSGVO standhält, ist zumindest fraglich.

IX. Fazit

Die mit dem HinSchG verbundenen Prozesse sind komplex und es ist nicht damit getan, auf der eigenen Website Kontaktdaten der neuen internen Meldestelle zu veröffentlichen – vielmehr muss diese auch in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben im Einklang mit den geltenden Regelungen umzusetzen. Unternehmen müssen die Prozesse dokumentieren, implementieren und transparent kommunizieren. Neben der Abstimmung mit einem eventuell bestehenden Betriebsrat und dem Abschluss notwendiger Betriebsvereinbarungen sollte in jedem Fall auch eine Richtlinie implementiert werden, welche die Anweisungen im Umgang mit Meldungen bzw. die Anforderungen des HinSchG umsetzt und über die Rechte, Pflichten und Risiken informiert, die sich für die einzelnen Beteiligten ergeben können. Daneben müssen Themen wie die korrekte Umsetzung der Vertraulichkeit, die Dokumentation, die Zugriffsberechtigungen, der Schutz der Systeme bzw. der Daten durch entsprechende technisch-organisatorische Maßnahmen, der Umgang mit Einwilligungen in die Weitergabe von Informationen, die Information der Betroffenen, der Umgang mit Auskunftsbegehren, die Datenschutzfolgenabschätzung oder auch die Umsetzung der Löschkonzepte geregelt werden. Sofern ein Dritter mit dem Betrieb der internen Meldestelle beauftragt oder eine globale Hotline eingerichtet wird, müssen zuletzt auch hier geeignete Vereinbarungen getroffen werden, welche die rechtlichen Anforderungen umsetzen.

Angemessenheit der Vergütung von Führungskräften

Die Angemessenheit der Vergütung von Organpersonen, Geschäftsleitern und anderen exponierten Funktionsträgern von Unternehmen ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Das Thema betrifft nicht nur große öffentlich-rechtlich organisierte Körperschaften oder Dax-Unternehmen, auch kleinere Aktiengesellschaften und vor allem gemeinnützige Körperschaften müssen bei der Festlegung der Vergütung ihres Führungspersonals einige Vorgaben beachten. Insbesondere bei der Gestaltung von Versorgungszusagen kann es hierbei zu Fehlern kommen, die zu empfindlichen Konsequenzen für das Unternehmen und die beteiligten Entscheidungsträger führen können.

I. Hintergrund

Gesetzliche Regelungen zur Angemessenheit der Vergütung von Entscheidungsträgern finden sich etwa im Aktiengesetz (AktG) oder der Abgabenordnung (AO). So bestimmt § 87 I 1 AktG, dass die Gesamtbezüge der Vorstandsmitglieder „in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen [dürfen]“. Ähnliches gilt nach § 113 I 3 AktG für die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder. Für den Bereich der gemeinnützigen Körperschaften gilt § 55 Abs. 1 Nr. 3 AO: Danach darf eine gemeinnützige Körperschaft „keine Person durch Ausgaben, die dem Zweck der Körperschaft fremd sind, oder durch unverhältnismäßig hohe Vergütungen begünstigen“. Zur Frage, wann eine Vergütung konkret angemessen bzw. unverhältnismäßig ist, verhält sich das Gesetz nicht. Festzuhalten ist damit zunächst, dass es für die Angemessenheit von Geschäftsführerbezügen keine festen Regeln gibt. Die obere Grenze für die Angemessenheit der Vergütung ist im Einzelfall durch Schätzung zu ermitteln, wobei sowohl inner- als auch außerbetriebliche Umstände berücksichtigt werden können. Zu beachten ist hierbei, dass sich der Bereich der Angemessenheit über eine gewisse Bandbreite erstreckt und nur diejenigen Bezüge als unangemessen angesehen werden können, die diese Bandbreite nach oben deutlich überschreiten (vgl. dazu BFH, Urteil vom 24.8.2011 – I R 5/10; Urteil vom 15.12.2004 – I R 79/04).

II. Angemessenheitsprüfung

Im März 2020 hat der Bundesfinanzhof zu der Frage Stellung genommen, wie die Unverhältnismäßigkeit der Vergütung eines Geschäftsführers einer gemeinnützigen GmbH i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 3 AO zu ermitteln ist (BFH, Urteil vom 12.3.2020 – V R 5/17). Aus der Entscheidung lassen sich verallgemeinerungsfähige Rückschlüsse für den Gang einer Angemessenheitsprüfung ziehen. Der BFH geht davon aus, dass der unbestimmte Rechtsbegriff „unverhältnismäßig“ im Gemeinnützigkeitsrecht dieselbe Bedeutung hat wie der von der Rechtsprechung bei der Beurteilung einer verdeckten Gewinnausschüttung (vGA) i. S. v. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG herangezogene Begriff „unangemessen“. Es kann daher für die Prüfung der Angemessenheit einer Vergütung auf die Grundsätze zur vGA zurückgegriffen werden. Maßgebliche Bezugsgröße für die Prüfung der Angemessenheit ist die Gesamtausstattung, d. h. alle Vorteile, die der Geschäftsführer von der Gesellschaft oder von Dritten für seine Tätigkeit erhält. Hierunter fallen neben Gehältern, Weihnachts- oder Urlaubsgeldern auch vom Arbeitgeber übernommene Versicherungsbeiträge sowie die private Nutzung von Dienstwagen und versprochene Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, insbesondere Pensionszusagen (BFH, Urteil vom 12.3.2020 – V R 5/17).

Pensionszusagen sind hierbei allerdings nicht mit dem bilanziellen Rückstellungswert in die Gesamtausstattung einzubeziehen, maßgeblich ist vielmehr eine fiktive Jahresnettoprämie (JNP) für eine entsprechende Versicherung. Die JNP entspricht dem Jahresbeitrag einer hypothetischen Versicherung bis zum vertraglich vorgesehenen Eintritt des Versorgungsfalls ohne Berücksichtigung von Abschluss- und Verwaltungskostenzuschlägen und unter Beachtung der Rechnungsgrundlagen des § 6a EStG, vor allem dem dort bestimmten Rechnungszinsfuß von 6 % (BFH, Urteil vom 12.3.2020 – V R 5/17). Just an dieser Stelle werden häufig Fehler gemacht, denn oftmals ist weder die Berechnungsmethode noch die konkrete Höhe der fiktiven Versicherungsprämie bekannt. Dies führt regelmäßig dazu, dass das finanzielle Ausmaß der Verpflichtung nicht bzw. nicht rechtzeitig erkannt wird. Zur Feststellung der Angemessenheit der Gesamtausstattung eines Geschäftsführers kann diese entweder mit den Entgelten verglichen werden, die Geschäftsführer oder Arbeitnehmer des betreffenden Unternehmens beziehen (sog. interner Fremdvergleich), oder mit den Entgelten, die unter gleichen Bedingungen an Geschäftsführer anderer Unternehmen gezahlt wurden (sog. externer Fremdvergleich). Die für den (externen) Vergleich notwendigen Referenzwerte können nach der Rechtsprechung anhand von Vergütungsstudien ermittelt werden (so auch schon BFH, Urteil vom 10.7.2002 – I R 37/01; Beschluss vom 14.7.1999 – I B 91/98).

