04.10.2022
Lieber Leserinnen, liebe Leser,
der Begriff Metaversum (engl. Metaverse) ist aktuell in aller Munde. Auch wenn er meist mit Online-Spielen in Verbindung gebracht wird, so entdeckt auch die Arbeitswelt diesen Begriff zunehmend für sich. Doch was hat es damit konkret auf sich? Wie wirkt sich dies auf unsere Arbeitswelt aus? Wird sich die Arbeit schon bald auch in die virtuelle Welt verlagern? Einige handeln dabei das Metaversum bereits als „The Next Big Thing“. Anlass für uns, sich mit diesem Thema und seinen Auswirkungen auf die Arbeitswelt zu befassen. Auch wenn das eigene Unternehmen im Metaversum nicht vertreten ist, so werden Arbeitgeber nicht völlig an dem Thema vorbeikommen, insbesondere mit Blick auf Geschäftsbeziehungen zu Kunden und Lieferanten, die im Metaversum agieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich schnell, dass die arbeitsrechtlichen Themen im Metaversum vielfältig sind, neben Arbeits- und Gesundheitsschutz, Datenschutz wird auch das Aufstellen von Verhaltensgrundsätzen eine zentrale Rolle einnehmen. Nadine Ceruti und ich geben in dieser Ausgabe unseres Newsletters einen ersten Ausblick.
Zum 1. August 2022 sind die Änderungen des Nachweisgesetzes in Kraft getreten. Das Gesetz hat zu einem akuten Handlungsbedarf für Arbeitgeber geführt und diese vor große Herausforderungen gestellt. Die ersten beiden Monate des neuen Gesetzes liegen hinter uns. Zeit für eine erste Bestandsaufnahme. Dr. Eva Rütz befasst sich daher in dieser Ausgabe mit den ersten Erfahrungen aus der Praxis bei der Umsetzung des neuen Gesetzes. Sie gibt dabei Handlungsempfehlungen für Unternehmen hinsichtlich der in der Praxis relevanten Fragen.
Auch in dieser Ausgabe unseres Newsletters befassen wir uns selbstverständlich wieder mit den Entwicklungen in der Rechtsprechung. Wir hoffen, dass wir eine Auswahl getroffen haben, die für Sie von besonderem Interesse ist.
Wie immer freuen wir uns auf Ihr Feedback zu unseren Themen. Sprechen Sie unsere Autoinnen und Autoren direkt an, wenn Sie Anregungen oder Fragen haben.
Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre!
Ihr
Achim Braner
Die Arbeitswelt unterliegt einem ständigen Wandel. Aktuell beobachten wir vielerorts einen Wechsel in hybride Arbeitsmodelle. Schon bald könnte sich die Arbeit auch in die virtuelle Welt verlagern – in das Metaversum. Was von einigen als „The Next Big Thing“ gehandelt wird, wird von anderen als erfolgloser Hype abgelehnt. Fest steht, dass bei den meisten die Kenntnisse über das Metaversum eher nebulös sein dürften. Nur wenige können sich ein Arbeiten in der digitalen Welt vorstellen, geschweige denn, welche arbeitsrechtlichen Fragen sich in diesem Zusammenhang stellen.
Was ist unter dem Metaversum zu verstehen?
Der Begriff Metaversum (engl. Metaverse) wird meist mit Online-Spielen in Verbindung gebracht. Mittlerweile ist das Metaversum allerdings nicht mehr nur für das Gaming relevant, sondern auch andere Branchen möchten sich das Metaversum erschließen. Das gilt selbst für konservativere Branchen wie Banken. Vor wenigen Wochen hat eine Schweizer Bank ihre erste Filiale im Metaverse eröffnet. Das Metaversum ist ein digitaler Raum, in dem Menschen mit Hilfe von VR-Technik miteinander agieren können. Für Unternehmen bedeutet das zweierlei: Sie können sowohl z. B. ihren Store für Kunden im Metaversum eröffnen, als auch ihr Büro für Mitarbeitende verfügbar machen. Jeder Mitarbeitende erstellt sich einen Avatar, eine eigene Identität in der virtuellen Welt, der mit anderen Avataren in Kontakt treten kann. Dafür werden in der Regel eine VR-Brille und zwei Controller für die Hände benötigt. Bereits jetzt wird AR-Hardware in einigen Arbeitsbereichen eingesetzt. Indem die Realität mit virtuellen „Dingen“ angereichert wird, können bspw. mehrere Personen gleichzeitig an Werkstücken in 3D-Optik arbeiten. Das Auftreten eines Unternehmens in der rein virtuellen Welt, dem Metaversum, ist insbesondere für den elektronischen Handel, E-Commerce und die Hotel- und Immobilienbranche interessant. Sie können dort ihren Kunden Produkte und Räume anschaulich zeigen. Derzeit gibt es noch nicht „das eine Metaversum“, sondern verschiedene Tech-Konzerne, wie Meta/Horizon, Decentraland oder The Sandbox, die ihre eigene virtuelle Version eines Metaversums anbieten.
Arbeitsplatz im Metaversum
Nachdem sich der Mitarbeitende einen Avatar erstellt hat, kann er die virtuellen Office- und Meetingräume individuell anpassen. Dem Arbeiten im südamerikanischen Dschungel stünde nichts mehr im Wege. Für Teambesprechungen oder auch Kundenberatungen muss dann die VR-Brille verwendet werden. Dadurch können Mitarbeitende aus der ganzen Welt mithilfe ihrer Avatare gemeinsam an einem virtuellen Tisch sitzen. Bewegungssensoren ahmen in Echtzeit die Kopf- und Handbewegungen nach. Die von vielen beklagte Videokonferenz-Müdigkeit soll durch die virtuellen Features ausbleiben. Die VR-Technik eignet sich außerdem gut für Einarbeitungen und Schulungen. Es können z. B. hohe Reise- und Materialeinsatzkosten gespart sowie sicherheitsgefährdende Situationen umgangen werden.
Bei der Erstellung des Avatars stellt sich die Frage, inwieweit der Arbeitgeber Vorgaben hinsichtlich des Aussehens machen darf oder sogar muss bzw. ob er den Arbeitnehmer überhaupt zur Erstellung eines Avatars verpflichten kann. Muss der Avatar so aussehen wie der Mitarbeitende, eine Fotokopie seiner selbst? Oder soll der Mitarbeitende seinen Phantasien in der virtuellen Welt freien Lauf lassen können? Falls sich der Mitarbeitende dazu entscheidet, eine andere Hautfarbe, ein anderes Geschlecht zu haben oder sich mit traditioneller Kleidung zu kleiden, eröffnen sich neue Probleme. Mit seinem Auftreten könnte er andere Mitarbeitende beleidigen oder sogar die Grenzen zur kulturellen Aneignung überschreiten. Aus arbeitsrechtlicher Sicht kommt daher dem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht einerseits und dem Schutz des Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers andererseits, im Metaversum eine zentrale Rolle zu. Arbeitgeber werden vermutlich für das Metaversum eigene Verhaltensgrundsätze aufstellen müssen, die über die bislang bekannten Regelungsinhalte eines Code of Conduct hinausgehen. Entscheidend wird hierbei sein, durch das frühzeitige Aufsetzen entsprechender Regelwerke auch ethisch-moralische Grundsätze festzulegen, um Missbrauch, Konflikten und Regelüberschreitungen vorzubeugen – dies auch vor dem Hintergrund der den Arbeitgeber treffenden Fürsorgepflichten. Spannend wird hierbei der Bereich sein, in dem sich dienstliches und außerdienstliches Leben in der virtuellen Welt vermischen, da die Grenzen hier sogar noch fließender sind als in der Realität.
Arbeits- und Gesundheitsschutz
Auch dem Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz wird im Metaversum eine zentrale Rolle zukommen. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für den Arbeitsschutz der Beschäftigten zu sorgen, der ihre Sicherheit und Gesundheit betrifft, § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG. Diese Pflicht trifft den Arbeitgeber auch in der virtuellen Welt. Dort müssen die gleichen Schutzstandards wie in der physischen Arbeitswelt bestehen. Damit der Arbeitgeber wirksame Maßnahmen ergreifen kann, muss er zunächst eine Gefährdungsbeurteilung durchführen. Welche Gefahren existieren in der virtuellen Welt? Sobald der Arbeitgeber das Metaversum nicht nur als interne Plattform für Konferenzen nutzt, sondern die Mitarbeitenden auch in Kontakt mit anderen Nutzern, potenziellen Kunden treten, ergeben sich zahlreiche denkbare Risiken. Es kann zu Androhungen von Gewalt, Beleidigungen, Rassismus, Mobbing, Übergriffen oder sexuellen Belästigungen im virtuellen Raum kommen. Ähnlich wie es in sozialen Medien zu derartigen Anfeindungen kommt, ist auch das Metaversum vor der Verbreitung von schädlichen Inhalten und Verhaltensweisen nicht sicher. Bspw. wurde bereits kurz nach dem Launch der neuen VR-Plattform Horizon-Words der virtuelle Avatar einer Beta-Testerin von einem anonymen Nutzer unangemessen berührt. Dadurch, dass die virtuellen Räume darauf ausgelegt sind, die reale Welt nachzuempfinden, lösen Belästigungen dort ähnliche negative psychologische Reaktionen bei Betroffenen aus. Eine der wichtigsten Schutzmaßnahmen, die der Arbeitgeber zu ergreifen hat, wird sein, den Mitarbeitenden einen sicheren Umgang mit anderen (anonymen) Nutzern zu ermöglichen. Dazu gehört eventuell, Abstandsregelungen für die Avatare untereinander einzuführen. Technische Vorkehrungen können außerdem sein, dass eine schnelle Blockier- und Meldefunktion für störende Mitnutzer eingerichtet wird. Zuständigkeiten im Unternehmen für Risikoanalysen und Kontrollen des Metaversums zu schaffen, ermöglicht es, Gefahren frühzeitig zu erkennen und geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Auch sollten die Beschäftigten eine Schulung bezüglich der Nutzung und dem Verhalten im Metaversum erhalten.