III. Folgen einer unangemessenen Vergütung

Erweist sich die Vergütung nach den vorstehenden Grundsätzen als unangemessen hoch, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen und etwaigen Abhilfemöglichkeiten. Insofern sind vor allem folgende Rechtsbereiche von Interesse:

1. Gemeinnützigkeit

Eine unangemessen hohe Vergütung stellt regelmäßig einen Verstoß gegen das Drittbegünstigungsverbot des § 55 Abs. 1 Nr. 3 AO dar. Bei besonders schwerwiegenden Verstößen droht die rückwirkende Aberkennung der Gemeinnützigkeit. Dies kann in der Praxis aufgrund des rückwirkenden Wegfalls der Körperschafts- und Gewerbesteuerbefreiung regelmäßig zu einer rückwirkenden Steuerfestsetzung führen, die je nach Art und Umfang der wirtschaftlichen Aktivität der betroffenen Organisation existenzgefährdend sein kann. Hinzu kommt – neben Reputationsschäden – häufig der Wegfall von Einnahmen aus Spenden oder Subventionen.

2. Schadenersatzansprüche & Rückabwicklung

In der Regel entsteht der betroffenen Organisation durch die überhöhte Vergütung ein Vermögensschaden. Häufig lassen sich diese auf Sorgfaltspflichtverletzungen der an der Vergütungsentscheidung beteiligten Personen bzw. Gremien zurückführen. Das gilt insbesondere dann, wenn trotz fehlender eigener Sachkunde auf die Einholung von externem Rat verzichtet wurde. Eine Schadenersatzpflicht der handelnden Personen kann sich dann insbesondere aus dem jeweiligen Anstellungsvertrag i.V.m. § 280 BGB ergeben. Beruht die Vergütungsentscheidung gar auf einem kollusiven Zusammenwirken des Gewährenden mit dem Begünstigten, d. h. einer bewussten Schädigung der betroffenen Gesellschaft, sind auch gegen den Begünstigten selbst Ansprüche denkbar, etwa unter dem Gesichtspunkt der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB). In diesen Fällen ist auch eine Nichtigkeit der zugrunde liegenden Vereinbarungen (Anstellungsvertrag, Versorgungszusage) nach den §§ 134, 138 BGB nicht ausgeschlossen. Dann droht eine teilweise oder sogar vollständige Rückforderung aller geleisteten Zahlungen.

3. Strafrechtliche Konsequenzen

Wird durch die Gewährung unangemessen hoher Bezüge im Einzelfall die Grenze zur Strafbarkeit überschritten, kommen zudem Ansprüche gegen die handelnden Personen aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. mit dem jeweiligen Straftatbestand in Betracht. Häufig stellt eine deutlich übersetzte Vergütungsabrede für den Gewährenden einen Verstoß gegen dessen (regelmäßig gegebene) Vermögensbetreuungspflicht dar, der im Ergebnis den Tatbestand der Untreue (§ 266 StGB) verwirklichen kann. Sofern die Mitwirkung des Begünstigten im Einzelfall über ein (grundsätzlich zulässiges) Verhandeln in eigenen Angelegenheit bzw. ein bloßes „Sich-Gewähren-Lassen“ hinausgeht, kommt auch für diesen eine strafrechtlich relevante Teilnahme bzw. Täterschaft in Betracht. Neben einer strafrechtlichen Verurteilung droht in diesen Fällen ferner die Einziehung der aufgrund der fehlerhaften Gewährung erlangten Vermögenswerte.

4. Schadenkompensation durch Versicherungen

Häufig bestehen bei betroffenen Unternehmen Versicherungsverträge, aus denen im Einzelfall eine zumindest teilweise Schadenkompensation erlangt werden kann. Neben einer zugunsten der Entscheidungsträger abgeschlossenen D&O-Versicherung kommen hier die Vermögensschaden- sowie die Vertrauensschaden-Haftpflichtversicherung in Betracht. Mündet der Streit über die Vergütung in einem gerichtlichen Verfahren, können auch Ansprüche aus einer Rechtsschutzversicherung bestehen. Bei gravierenden Verstößen und drohenden strafrechtlichen Implikationen greifen namentlich allerdings häufig Ausschlussgründe („wissentliche Pflichtverletzung“). Unabhängig davon empfiehlt es sich, etwaige Versicherungsfälle möglichst frühzeitig gegenüber dem Versicherer anzuzeigen. Das gilt insbesondere dann, wenn eine vergleichsweise Einigung mit den Betroffenen erwogen wird, da hierdurch Regressansprüche des Versicherers abgeschnitten werden können und diesen deshalb von seiner Einstandspflicht befreien.

IV. Wie kann Luther Sie unterstützen?

Aus unserer Sicht empfiehlt es sich, bereits im Vorfeld einer beabsichtigten Vergütungsentscheidung einen unabhängigen Rat einzuholen. Denn einerseits können so kostspielige und – konkret im Bereich der Altersversorgung – langwierige Konsequenzen vermieden werden, andererseits wird hierdurch auch das persönliche Haftungsrisiko der beteiligten Entscheider gemindert. Regelmäßig bedarf es dazu im ersten Schritt keiner umfassenden Begutachtung. Problematische Gestaltungen lassen sich häufig bereits im Rahmen eines „Quick-Checks“ zuverlässig identifizieren und abstellen. Daneben begutachten wir selbstverständlich auch bereits laufende Vergütungen und unterstützen Sie bei der Lösung oder zumindest der Begrenzung etwaiger Folgeprobleme. Um die für die Bewertung der Angemessenheit notwendige Datengrundlage insbesondere im Bereich der gemeinnützigen Organisationen zu verbessern, bereiten wir zudem gegenwärtig eine breit angelegte Vergütungsstudie vor, die im dritten Quartal 2023 starten soll. Bei Interesse an einer Teilnahme sowie weiteren Einzelheiten melden Sie sich bitte beim Autor.

Veranstaltungshinweis

Luther Rechtsanwältin und Steuerberaterin Dr. Annekatrin Veit wird am 14. September 2023 in Düsseldorf auf der Jahrestagung Betriebliche Altersversorgung von DER BETRIEB zum Thema „Angemessenheit von Versorgungsleistungen als Grenze der Gestaltungsfreiheit“ referieren. Luther Mandanten erhalten einen Rabatt von 15 % auf den normalen Tagungspreis. Bitte melden Sie sich bei Interesse bei janna.altheim@luther-lawfirm.com

und wir senden Ihnen gerne den für die vergünstigte Teilnahme erforderlichen Rabattcode. Den Tagungsflyer können Sie hier abrufen: events.fachmedien.de/event/bav-tagung/

Bonusansprüche bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis

Sind die Voraussetzungen eines Bonusanspruchs (noch) nicht erfüllt und gewährt der Arbeitgeber dennoch vorbehaltlos Leistungen an eine Gruppe von Arbeitnehmern nach einer an objektiven Kriterien festgemachten Regel, kann sich für Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage, denen die Leistung vorenthalten wird, auf der Grundlage des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ein Anspruch ergeben, wenn ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung nicht gegeben ist.

BAG, Urteil vom 25.1.2023 – 10 AZR 29/22

Der Fall

Für das Arbeitsverhältnis der klagenden Arbeitnehmerin galt seit 2012 eine Konzernbetriebsvereinbarung über die jährliche Gewährung von Boni; ob solche Mittel zur Verfügung stehen, wurde für das zurückliegende Geschäftsjahr final jeweils im Februar des Folgejahres entschieden. Zum 30. Juni 2020 endete das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag, der eine Abfindung anhand eines Rahmensozialplans vorsah. Dieser enthielt eine Bestimmung, nach der Mitarbeiter in ihrem Austrittsjahr einen anteiligen Bonus gemäß der jeweils gültigen Bonusregelungen erhalten. Zudem wurden – je nach Zeitpunkt des Ausscheidens – ein Faktor sowie weitere Voraussetzungen für die Bonusberechnung festgelegt. Anfang Juni 2020 teilte der Vorsitzende des Konzerns mit, dass Boni für das laufende Jahr sehr unwahrscheinlich seien. Infolgedessen erhielt die Klägerin für 2020 keinen Bonus, sechs andere Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnisse zum 31. Mai 2020 endeten, jedoch unmittelbar danach wohl. Die Klägerin forderte daraufhin einen (anteiligen) Bonus für 2020, welche die Beklagte ablehnte. Der anschließenden Klage gab das ArbG statt, das LAG wies sie auf die Berufung der Beklagten hin zurück.