Für Arbeitnehmende kann das Arbeiten im virtuellen Raum zudem zur gesundheitlichen Belastung führen. Das Tragen der VR-Brille über einen längeren Zeitraum kann (kurzzeitige) Augenproblemen und Übelkeit bewirken. Das Arbeiten im Metaversum für mehrere Stunden wird daher unter den derzeit herrschenden technischen Voraussetzungen kaum verlangt werden können. Nicht zuletzt sollte der Arbeitgeber beachten, dass fehlende physische soziale Interaktionen zu psychischen Problemen bei den Mitarbeitenden führen können.
Arbeitnehmerüberwachung/Privacy und Datenschutz
Ein besonderes Problem liegt zudem darin, dass Arbeitnehmende im Metaversum anders überwacht werden können als solche, die aus dem Office arbeiten. Die Avatare können praktisch ununterbrochen beim Arbeiten beobachtet werden. Hinzu kommt, dass im Metaversum personenbezogene Daten in ungeahnten Mengen produziert werden. Jede Bewegung, jeder Blick, jedes Gespräch kann nachvollzogen und gespeichert werden. Zusätzlich kann der Standort der Mitarbeitenden erfasst, der Bildschirm oder auch die Zeiterfassung überwacht werden. In den Verantwortungsbereich des Arbeitgebers wird es fallen, alle Daten der Mitarbeitenden und Kunden vor Diebstahl oder Missbrauch ausreichend zu schützen. Das bedeutet, dass er ein geeignetes Sicherheitssystem für die anfallenden (personenbezogenen) Daten etablieren muss.
Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats
Auch Fragen der Mitbestimmung des Betriebsrats spielen bei einer Arbeit im Metaversum eine große Rolle. Besonders relevant wird hier natürlich das Mitbestimmungsrecht bei der Einführung technischer Einrichtungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG), da – wie oben bereits dargelegt – die Leistungen und das Verhalten des Mitarbeiters im Metaversum durch die Vielzahl an entstehenden und gespeicherten Daten leicht überwacht werden können. Neben der Mitbestimmung bei der Einführung technischer Einrichtungen nach Nr. 6 sind Mitbestimmungsrechte bei der Ausgestaltung mobiler Arbeit, insbesondere mittels Informations- und Kommunikationstechnik (Nr. 14), hinsichtlich der Ausgestaltung der Arbeitszeit (Nr. 2) und bei gesundheitsschutzrechtlichen Fragen im Metaversum (Nr. 7) denkbar. Aufgrund der Komplexität der Materie und der zahlreichen sich hieran anschließenden mitbestimmungsrechtlichen Fragen empfiehlt es sich, den Betriebsrat frühzeitig einzubinden, wenn eine Arbeit im Metaversum angestrebt wird.
Künstliche Intelligenz im Arbeitsleben
In der Zukunft wird für Arbeitgeber zudem interessant sein, inwiefern andere neue Technologien die Arbeitswelt verändern werden. Zu nennen ist hier insbesondere die künstliche Intelligenz (KI oder auch Artificial Intelligence (AI)). Bereits jetzt kommen KI-Systeme in Unternehmen zum Einsatz. Es können einzelne Teilbereiche, in denen KI verwendet wird, unterschieden werden. Dazu zählt die Personalanalyse, die unter anderem dafür verantwortlich ist, Mitarbeitende einzustellen oder ihre Arbeitsleistung und Produktivität zu analysieren. Die Systeme überprüfen Bewerbungsunterlagen auf die Geeignetheit des Kandidaten und führen erste Bewerbungsgespräche mithilfe von ChatBots durch. Automatisierte Koordinations- und Steuerungsaufgaben für Mitarbeitende und andere klassische Managementaufgaben können ferner mithilfe von KI bewältigt werden. Umgesetzt wird das Ganze durch den Einsatz von intelligenten Algorithmen (algorithmisches Management). Nicht zuletzt werden Aufgaben automatisiert werden (task automation). Das typische Beispiel ist der Einsatz von Robotern. Aus arbeitsrechtlicher Sicht müssen bei der Verwendung von KI-Technologie die Beteiligungsrechte des Betriebsrats in den Blick genommen werden. Falls das KI-System personenbezogene Daten erhebt, müssen diese ausreichend geschützt werden. Weiterhin dürfen Personen, insbesondere im Bewerbungsverfahren, nicht aufgrund eines Unterscheidungsmerkmals, aufgeführt in § 1 AGG, benachteiligt werden.
Ausblick
Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch nicht absehbar, ob sich das Metaversum in der Arbeitswelt verbreitet durchsetzen wird. Gegenwärtig sind die technischen Hürden noch recht hoch, allerdings wird die weitere Entwicklung auch diese Prozesse beschleunigen. Einige Unternehmen wird es sicherlich zeitnah ins Metaversum ziehen. Fest steht zudem bereits jetzt, dass die arbeitsrechtlichen Themen vielfältig sind und man – z. B. mit Blick auf Geschäftsbeziehungen zu Kunden und Lieferanten, die im Metaversum agieren – nicht völlig an dem Thema vorbeikommen wird, selbst wenn das eigene Unternehmen im Metaversum nicht vertreten ist. Da der technische Fortschritt im Metaverse noch lange nicht abgeschlossen ist, werden sich vermutlich auch noch weitere arbeitsrechtliche Themen entwickeln, die wir gegenwärtig noch gar nicht erahnen können. Es bleibt spannend.
Der Gesetzgeber nutzte das Sommerloch und ließ mit Wirkung zum 1. August 2022 die Änderungen des Nachweisgesetzes in Kraft treten. Neu war vor allem eine Erweiterung des Anwendungsbereichs auf (nahezu) alle Arbeitnehmer (auch die kurzzeitig Beschäftigten; grundsätzlich auch bei Auszubildenden), eine umfassende Erweiterung des Nachweiskatalogs und die Einführung eines Bußgelds von bis zu EUR 2.000 pro Verstoß.
Vor allem der letzte Punkt, das Bußgeld pro Verstoß sorgte auf den ersten Blick für größte Unruhe – vor allem bei personalstarken Unternehmen. Gleichwohl ist unsere Botschaft – auch nachdem wir in diesem Sommer viel Zeit mit der detaillierten Beratungen zugebracht haben – „nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“ und vor allem: „keine Panik!“.
Letztlich lässt es sich doch wie folgt zusammenfassen: Es gibt eine gesetzliche Neuregelung in Form einer reinen Erweiterung, die vor allem zu administrativem vorübergehendem Mehraufwand führt. Zugegeben – dies ist lästig und bisweilen, je nachdem wie ernst das Unternehmen die schon bisher bestehenden Vorgaben des Nachweisgesetzes genommen hat, auch aufwendig. Es ist aber – so die gute Nachricht – ein rechtlich lösbares Problem. Zudem ist auch bei der Form der Umsetzung sicherlich Augenmaß zu wahren. Zu kleinteilig sollte die Anwendung nicht erfolgen, zumal es auch zu zentralen Punkten naturgemäß noch keine konkretisierende Rechtsprechung gibt.
Die wichtigsten zu beachtenden Punkte, die sich als Beratungsschwerpunkte in den vergangenen Monaten herausgebildet haben, möchten wir gerne darstellen.
Änderungen des Arbeitsvertrags vs. Nachweisschreiben
Der Einstieg in das Mandantengespräch bei dem Wunsch, sich auf die neuen rechtlichen Vorgaben einzustellen, war stets die Erörterung der Frage – „Fassen wir alle Arbeitsverträge an?“ Nutzen wir dies als Gelegenheit, diese ohnehin einmal zu überarbeiten? Oder stellen wir insgesamt auf ein einseitiges Nachweisschreiben um, in dem wir die zentralen Arbeitsbedingungen des neuen Nachweiskatalogs darstellen?