Die Entscheidung

Der 10. BAG-Senat entschied hingegen zugunsten der Klägerin. Der Bonusanspruch für das Jahr 2020 ergebe sich allerdings nicht aus dem Rahmensozialplan, da dieser lediglich die Voraussetzungen eines Anspruchs modifiziere, der nach einer einschlägigen Bonusregelung bestehen kann – hier gemäß der Konzernbetriebsvereinbarung –, sondern aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Dieser gebiete dem Arbeitgeber, Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage bei Anwendung einer selbst gesetzten Regel gleich zu behandeln. In der Folge ergebe sich ein (ggfs. nach dem Rahmensozialplan anteiliger) Bonusanspruch auch für solche Arbeitnehmer, die im Rahmen einer dem Rahmensozialplan unterliegenden Maßnahme nach dem 31. Mai 2020 aus ihrem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, da sechs vor diesem Datum ausgetretenen Beschäftigten ein anteiliger Bonus für 2020 gewährt wurde. Die Beklagte habe damit eine Leistung nach einer an objektiven Kriterien festgemachten Regel erbracht; für eine unterschiedliche Behandlung solcher Arbeitnehmer, die danach unterjährig aus ihrem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, sei kein sachlicher Grund ersichtlich, insbesondere nicht durch eine vermeintlich schlechtere wirtschaftliche Situation. Zum Zeitpunkt der Verlautbarung von Anfang Juni 2020 sei nicht klar gewesen, dass für 2020 kein Bonus ausgeschüttet wird, während kurz zuvor noch anteilige Boni ohne Kenntnis der wirtschaftlichen Entwicklung erfolgt seien.

Unser Kommentar

Vor dem Hintergrund des vorliegenden Einzelfalls ist die Entscheidung des BAG rechtlich nachvollziehbar. Die unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern einerseits, die nach dem 31. Mai 2020 aufgrund einer dem Rahmensozialplan unterliegenden Maßnahme ausgeschieden sind, und denjenigen andererseits, deren Arbeitsverhältnis bis zu diesem Termin aufgrund einer solchen Maßnahme beendet wurde, wurde im vorliegenden Fall zurecht als nicht sachlich gerechtfertigt bewertet. Gewährt ein Arbeitgeber vorab oder im Nachhinein einen Bonus anhand der aufgestellten Regeln, haben sämtliche Arbeitnehmer einen Anspruch darauf, welche die Voraussetzungen erfüllen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die speziellen Kriterien des Sozialplans oder bereits die grundsätzlichen Bonusbedingungen nicht erfüllt sind (dazu jüngst anschaulich LAG Hamm, Urteil vom 13.9.2022 – 14 Sa 277/22 mit Rev. beim BAG, Az. 10 AZR 337/22). Im vorliegenden Fall hat die Klägerin die grundsätzlichen Kriterien des Rahmensozialplans – nicht zuletzt aufgrund des ausdrücklichen Verweises im Aufhebungsvertrag – aber erfüllt.

Betriebsbedingte Kündigung bei Aufgaben­verlagerung in einer Matrix­organisation

Ein Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses liegt auch dann vor, wenn der Arbeitgeber im Rahmen einer unternehmerischen Entscheidung Arbeitsaufgaben an ein anderes, konzernangehöriges Unternehmen überträgt.

BAG, Urteil vom 28.2.2023 – 2 AZR 227/22

Der Fall

Der klagende Arbeitnehmer war bei der beklagten Arbeitgeberin als Vertriebsmanager für Deutschland angestellt. Die Beklagte ist die deutsche Tochtergesellschaft eines US-amerikanischen Konzerns im Bereich der KI, der in einer Matrixstruktur organisiert ist. Neben dem Kläger beschäftigte die Beklagte fünf weitere „Sales Directors“. Im Mai 2020 kündigte sie das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt, da sie die Aufgaben des Klägers auf den Vertriebsmanager für Österreich in der dortigen Konzerntochter übertrug und die restlichen Sales Directors künftig direkt an den Vertriebsmanager auf Konzernebene berichten sollten. Der Kläger erhob daraufhin Kündigungsschutzklage, welche die Vorinstanzen abwiesen.

Die Entscheidung

So entschied auch das BAG. Die Kündigung sei wirksam, da sie durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und daher sozial gerechtfertigt sei. Durch die Entscheidung der Beklagten, die Aufgaben des Klägers auszusondern, sei das Beschäftigungsbedürfnis für diesen entfallen. Dringende betriebliche Erfordernisse i. S. d. § 1 II KSchG lägen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen Organisationsentscheidung zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung führt. Dabei komme es nicht darauf an, ob die unternehmerische Entscheidung z. B. aus wirtschaftlichen Gründen „dringend“ war oder die Existenz des Unternehmens auch ohne sie nicht gefährdet gewesen wäre. Die Entscheidung der Beklagten, die Aufgaben des Klägers an ein konzernangehöriges Drittunternehmen zu übertragen, sei in diesem Zusammenhang nicht offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich. Zu der verfassungsrechtlich geschützten unternehmerischen Freiheit gehöre auch das Recht, festzulegen, ob bestimmte Arbeiten weiter im eigenen Betrieb ausgeführt oder an Drittunternehmen vergeben werden. Da § 1 II KSchG auf Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Betrieb oder im Unternehmen abstelle, nicht jedoch im Konzern, sei es ferner grundsätzlich ohne Bedeutung, wenn der Beschäftigungswegfall darauf beruht, dass bestimmte Aufgaben künftig in einer anderen Konzerngesellschaft verrichtet werden.

Unser Kommentar

Die Verteilung von Aufgaben innerhalb einer meist internationalen Matrixstruktur ist in der Praxis häufig. Im Rahmen einer sehr grundrechtsorientierten Abwägung zwischen den Unternehmerrechten aus Art. 14 GG und den Arbeitnehmerrechten aus Art. 12 GG betont das BAG, dass seine Aufgabe nicht darin bestehe, für eine „bessere oder richtigere“ Unternehmensorganisation zu sorgen. Der Unternehmer sei durchaus frei, auch Entscheidungen umzusetzen, die nicht unmittelbar unternehmerisch vorteilhaft seien. Der Wegfall der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit sei dabei hinzunehmen, solange dieser nicht allein darin seine Begründung finde, dass die Bedingungen der Beschäftigung beseitigt werden sollten. Die Begründung des BAG trägt auch bei jeder rein nationalen Organisationsentscheidung, die zum Wegfall eines Beschäftigungsbedürfnisses führt, selbst wenn sie nicht wirtschaftlich zwingend sein sollte. Den Willküreinwand wird der beweisbelastete Arbeitnehmer selten führen können.

Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung wegen Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit – Zwangsvollstreckung

Die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers wird nicht allein deshalb unmöglich, weil der Arbeitgeber die unternehmerische Entscheidung getroffen hat, die Aufgaben des Gekündigten auf andere Mitarbeiter zu übertragen; der Weiterbeschäftigungsanspruch wird mittels Zwangsgeld und Zwangshaft nach § 888 ZPO durchgesetzt.