Bei sehr konservativ agierenden Unternehmen, bei denen ohnehin sämtliche Arbeitsverträge, einschließlich Ergänzungs- und Änderungsvereinbarungen schriftlich geschlossen werden, wurde die Entscheidung meist dahingehend getroffen, die zentralen Anpassungen unmittelbar in den Arbeitsverträgen vorzunehmen. Unternehmen hingegen, die beispielsweise stark digital geprägt waren und ihre Arbeitsverträge (bis auf befristete Arbeitsverträge) „nur“ digital unterzeichneten
(z. B. über DocuSign) tendierten eher dahin, ein ausführliches Musternachweisschreiben zu entwickeln, das dann den Mitarbeitenden in der erforderlichen Schriftform zugestellt wurde (ggf. mit elektronischen Zustellungsnachweisen in Bezug auf den Rücklauf). Im Falle eines solchen Nachweisschreibens ist eine Bevollmächtigung möglich; die Vollmachtsurkunde muss indes nicht im Original beigefügt werden, weil es eine reine Wissens- und gerade keine Willenserklärung ist. Eine Zurückweisung ist also nicht möglich.
Beide Vorgehensweisen haben ihre Vor- und Nachteile. Werden die erforderlichen Änderungen zentral in den Arbeitsvertrag „gepackt“, ist dieser auf neuestem Stand. Die Befürchtung in Bezug auf Einschränkungen des Direktionsrechts wegen der Anpassungen des Nachweisgesetzes teilen wir nicht, weil auch diese Klauseln so gefasst werden können
(z. B. in Bezug auf Arbeitszeit), dass das Direktionsrecht auch durch die arbeitsvertragliche darstellende Regelung nicht eingeschränkt wird. Sichergestellt werden muss dann bloß, dass auch Änderungs- und Ergänzungsvereinbarungen schriftlich geschlossen werden (wichtig insb. bei Gehaltserhöhungen, die jedenfalls dann schriftlich mitzuteilen sind). Vorteil des Nachweisschreibens ist die Möglichkeit der einseitigen Abgabe einer reinen Wissenserklärung (zwar ohne rechtlichen Bindungscharakter, aber durchaus mit prozessualen faktischen Bindungsfolgen). Der Steuerungsprozess der administrativen Umstellung liegt beim Unternehmen, lediglich der Zugangsnachweis muss sichergestellt werden. Zudem kann zentralisiert mit einem jeweils anzupassenden Musterschreiben (abhängig von Vertragstypen und Positionsbezeichnungen) gearbeitet werden.
Relevante und in der Praxis zentrale Anpassungen
Es haben sich einige Fallgruppen herausgebildet, die die zentralen Punkte der Anpassungen des Arbeitsvertrags sind (bzw. Schwerpunkt im Nachweisschreiben). Dies betrifft die Darstellung der Entgeltbestandteile, die Möglichkeit und Voraussetzungen der Anordnung von Mehrarbeit sowie die Darstellung des Kündigungsverfahrens. Ansonsten sind die weiteren Punkte typischerweise in den Arbeitsverträgen schon relativ umfassend – jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Vorgaben des Nachweisgesetzes – gestaltet.
In Bezug auf den Aspekt der Darstellung des Kündigungsverfahrens wählen wir derzeit einen restriktiven Ansatz (Darstellung nur der Schriftform, der Frist – ohne „Abschreiben des Gesetzestexts“, Erwähnung der Klagefrist), weil eben zumindest aktuell noch sehr vieles vertretbar ist (was letztlich relevant für die Frage der Verhängung und der Höhe des Bußgelds ist). So sollte dies so schlank als möglich gehalten werden und nach unserem Dafürhalten auch lediglich für die Variante der Kündigungsschutzklage (und nicht der Entfristungsklage) dargestellt werden.
Ansonsten kann es sich bei einem Punkt ausnahmsweise aus Praktikabilitätsgesichtspunkten – schlicht wegen der Textfülle – anbieten, zu diesem Punkt ggf. sogar ein separates Nachweisschreiben zu nutzen. Dies betrifft nach den uns vorliegenden Anfragen v.a. den Punkt der Darstellung eines Schichtsystems, soweit dieses komplex und ausnahmsweise nicht in einer Betriebsvereinbarung geregelt ist.
In Bezug auf den Punkt betriebliche Altersversorgung bitte merken, dass hier letztlich nur in dem Falle überhaupt Ausführungen notwendig sind, wenn eine Unterstützungskasse genutzt wird. In allen anderen Fällen treffen den Arbeitgeber die Verpflichtungen zur schriftlichen Information nicht, weil sie den Versorgungsträger selbst unter versicherungsrechtlichen Aspekten verpflichten.
Zur Vermeidung langatmiger Ausführungen sollte überdies von der Möglichkeit von Verweisungen extensiv Gebrauch gemacht werden. Dies ist in weiten Teilen – vor allem bei vorhandenen kollektivrechtlichen Regelungen – auch möglich. In Fällen mit Auslandsbezug (v. a. Entsendungen) bitte aber beachten, dass dann die Möglichkeit des Pauschalverweises deutlich eingeschränkt ist.
Umgang mit „Altfällen“
Sämtliche Beratungsfälle haben sich zuvorderst alleine aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit mit den Neueintritten ab dem 1. August 2022 beschäftigt. Hierbei ist vor allem zu beachten, dass wir einen einheitlichen Nachweis zu einem Zeitpunkt (und nicht in möglicher zeitlich gestaffelter Form, wie es das Gesetz grundsätzlich zuließe) für praktikabel halten; erst recht, wenn die Nachweise über den schriftlichen Arbeitsvertrag erfolgen. Die schriftliche Information zu unterschiedlichen Zeitpunkten schafft nur überflüssigen Mehraufwand; auch die Umwelt wird´s danken.
Wurde mit einem Nachweisschreiben gearbeitet, so bietet es sich an, dieses auch für Altfälle zu verwenden, also für Bestandsmitarbeiter, die nunmehr einen Nachweis nach dem novellierten Nachweisgesetz verlangen. Es kann sich deshalb auch anbieten, vorsorglich für diese Fälle ein solches Nachweisschreiben zusätzlich zu einem geänderten Arbeitsvertrag zu entwerfen.
Allerdings sollte dies – so unsere Einschätzung – unter Kostengesichtspunkten wohl überlegt werden, ob man zusätzlich zur Anpassung des Arbeitsvertrags nur wegen der Bestandsmitarbeiter ein solches Nachweisschreiben entwerfen lässt. Jedenfalls bisher ist uns kein Fall bekannt, in denen ein Arbeitnehmer tatsächlich unter Berufung auf die gesetzliche Neuregelung ein derartiges Verlangen geltend gemacht hätte. Wenn er dies täte, müsste der Arbeitgeber gleichwohl binnen sieben Tagen diesem Begehren nachkommen. Möglich kann sein, dass eine solche Auskunftswelle beispielsweise betriebsrats- oder gewerkschaftsgetrieben losgetreten wird. Auch dies haben wir bisher in praxi auch noch nicht feststellen können, zumal die Betriebsratswahlen ohnehin gerade zumeist rechtlich unangreifbar zwischenzeitlich für die laufende Wahlperiode abgeschlossen sind. Dieses Auskunftsverlangen der Bestandsmitarbeiter ist wohl eher ein theoretisch drohendes Phänomen.
Sonstige To-Dos
Auch sollte das Einstellen auf das formelle Verfahren bei einem Wunsch nach Entfristung bzw. Änderung der Arbeitszeit oder Übernahmegesuch im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung nicht zu übereifrig erfolgen. Letztlich gibt es in diesen Szenarien wie sonst aus dem Teilzeit- und Befristungsrecht oder auch aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz bekannt – keine Fiktionswirkung, wenn bestimmte Fristen oder Begründungserfordernisse nicht eingehalten werden. Ist das Unternehmen erstmalig mit einem solchen Gesuch konfrontiert, wird es ausreichend sein, sich sodann diesem Thema zu widmen, statt in vorauseilendem Gehorsam.
Relevant wird nach unserem Dafürhalten lediglich eine materielle Frage sein: Welche Probezeit ist angemessen bei einem befristeten Arbeitsverhältnis? Diese muss angemessen sein, sonst ist die Probezeit unwirksam, was aber selbstredend trotzdem nicht das Erfordernis der sechsmonatigen Wartefrist zur Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes entfallen lässt. Wäre die Probezeit also unangemessen lang, wäre die einzige Folge, dass nicht die verkürzte Probezeitkündigungsfrist, sondern die reguläre Kündigungsfrist gölte. Eine überschaubare „Sanktion“.