BAG, Beschluss vom 28.2.2023 – 8 AZB 17/22

Der Fall

Der Gläubiger (= Arbeitnehmer) war seit Mitte 2013 bei der Schuldnerin (= Arbeitgeberin) beschäftigt. Letztere kündigte das Arbeitsverhältnis am 14. Oktober 2021 fristlos zum 28. Oktober 2021, hilfsweise ordentlich zum 31. Januar 2022. Das ArbG gab der hiergegen erhobenen Kündigungsschutzklage mit Urteil vom 12. April 2022 statt, zudem verurteilte es die Arbeitgeberin, den Arbeitnehmer bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens weiter zu beschäftigen. Der Arbeitgeberin wurde eine vollstreckbare Ausfertigung des Urteils zugstellt; ein zwischenzeitlicher Auflösungsantrag wurde abgelehnt. Die Arbeitgeberin legte sodann Berufung ein und stellte einen weiteren Auflösungsantrag nach § 9 KSchG. Diesen begründete sie damit, dass der Arbeitnehmer i. E. gegen die Arbeitgeberin intrigiere. Sie beantragte weiter, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des ArbG einzustellen. Das LAG wies in der Folge den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 719 und § 707 ZPO i.V.m. § 62 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 ArbGG zurück, da die Arbeitgeberin nicht ausreichend glaubhaft gemacht habe, dass die Vollstreckung ihr einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Anschließend beantragte der Arbeitnehmer zur Durchsetzung seines titulierten Weiterbeschäftigungsanspruchs die Festsetzung eines Zwangsgeldes, ersatzweise von Zwangshaft gem. § 888 ZPO. Die Arbeitgeberin erwiderte nun, dass ihr eine Weiterbeschäftigung unmöglich sei, da der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers durch eine dahin gehende unternehmerische Entscheidung zwischenzeitlich weggefallen sei. Das ArbG entsprach dem Antrag, das LAG bestätigte dies.

Die Entscheidung

So entschied auch das BAG. Ein Weiterbeschäftigungsantrag im laufenden Kündigungsschutzverfahren sei nach § 888 ZPO durch Festsetzung von Zwangsgeld und Zwangshaft festzusetzen. Der Einwand der subjektiven oder objektiven Unmöglichkeit könne in einem solchen Verfahren zwar berücksichtigt werden, aber nur dann, wenn die Unmöglichkeit – also der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit – unstreitig oder offenkundig ist. Eine Beschäftigungsmöglichkeit sei vorliegend nicht bereits deshalb entfallen, weil die Arbeitgeberin die unternehmerische Entscheidung getroffen hat, eine bestimmte Position zu streichen und die Aufgaben entsprechend umzuverteilen. Etwas anderes könne allenfalls dann gelten, wenn der Entfall konzernintern angeordnet gewesen sei und die Arbeitgeberin hierauf keinen Einfluss gehabt hätte.

Unser Kommentar

Der Weiterbeschäftigungsantrag gehört naturgemäß zur Kündigungsschutzklage: So kann der Arbeitnehmer nach Obsiegen in erster Instanz die Weiterbeschäftigung – und damit i.E. auch die Abrechnung und Auszahlung der Vergütung – mit vollstreckungsrechtlichen Zwangsmitteln durchsetzen. Da ein Arbeitgeber an der womöglich nur temporären Beschäftigung eines Gekündigten kein Interesse hat, sucht dieser deshalb typischerweise nach Wegen, diese zu verhindern. Neben der Geltendmachung der Unmöglichkeit im Verfahren nach § 888 ZPO kann er die Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 719 und § 707 ZPO i.V.m. § 62 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 ArbGG beantragen. Hierfür muss er jedoch glaubhaft machen, dass die Vollstreckung einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen wird. Soweit keine Berufung eingelegt wird, kann er zudem Vollstreckungsgegenklage nach den §§ 767, 769 ZPO (z. B. wegen eines gestellten Auflösungsantrags) erheben. Eine zwischenzeitliche unternehmerische Entscheidung, nach der der Arbeitsplatz des gekündigten Mitarbeiters nachträglich entfällt, ist nach der vorliegenden Entscheidung indes nicht geeignet ist, eine Zwangsvollstreckung zu verhindern.

Praktisch sollte man in einem solchen Fall vorsorglich eine erneute (dann betriebsbedingte) Kündigung aussprechen. Dies hat mehrere Vorteile: Zum einen gibt es einen weiteren Beendigungstatbestand, der dann einer Vollstreckung entgegensteht, zum anderen ist die dargestellte Rechtsprechung, nach der es für die Unmöglichkeit darauf ankommt, ob die Arbeitgeberin diese selbst herbeigeführt hat, nicht einschlägig. Schließlich ist ein solches Vorgehen auch aus taktischer Sicht günstig, da es den Druck auf den Arbeitnehmer erhöht, sich ggfs. doch nach einem anderen Arbeitsplatz umzusehen. Dies allein deshalb schon, weil so ein etwaiger Annahmeverzugslohn später wegen böswillig unterlassenen, anderweitigen Erwerbs nach § 615 Satz 2 BGB vermindert wird.

Aufhebung einer Versetzung – Ausgliederung des Zielbetriebs auf ein anderes Unternehmen

Die Wirkung einer Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz endet, wenn der Zielbetrieb auf ein anderes Unternehmen ausgegliedert wird, weshalb ein auf Aufhebung der Versetzung gerichteter Antrag des Betriebsrats zu diesem Zeitpunkt unbegründet wird.

BAG, Beschluss vom 15.11.2022 – 1 ABR 15/21

Der Fall

Im Rahmen einer betrieblichen Umorganisation wies der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen neu gebildeten Arbeitsbereich zu, ohne die vorherige Zustimmung des Betriebsrats einzuholen. Danach übertrug der Arbeitgeber den Arbeitsbereich im Wege der Ausgliederung auf ein anderes Unternehmen. Nach Auffassung des Betriebsrats habe die Zuweisung eine Versetzung dargestellt, weshalb dieser deren Aufhebung forderte; die erfolgte Ausgliederung stehe dem nicht entgegen, weil der Arbeitnehmer wegen der mitbestimmungswidrigen Versetzung dem ausgegliederten Betriebsteil nicht wirksam zugeordnet worden sei. Er beantragte neben der Aufhebung der Maßnahme dem Arbeitgeber unter Androhung eines Ordnungsgelds aufzugeben, den Arbeitnehmer nicht im ausgegliederten Betriebsteil einzusetzen. Das ArbG entsprach den Anträgen, das LAG wies sie nach der Beschwerde des Arbeitgebers ab.

Die Entscheidung

Das BAG wies die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats zurück. Das Aufhebungsverfahren nach § 101 BetrVG habe die Frage zum Gegenstand, ob eine mitbestimmungswidrige Maßnahme gegenwärtig oder zukünftig zulässig sei; dabei komme es nicht darauf an, ob die Maßnahme bei ihrer Durchführung betriebsverfassungsrechtlich zulässig war. Ende die Maßnahme vor dem Abschluss der gerichtlichen Verfahrens, werde der Aufhebungsantrag unbegründet. Vorliegend habe die Versetzung mit der Ausgliederung geendet. Der Senat nahm ferner den Antrag unter Androhung eines Ordnungsgelds wörtlich und verstand ihn als Antrag gem. § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Das im vorliegenden Antrag vom Wortlaut abweichende Verständnis als Zwangsgeldantrag habe dazu geführt, dass das LAG über einen anderen als den beantragten Verfahrensgegenstand entschieden habe. Aber auch der Unterlassungsantrag nach § 23 BetrVG diene nur dem Schutz der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung gegen grobe Verstöße des Arbeitgebers in der Zukunft. Sofern eine erneute Verletzung der den Anlassfall bildenden Pflichten aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ausgeschlossen ist, sei ein solcher Anspruch nicht gegeben. Da die Arbeitgeberin keine Versetzungen mehr in den ausgegliederten Betriebsteil vornehmen könne, sei eine zukünftige Rechtsverletzung daher konkret nicht mehr nicht mehr möglich..

Unser Kommentar

Der Senat betont, dass sowohl der Aufhebungsantrag nach § 101 BetrVG wie auch der Unterlassungsantrag eine rein zukunftsbezogene Sicherungsfunktion, jedoch keinen vergangenheitsbezogenen Sanktionscharakter haben. Die Beendigung einer personellen Einzelmaßnahme – auch durch Zeitablauf – lässt den Aufhebungsantrag also ins Leere laufen. Ein grober Verstoß i. S. d. § 23 BetrVG wiederum dürfte ein seltener Ausnahmefall sein. Das Zusammenspiel der §§ 99, 100 und 101 BetrVG erlaubt mannigfaltiges Taktieren, das die Mitbestimmungsrechte eines Betriebsrats bei nicht dauerhaft geplanten Einzelmaßnahmen praktisch aushebelt. Diesen Weg kann einem Arbeitgeber, außer im „Notfall“, dennoch nicht empfohlen werden, denn man sieht sich immer zweimal, und spätestens bei der nächsten Verhandlung einer Betriebsvereinbarung wird sich der Betriebsrat an das (aus seiner Sicht) Foulspiel erinnern.

Sonderzahlungen: Unwirksamkeit eines Freiwilligkeitsvorbehalts bei potenzieller Geltung für spätere Individualabreden

Erfassen arbeitsvertragliche Freiwilligkeitsvorbehalte in Bezug auf Sonderzahlungen des Arbeitgebers auch spätere Individualabreden zwischen den Arbeitsvertragsparteien, benachteiligt eine solche Klausel den Arbeitnehmer unangemessen gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB und ist daher unwirksam.

BAG, Urteil vom 25.1.2023 – 10 AZR 109/22

Der Fall

Der Arbeitsvertrag des klagenden Arbeitnehmers enthält eine Klausel, nach der die Zahlung von Weihnachts- und/oder Urlaubsgeld im freien Ermessen des Arbeitgebers liegt und keinen Rechtsanspruch für die Zukunft begründet, auch wenn die Zahlung mehrfach und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt. Von 2015 bis 2019 zahlte die Beklagte jeweils im Juni ein Urlaubsgeld und im November ein Weihnachtsgeld. Im Jahr 2020 stoppte die Beklagte die Zuwendungen und führte im Sommer 2021 ein neues Bonussystem ein, welches die Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlungen ersetzen sollte. Der Kläger forderte daraufhin Urlaubs- und Weihnachtsgeld für 2020 in Höhe der letztmaligen Zahlungen. Die anschließende Klage wies das ArbG ab, das LAG gab ihr auf Berufung des Klägers statt.

Die Entscheidung

Ebenso entschied der 10. BAG-Senat und wies die Revision der Beklagten entsprechend zurück. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld in nach billigem Ermessen gem. § 315 BGB festzusetzender Höhe folge aus betrieblicher Übung. Die gebotene Auslegung des bisherigen Verhaltens der Beklagten lasse auf einen entsprechenden Verpflichtungswillen schließen. Der Annahme einer betrieblichen Übung und eines daraus folgenden Anspruchs stehe auch nicht der im Arbeitsvertrag enthaltene Freiwilligkeitsvorbehalt entgegen, da dieser den Kläger gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unangemessen benachteilige und somit unwirksam sei. Mit der Klausel behalte sich die Klägerin zunächst ein einseitiges Recht zur (erstmaligen) Entscheidung über die Gewährung von Sonderzuwendungen vor, obwohl der Hinweis, derartige Zahlungen lägen „im freien Ermessen des Arbeitgebers“, weitergehend bedeute, dass der Arbeitgeber sich deren Gewährung generell vorbehält und lediglich die stets geltenden, allgemeinen Schranken der Rechtsausübung zu beachten hat, die Entscheidung aber nicht am Maßstab der Billigkeit auszurichten ist. Dabei bezwecke die Klausel die Festlegung eines späteren Erklärungsverhaltens bereits im Vertrag, indem sie bestimme, dass die Leistung von Sonderzuwendungen auch dann keinen Rechtsanspruch für die Zukunft begründet, wenn die Zahlung mehrfach und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt. Sie ziele damit auf die Verhinderung des Entstehens jedes Rechtsanspruchs des Arbeitnehmers, der nicht anderweitig im Arbeitsvertrag festgelegt ist. Die Regelung halte einer Inhaltskontrolle mithin nicht stand, weil sie nicht auf den Entstehungsgrund etwaiger Ansprüche abstellt und nach Maßgabe des § 305c Abs. 2 BGB die Auslegung zulasse, dass der Vorbehalt auch spätere Individualabreden über Sonderzuwendungen erfasse, obwohl individuelle Vertragsabreden gem. § 305b BGB Vorrang vor (kollidieren) AGB haben, selbst dann, wenn sie nachträglich getroffen wurden.

Unser Kommentar

Die Entscheidung führt die Rechtsprechung des BAG zu formularmäßigen Freiwilligkeitsvorbehalten in Arbeitsverträgen konsequent fort. Schon im Jahr 2011 entschied der 10. Senat, dass eine unangemessene Benachteiligung auch darin liegen kann, dass ein Vorbehalt (potenziell) spätere Individualabreden erfasst (BAG, Urteil vom 14.9.2011 – 10 AZR 526/10). Ein Freiwilligkeitsvorbehalt darf insgesamt weder auf solche Ansprüche Anwendung finden, die im arbeitsvertraglichen Synallagma stehen, noch auf solche, die durch die zusammenhängende Regelung oder potenziell in der Zukunft gewährt werden, selbst, wenn bestimmte Parameter der Leistung ggfs. noch determiniert werden müssen. Gerade aufgrund des steten Unwirksamkeitsrisikos arbeitsvertraglicher Klauseln sollten separate Freiwilligkeitsvorbehalte bei jeder individuellen Leistungsgewährung geregelt werden. Ein im Arbeitsvertrag integrierter Freiwilligkeitsvorbehalt ist hier nicht ausreichend, um das Entstehen einer betrieblichen Übung zu verhindern.

Rechtsprechung in Kürze

Ungleichbehandlung älterer Schwer­be­hin­derter durch Kappungs­grenze im Sozialplan

Eine Höchstabfindungsgrenze in einem Sozialplan verstößt gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleich­behandlungs­grund­­satz, wenn ältere Schwerbehinderte dadurch eine ebenfalls im Sozialplan vorgesehene zusätzliche Abfindung im Hinblick auf ihre Schwerbehinderung nicht erhalten.

BAG, Urteil vom 11.10.2022 – 1 AZR 129/21

Der Fall

Der klagende Arbeitnehmer hat einen GdB von 80 und war langjährig bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt, die 2019 die Schließung des Betriebs beschloss, in dem der Kläger tätig war. Der mit dem Betriebsrat geschlossene Sozialplan sah neben einer Grundabfindung eine zusätzliche Zahlung von EUR 2.000 für Schwerbehinderte und Gleichgestellte ab einem GdB von 50 vor; gleichzeitig wurde der Maximalabfindungsbetrag je Arbeitnehmer auf EUR 75.000 beschränkt. Gemäß dem Sozialplan hätte dem Kläger bereits eine Grundabfindung von knapp EUR 93.000 zugestanden, die Beklagte zahlte jedoch auch die zusätzliche Schwerbehinderten-Abfindung nicht an ihn. Der Kläger verlangte daraufhin weitere EUR 2.000. ArbG und LAG wiesen die Klage ab.