Zwei Faustformeln gilt es also zu beachten: Je einfacher die Tätigkeit, umso kürzer muss die Probezeit sein. Bei einer sachgrundlosen Befristung, die maximal für zwei Jahre vereinbart werden kann, ist lediglich bei der Maximalbefristungsdauer (und bei jedenfalls gewisser Komplexität der Tätigkeit) eine Probezeit von sechs Monaten gerechtfertigt. Bei einer (auch nur zunächst) einjährigen Befristungsdauer halten wir maximal drei Monate als angemessen. Alles was zeitlich noch darunter angesiedelt ist, müsste nach unserem Dafürhalten mit einer Probezeit von ein bis maximal zwei Monaten auskommen – zwei Monate aber auch nur bei etwas komplexeren Tätigkeiten.
Fazit
Bitte ausdrücklich Ruhe bewahren und lediglich die Punkte vorbereiten, die rechtlich unmittelbar drohen. Das ist im Wesentlichen die Frage, wie mit Neueinstellungen umgegangen werden soll. Das Nachweisbegehren von Bestandsmitarbeitern ist aus unserer Sicht sekundär. Konkrete Vorbereitungen über Muster etc. sollten hier erst dann getroffen werden, wenn dies tatsächlich erfolgt. Auch im Übrigen sind Mustertexte
z. B. für Übernahmegesuch, Entfristungswunsch etc. wünschenswert, aber mit Blick auf die fehlende Fiktionswirkung bei Verstößen des Arbeitgebers nicht zwingend. Gedanken sollten Arbeitgeber sich allenfalls über die Frage der Angemessenheit der vereinbarten Probezeit bei Befristungen machen, weil im Kündigungsfall die kürzere Frist wirtschaftlich deutlich angenehmer ist.
Mit dem Beschluss vom 25. April 2022 hat das BAG eine grundlegende Entscheidung zur wirksamen Einreichung elektronischer Schriftsätze sowie der Heilung etwaiger Formmängel getroffen. Danach waren die bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Formatvorgaben für elektronisch eingereichte Dokumente unwirksam.
BAG, Beschluss vom 25.4.2022 – 3 AZB 2/22
Der Fall
Nachdem die Klägerin in der ersten Instanz mit einer Klage auf Anpassung ihrer Betriebsrente unterlegen war, legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beim Hessischen LAG im Juni 2021 unter Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) Berufung ein und begründete diese im Juli 2021. Sämtliche Dateien wurden im PDF-Format eingereicht und nach Eingang vom Gericht ausgedruckt, gestempelt und zur Papierakte genommen. Am 5. Oktober 2021 stellte das Hessische LAG Mängel der eingereichten elektronischen Dokumente fest und wies die Parteien darauf hin, dass die Berufung und die Berufungsbegründung im falschen Dateiformat eingegangen seien, da die Dateien nicht durchsuchbar und kopierbar und nicht alle Schriftarten eingebettet gewesen seien. Die Mängel könnten nach § 130a Abs. 6 Satz 2 ZPO aber rückwirkend geheilt werden. Noch am selben Tag reichte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Berufung und Berufungsbegründung erneut über das beA als PDF-Datei ein und hatte in einem Schriftsatz „gemäß § 130a Abs. 6 Satz 2 ZPO versichert“, dass diese Dokumente inhaltlich mit den bereits zuvor eingereichten Dokumenten übereinstimmen. Die erneut eingereichten Dokumente, die kopier- und durchsuchbar waren, in denen jedoch weiterhin nicht sämtliche Schriftarten eingebettet waren, druckte das Gericht ebenfalls aus und nahm sie zur Papierakte. Das Hessische LAG teilte sodann jedoch mit, dass es beabsichtige, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, da die Schriftsätze nicht in dem geforderten Dateiformat eingereicht worden wären. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin reichte daraufhin die zuletzt eingereichten PDF-Dateien nochmals ein, verbunden mit der anwaltlichen Versicherung, dass die Dokumente inhaltlich mit den zuvor eingereichten Dokumenten übereinstimmen. Das Hessische LAG verwarf die Berufung der Klägerin als unzulässig. Hiergegen wendete sich die Klägerin mit der vom Hessischen LAG zugelassenen Revisionsbeschwerde.