Die Entscheidung

Das BAG sprach dem Kläger den Betrag indes zu. Die Höchstbetragsregelung stehe dem nicht entgegen, weil sie wegen Verstoßes gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG unwirksam sei, soweit sie sich auf den zusätzlichen Abfindungsbetrag erstreckt. Die Betriebsparteien verfügten in Sozialplänen zwar über Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume, allerdings müssten sie stets § 75 Abs. 1 BetrVG beachten, der bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung schon dann verletzt sei, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen ihnen keine Unterschiede bestehen, die dies rechtfertigen. Ein solcher Fall liege hier durch die Höchstabfindungsregelung vor, weil der zusätzliche Betrag zwar an alle Schwerbehinderten ab einem GdB von 50 gezahlt werden sollte, ihn tatsächlich aber nur die Schwerbehinderten erhielten, deren Grundabfindung EUR 75.000 nicht überschritt; hierdurch ergebe sich eine doppelte Ungleichbehandlung älterer Schwerbehinderter. Die Gruppenbildung innerhalb der Schwerbehinderten sei auch nicht durch den Zweck gerechtfertigt, eine Verteilungsgerechtigkeit sicherzustellen, insbesondere, da der besondere Abfindungsbetrag für Schwerbehinderte eigentlich dem Umstand Rechnung tragen wollte, besondere Nachteile auszugleichen, die typischerweise gerade älteren Schwerbehinderten bei einem Arbeitsplatzverlust entstehen.

Unser Kommentar

Die Zulässigkeit von Kappungsgrenzen als solche hat das BAG erneut bestätigt, weil Sozialplanmittel begrenzt sind und verteilungsgerecht die Nachteile der von einer Betriebsänderung betroffenen Mitarbeiter mildern oder ausgleichen sollen. Dabei können besonders hohe Abfindungen gekappt werden, um die dadurch „gewonnene“ Verteilungsmasse auf andere Mitarbeiter zu verteilen. Zur Verteilungsgerechtigkeit gehört aber auch, dass die besonderen Erschwernisse schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt gesondert berücksichtigt werden müssen. Bei der Kappungsgrenze müssen Zuschläge wie hier daher außer Betracht bleiben. Verstöße gegen der Gleichbehandlungsgrundsatz können als Rechtsfehler unabhängig von einer Anfechtung eines Sozialplanspruchs durch den Betriebsart durch jeden – vermeintlichen – Anspruchsinhaber geltend gemacht werden. Nach Feststellung eines Rechtsfehlers wird nicht etwa das Sozialplanbudget neu verteilt, sondern es erhöht sich – weshalb darin potenziell erhebliche Risiken für die Gesamthöhe eines Sozialplans stecken.

Betrügerisches Erschleichen einer A1-Bescheinigung

EuGH, Urteil vom 2.3.2023 – Verb. Rs. C-410/21 & C-661/21 (DRV Intertrans)

Eine betrügerisch in einem anderen Mitgliedstaat erlangte A1-Bescheinigung kann im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Betrugs im Beschäftigungsmitgliedstaat unter bestimmten Umständen außer Betracht gelassen werden.

Der Fall

Die Ausgangsrechtsstreits stammen aus Belgien im Rahmen zweier Strafverfahren wegen Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen. Die Verfahren richten sich jeweils gegen Unternehmen für Transportdienstleistungen, die über eine Gemeinschaftslizenz in Belgien und Litauen sowie der Slowakei verfügen. Trotz ausschließlicher Ausführung der Transportdienstleistung in Belgien wurden die Sitze in den anderen Ländern für den Erwerb einer A1-Bescheinigung zur Umgehung von Sozialversicherungsabgaben genutzt. Der verfahrensführende belgische Hof van Cassatie möchte vom EuGH mehrere Auslegungsfragen zu den Verordnungen zur Koordinierung der Sozialversicherungssysteme und dem Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterverkehrs geklärt bekommen: Kann die vom Mitgliedstaat ausgestellte A1-Bescheinigung auch im Beschäftigungsstaat für den Strafprozess vorläufig dergestalt widerrufen werden, dass die von der Bescheinigung ausgehende Vermutung der ordnungsge­mäßen Sozialversicherung nicht mehr gilt? Wenn dies zu verneinen ist, können die A1-Bescheinigungen im Beschäftigungsstaat dennoch wegen Betrugs außer Acht gelassen werden? Zuletzt will das vorlegende Gericht wissen, ob aus einer Genehmigung für den Kraftverkehr in einem Mitgliedstaat zwangsläufig und unwiderlegbar darauf geschlossen werden kann, dass der maßgebliche Sitz für das anzuwendende System sozialer Sicherheit in diesem Mitgliedstaat ist?

Die Entscheidung

Der EuGH antwortet darauf zunächst, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte A1-Bescheinigung die Träger und die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit verrichtet wird, bindet. Allerdings könne ein mitgliedsstaatliches Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens das Vorliegen eines Betrugs feststellen und die A1-Bescheinigung folglich für die Zwecke dieses Strafverfahrens außer Acht lassen, sofern eine angemessene Frist verstrichen ist. Die gelte selbst dann, wenn der ausstellende Träger die Gültigkeit der Ausstellung dieser Bescheinigung überprüft, dazu Stellung genommen und die Bescheinigung gegebenenfalls für ungültig erklärt oder widerrufen hat. Zum anderen müssen die mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien, die diesen Personen gewährt werden müssen, beachtet werden. Der Umstand, dass eine Gesellschaft im Besitz einer von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ausgestellten Gemeinschaftslizenz für den Kraftverkehr ist, biete nicht den unwiderlegbaren Beweis dafür, dass diese Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat ihren Sitz für das anzuwendende System sozialer Sicherheit hat.

Tarifvertraglicher Zuschuss zum Kurzarbeitergeld

BAG, Urteil vom 12.10.2022 – 5 AZR 48/22

Der Zuschuss zum Kurzarbeitergeld nach § 3 Nr. 3 Abs. 2 TV Kurzarbeit ist für jede durch Kurzarbeit ausgefallene Arbeitsstunde zu zahlen und beträgt 16 % des aus der Summe der Nettoentgelte der letzten drei Monate vor Beginn der Kurzarbeit ermittelten durchschnittlichen Nettostundenentgelts.

Der Fall

Die Parteien streiten über die Höhe eines tariflichen Zuschusses zum Kurzarbeitergeld. Auf das Arbeitsverhältnis der klagenden Arbeitnehmerin findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der „Tarifvertrag über befristete Erleichterungen bei der Kurzarbeit“ („TV Kurzarbeit“) Anwendung. § 3 Nr. 3 Abs. 2 TV Kurzarbeit enthält folgende Regelung: „Für die Dauer der Kurzarbeit erhält der betroffene Arbeitnehmer zum Kurzarbeitergeld einen Zuschuss des Arbeitgebers in Höhe von 16 % des durchschnittlichen Nettoentgelts der letzten drei Kalendermonate. Die Gesamtbezüge dürfen 100 % des Nettoentgelts nicht überschreiten.“ Die beklagte Arbeitgeberin berechnete das Kurzarbeitergeld der Klägerin für die Monate April bis Juni 2020 indem sie die Nettoentgelte der Klägerin der Monate Januar bis März 2020 summiert und diesen Betrag dann durch die in diesem Zeitraum geleisteten Arbeitsstunden teilt. Von dem so ermittelten durchschnittlichen Nettostundenentgelt der letzten drei Monate zahlte die Arbeitgeberin 16 % für jede durch Kurzarbeit ausgefallene Arbeitsstunde als Zuschuss zum Kurzarbeitergeld. Die Klägerin hält diese Berechnung für tarifwidrig. Ihrer Ansicht nach beträgt der Zuschuss zum Kurzarbeitergeld unabhängig vom Umfang der von den Beschäftigten jeweils geleisteten Kurzarbeit stets 16 % des durchschnittlichen Nettoentgelts der letzten drei Kalendermonate. Die entsprechende Klage auf einen höheren Zuschuss wiesen ArbG und LAG ab.

Die Entscheidung

Auch das BAG entschied zugunsten der Beklagten. Der Anspruch der Klägerin auf Zuschuss zum Kurzarbeitergeld sei komplett erfüllt worden. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folge den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Im Zweifel gebühre derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. Der Wortlaut des § 3 Nr. 3 II TV Kurzarbeit lasse sowohl die Berechnungsmethode der Beklagten als auch die der Klägerin zu, Sinn und Zweck des tariflichen Zuschusses zum Kurzarbeitergeld sprächen allerdings entscheidend für die von der Beklagten angewandte Berechnungsmethode. Durch die Kurzarbeit und den mit ihr verbundenen Arbeitsausfall würden die betroffenen Arbeitnehmer Verdiensteinbußen erleiden, da das Kurzarbeitergeld durch die Sozialversicherung die durch Kurzarbeit bedingte Verdienstminderung nicht vollständig ausgleiche. Diese Einbußen sollen durch den tariflichen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld abgemildert werden. Fernliegend sei daher eine Berechnungsmethode, nach der ein „einheitlicher Zuschuss“ unabhängig davon gewährt wird, wie viele Arbeitsstunden tatsächlich ausgefallen sind. Außerdem führe dies sonst zu dem nicht gewollten Ergebnis, dass den Beschäftigten, die von Kurzarbeit betroffen sind, unabhängig von der tatsächlich geleisteten Kurzarbeit das durchschnittliche Nettoentgelt der drei Monate vor der Kurzarbeit im Wesentlichen erhalten bleibt. Für eine Auslegung des § 3 Nr. 3 Abs. 2 TV Kurzarbeit, die an den Arbeitsausfall anknüpft, spreche zuletzt, dass dadurch eine praktisch brauchbare Regelung erzielt wird, weil die bei den jeweils betroffenen Arbeitnehmern durch die Kurzarbeit ausgefallenen Arbeitsstunden feststehen und der Zuschuss rechnerisch einfach und ohne viel Aufwand ermittelt werden könne.

Abberufung des Datenschutzbeauftragten nur aus wichtigem Grund

EuGH, Urteil vom 9.2.2023 – Rs. C-453/21 (X-FAB Dresden)

Nationale Regelungen, wonach ein Datenschutzbeauftragter (DSB), der bei einem Verantwortlichen oder einem Auftragsverarbeiter beschäftigt ist, nur aus wichtigem Grund abberufen werden kann, sind auch mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn die Abberufung nicht im Zusammenhang mit der Erfüllung seiner Aufgaben steht, solange die nationale Regelung die Ziele der DSGVO nicht beeinträchtigt.

Der Fall

Der Kläger im Ausgangsrechtsstreit ist Betriebsratsvorsitzender und stellvertretender Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats. Die Arbeitgeberin und andere Tochtergesellschaften bestellten ihn zum DSB, um einen konzerneinheitlichen Datenschutzstandard zu erreichen. Nach Ersuchen des Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit und aus betriebsbedingten Gründen wurde er als DSB abberufen. Die Vorinstanzen entschieden zugunsten des Klägers und stellten fest, dass er nach wie vor DSB sei.

Die Entscheidung

Der EuGH hält die strenge Regelung des § 6 IV 1 BDSG, wonach ein DSB, der bei einem Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter beschäftigt sei, nur aus wichtigem Grund abberufen werden könne, auch wenn die Abberufung nicht mit der Erfüllung seiner Aufgaben zusammenhänge, für mit dem Unionsrecht (Art. 38 III 2 DSGVO) vereinbar. Die Abberufung aufgrund eines Interessenkonflikts i. S. d. Art. 38 VI 2 DSGVO dürfe dadurch jedoch nicht verhindert werden. Unter welchen Bedingungen ein solcher Interessenkonflikt festgestellt werden könne, müsse im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände einschließlich der Organisationsstruktur des Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiters und aller anwendbaren (internen) Rechtsvorschriften durch das nationale Gericht festgestellt werden. Grundsätzlich seien die Wahrnehmung der Aufgaben des DSB und anderer Aufgaben beim Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter miteinander vereinbar, sodass der DSB auch mit anderen Aufgaben und Pflichten betraut werden könne. Der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter müsse aber sicherstellen, dass diese anderen Aufgaben und Pflichten nicht zu einem Interessenkonflikt führen. Ein solcher entstehe, wenn die Ausübung der anderen Aufgaben und Pflichten die Stellung des DSB beeinträchtigen könnte. Dem Datenschutzbeauftragten dürften deshalb keine Aufgaben übertragen werden, die ihn dazu veranlassen würden, Zwecke und Mittel der Datenverarbeitung festzulegen, da er diese unabhängig überwachen müsse.

Vorlage von Bewerbungsunterlagen an den Betriebsrat auch in digitaler Form

LAG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13.10.2022 – 2 TaBV 1/22

Die Vorlage der erforderlichen Bewerbungsunterlagen i. S. v. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG muss nicht in Papierform, sondern kann auch in der Weise erfolgen, dass die Betriebsratsmitglieder, denen Dienst-Laptops zur Verfügung stehen, im Zuge der Information über eine beabsichtigte Einstellung umfassende Einsichtsmöglichkeiten in ein Bewerbermanagement-Tool erhalten.

Der Fall

Die Parteien streiten u. a. über die Ersetzung der vom Betriebsrat verweigerten Zustimmung zur Einstellung eines Arbeitnehmers. Nachdem diese erfolgt war, beantragte die Arbeitgeberin gem. § 99 BetrVG beim Betriebsrat dessen Zustimmung zur Einstellung. Im Zuge dessen ermöglichte die Arbeitgeberin dem Betriebsrat den Zugriff auf sämtliche Bewerbungsunterlagen aller Bewerber. In diesem Zusammenhang unterhält die Arbeitgeberin ein Softwareprogramm zur Abbildung von Stellenausschreibungen und Bewerbungsverfahren, in das auch in Papierform eingehende Bewerbungen vollständig digitalisiert übernommen werden. Die Modalitäten des Umgangs mit diesem Tool waren in einer Betriebsvereinbarung niedergelegt. Der Betriebsrat verweigerte indes die Zustimmung zur Einstellung. Er vertritt die Ansicht, dass das Zustimmungsverfahren schon nicht ordnungsgemäß eingeleitet worden sei, weil die Arbeitgeberin ihm die Bewerbungsunterlagen nicht in Papierform vorgelegt habe. Das ArbG ersetzte die Zustimmung des Betriebsrats.

Die Entscheidung

So entschied auch das LAG Sachsen-Anhalt und stellte fest, dass der Betriebsrat inhaltlich ausreichend unterrichtet wurde. Vor einer beabsichtigten Einstellung habe der Arbeitgeber dem Betriebsrat Auskunft über die Mitbewerber zu geben und die Bewerbungsunterlagen zur Verfügung zu stellen, § 99 Abs. 1 BetrVG. Dieser gesetzlichen Verpflichtung sei die Arbeitgeberin nachgekommen, indem sie den Betriebsratsmitgliedern eine umfassende Einsichtsmöglichkeit in die digitalisierten Unterlagen gewährt hat. Durch zur Verfügung stehende Laptops bestand für jedes Betriebsratsmitglied jederzeit die Möglichkeit der Einsichtnahme. Im Zeitalter der Digitalisierung könne es keinen Unterschied mehr machen, ob dem Betriebsrat sämtliche Unterlagen in Papierform vorgelegt bzw. überlassen werden oder ob die Betriebsratsmitglieder durch „Vorlage“ von Laptops in die Lage versetzt werden, sich die entsprechenden Kenntnisse zu verschaffen. Es fehle an einem nachvollziehbaren Grund, weshalb der Arbeitgeber weiterhin ausnahmslos verpflichtet sei, Bewerbungsunterlagen auszudrucken und dem Betriebsrat in Papierform vorzulegen. Entscheidend sei allein die jederzeitige Möglichkeit, sich die erforderlichen Kenntnisse zu verschaffen. Gegen die Entscheidung wurde Rechtsbeschwerde eingelegt (Az. beim BAG: 1 ABR 28/22).

Internationaler Newsflash aus unyer I Österreich

Österreich: Kündigung wegen langer Krankenstände gerechtfertigt

In der Praxis stehen Arbeitgeber oft vor der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Kündigung wegen Krankenstands zulässig ist. Der Oberste Gerichtshof Österreichs urteilte kürzlich in zwei Entscheidungen, dass eine Kündigung wegen Krankenstands gerechtfertigt sein kann und längere und/oder häufigere Krankenstände einen personenbedingten Kündigungsgrund darstellen können. Einer dieser beiden Entscheidungen wird hier vorgestellt.

Oberster Gerichtshof – Urteil vom 27.4.2022, 9 ObA 26/22x

Der Fall

Bei einer Arbeitnehmerin im Bereich der Montage lagen massive Krankenstände vor, die zu einer Unplanbarkeit der Schichten und zum Unmut der anderen Mitarbeiter zur Versetzung der Klägerin an einen „Schonarbeitsplatz“ führten. Der weitere Einsatz an ihrem vorherigen Arbeitsplatz wurde von der Betriebsärztin als ein zu großes Gesundheitsrisiko eingestuft. Dieser Einschätzung lag ein hausärztliches Attest zugrunde, das die Arbeitnehmerin selbst der Betriebsärztin vorgelegt hatte und aus dem hervorging, dass ein Einsatz in der Montage aus medizinischer Sicht nicht mehr infrage komme. Die Entscheidung des Arbeitgebers, dass er die Arbeitnehmerin nicht mehr an ihrem ursprünglichen Arbeitsplatz einsetzen werde, beruhte somit auf einer medizinischen Einschätzung. Anschließend wurde der Arbeitnehmerin gleichwohl gekündigt.

Die Entscheidung

Der Oberste Gerichtshof sah die Kündigung als gerechtfertigt an und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Kündigung auf einem personenbezogenen Kündigungsgrund beruhte. Ausgehend von den von der Arbeitnehmerin vorgelegten Informationen konnte der Arbeitgeber bei objektiver Betrachtung berechtigt annehmen, dass die Arbeitnehmerin an ihrem Arbeitsplatz in der Montage nicht mehr eingesetzt werden konnte. Die Kündigung sei daher als wirksam und nicht als sozialwidrig anzusehen.

Unser Kommentar

Trotz der jüngsten Entscheidung(en) des OGH zu diesem spannenden Thema bleibt die Beurteilung, ob eine Kündigung wegen Krankenstands rechtlich zulässig ist, stets eine Einzelfallentscheidung. Bei der Beurteilung spielen u. a. Fragen nach der Anzahl und Häufigkeit der Krankenstände, eine Zukunftsprognose, u. U. Sonderregelungen des Behinderteneinstellungsgesetzes, das Entgeltfortzahlungsrecht und die allgemeinen Grundsätze von Fürsorgepflicht des Arbeitgebers/Treuepflicht der Mitarbeitenden eine Rolle.

Internationaler Newsflash aus unyer I Frankreich

Frankreich: Die Vier-Tage-Woche –
ein Experiment

Könnte in einer Zeit, in der Frankreich eine Post-Covid-Krise in Bezug auf die Bedeutung und das neue Verhältnis zur Arbeit durchlebt, die Vier-Tage-Woche die Lösung sein? Nach einem kurzen Überblick über die weltweit laufenden Experimente wird die Vier-Tage-Woche in Frankreich betrachtet, um einige ihrer Vorteile und Risiken aufzuzeigen.

In vielen Ländern ist die Vier-Tage-Woche auf dem Vormarsch. Im Vereinigten Königreich wurde die Vier-Tage-Woche im Jahr 2022 in großem Maß erprobt: 92 % der Testunternehmen gaben an, sie beizubehalten, dazu hat sie zu einem Rückgang der Burn-out-Faktoren um 71 % geführt. In Japan meldete Microsoft eine Produktivitätssteigerung von 40 %, als es das Format im August 2019 testete. In Spanien testen aktuell 200 Unternehmen auf freiwilliger Basis die Idee, die Wochenarbeitszeit bis 2025 auf 32 Stunden an vier Tagen zu reduzieren – ohne Lohnkürzungen und mit staatlicher Unterstützung. In Belgien ermöglicht ein „Deal for Employment“ den Arbeitnehmern, mit Zustimmung ihres Arbeitgebers an vier Tagen zu arbeiten, und zwar zehn Stunden pro Tag. In Island arbeiten 90 % der Einheimischen 36 oder sogar 35 Stunden an vier Tagen bei vollem Lohnausgleich.

In Frankreich wäre 25 Jahre nach den Aubry-Gesetzen und am 30. Jahrestag der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie von 1993 etwa jedes dritte Unternehmen bereit, eine Vier-Tage-Woche einzuführen (so eine Robert Half-Umfrage aus Oktober 2022). In der Praxis kann das Modell sehr unterschiedliche Formen annehmen: 35 oder 32 Stunden pro Woche an vier Tagen ohne Lohneinbußen etwa, oder auch andere Formate. Es können mehrere Ziele verfolgt werden, z. B. die Stärkung der Arbeitgebermarke und der Attraktivität auf angespannten Arbeitsmärkten, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsqualität, der Beitrag zum ökologischen Wandel und die Stärkung der CSR-(ESG-)Politik.

Zwar ist es möglich, dass die Arbeitgeber die Vier-Tage-Woche einseitig einführen, doch in der Praxis sind Tarifverhandlungen ein Schlüsselfaktor für den Erfolg einer solchen Umstellung, da sie dazu dienen, alle Rechte der beteiligten Parteien zu berücksichtigen.

Die Vier-Tage-Woche kann dabei potenziell für alle Arbeitnehmer, Unternehmensgrößen und Branchen gelten, ihre mittel- und langfristigen Auswirkungen müssen jedoch erst noch gemessen werden, da sich diverse Fragen stellen, vor allem, welche Auswirkungen sie auf die Belegschaft, die Unternehmensleistung und die körperliche und geistige Gesundheit der Beschäftigten hat. Ebenso wie Homeoffice kann auch die Vier-Tage-Woche neue Risiken mit sich bringen, die in arbeitsschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigt werden müssen. Schulungen in Management können von unschätzbarem Wert sein. Werden darüber hinaus Änderungen am Arbeitsvertrag vorgenommen, insbesondere bei der Vergütung, muss ein Zusatz zum Arbeitsvertrag unterzeichnet werden.

Schließlich ist auf Unternehmensebene, selbst wenn die geltenden Vorschriften die Umstellung auf eine Vier-Tage-Woche zulassen, in der Praxis eine Machbarkeitsstudie erforderlich, um die Organisation an diese neue Arbeitsweise anzupassen. Auf nationaler Ebene in Frankreich schlug ein Bericht der Assises du Travail, einer Arbeitsgruppe des französischen Arbeitsministeriums, mit dem Titel „Reconsidering Work“, im April 2023 unter Federführung von Arbeitnehmervertreterin Sophie Thiéry und Arbeitgeberpräsident Jean-Dominique Sénard an den französischen Arbeitsminister Olivier Dussopt vor, eine Stellungnahme zu den laufenden Experimenten zur Vier-Tage-Woche zu erstellen. Es bleibt abzuwarten, was daraus wird.

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