Die Entscheidung
Mit Beschluss vom 25. April 2022 hob das BAG den Beschluss des Hessischen LAG auf und verwies die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Hessische LAG zurück. Das Hessische LAG habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe jedenfalls mit den auf den ersten Hinweis des Gerichts am 5. Oktober 2021 eingereichten Dokumenten nebst Versicherung, dass diese mit den zuvor eingereichten Dokumenten inhaltlich identisch sind, die nach § 130a Abs. 6 Satz 2 ZPO anzuwendenden Anforderungen eingehalten. Der anfängliche Formmangel sei daher geheilt. Zum Zeitpunkt des Fristablaufs hätten zwar noch die im Jahr 2021 geltenden Fassungen des § 130a ZPO sowie der ERVV gegolten. Diese sahen in §§ 2 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 1 ERVV i.V.m. Nr. 1 Satz 1 ERVB 2019 zwingend vor, dass die Dateien druck-, kopier- und durchsuchbar sind und alle für die Darstellung des Dokuments notwendigen Inhalte (insb. Grafiken und Schriftarten) enthalten. Das heißt, dass die Schriftarten hätten eingebettet sein müssen. Zunächst stellte das BAG aber die Erwägung an, dass bei dem Hessischen LAG weiterhin alle elektronische eingereichten Dokumente ausgedruckt und zur Papierakte genommen werden. Bei einer führenden Papierakte bestünden Anhaltspunkte, dass der Ausschluss druckbarer elektronischer Dokumente nicht mehr mit Sachgründen zu rechtfertigen sei und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar beschränke. Aufgrund der Möglichkeit des Ausdruckens seien die eingereichten Dokumente für die Bearbeitung durch das Gericht grundsätzlich geeignet. Zudem könne die ERVB 2019 – selbst wenn man sie als Rechtsnorm ansähe – nicht die erforderliche Rechtsgrundlage für das Erfordernis der Einbettung aller Schriftarten liefern, da es hierfür an den in Art. 80 GG festgelegten Voraussetzungen fehle. Schließlich seien die nachgereichten Dateien auch i.S.d. § 130a Abs. 2 Satz 1 ZPO für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet gewesen. Das sei hier entscheidend.
Unser Kommentar
Die Entscheidung betraf die alte Rechtslage, da die Fristen in dem zugrunde liegenden Fall im Jahr 2021 abgelaufen waren und somit noch das alte Recht Anwendung fand. Insofern erlangt die Entscheidung aber Bedeutung bei derzeit anhängigen Wiedereinsetzungsfällen, in denen elektronische Eingänge von Gerichten wegen angeblich nicht eingehaltener Formatvorgaben nicht angenommen wurden.
Nach aktueller Rechtslage sind die Anforderungen an die „Eignung“ elektronischer Dokumente i.S.d. § 130a Abs. 2 ZPO zudem geringer. Dies hat der Gesetzgeber klargestellt. Es kommt nur noch darauf an, dass das Dokument für das Gericht lesbar und bearbeitungsfähig ist. Diese Anforderungen sind schon dann erfüllt, wenn es im PDF-Format eingereicht wird. Das Dokument muss jedoch nicht mehr druckbar, kopierbar oder durchsuchbar sein (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV n.F.). Weitere technische Anforderungen an die elektronisch eingereichten Dateien „sollen“ nach den relevanten Vorschriften nur noch als „technische Rahmenbedingungen“ (§ 130a Abs. 2 Satz 2 ZPO n.F.) bzw. „technische Standards“ (§ 2 Abs. 2 ERVV n.F.) erfüllt werden. Nichtsdestotrotz bleibt die generelle Verwendung des PDF/A-Formats, das auch sämtliche „technischen Rahmenbedingungen“ und „technischen Standards“ erfüllt, weiterhin sinnvoll. Damit wird das Risiko etwaiger Streitigkeiten über Formmängel deutlich abgesenkt.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich mit seinem Urteil vom 22. September 2022 dem Schlussantrag des Generalanwalts angeschlossen und entschieden, dass nicht genommener Urlaub nur nach drei Jahren verjährt, wenn Arbeitgeber die Arbeitnehmer unter Erfüllung ihrer Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten in die Lage versetzt haben, ihren Urlaub auch tatsächlich zu nehmen. Im Lichte der bisherigen EuGH-Rechtsprechung haben sie ihren Teil dazu beizutragen, dass der Urlaub nicht verfällt. So müsse der Arbeitnehmer etwa auf den übrigen Urlaub und entsprechende Fristen hingewiesen werden. Andernfalls verfällt und verjährt der Urlaub nicht, was zu einer erheblichen Ansammlung von Resturlaub und hohen Nachforderungen der Arbeitnehmer führen kann.
EuGH (Sechste Kammer), Urteil vom 22.9.2022, Az.: C-120/21
Der Fall
Die Klägerin begehrt die Abgeltung von Urlaub. Sie war vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin bei der Beklagten beschäftigt. Sie hatte im Kalenderjahr Anspruch auf 24 Arbeitstage Erholungsurlaub. Mit Schreiben vom 1. März 2012 bescheinigte die Beklagte, ihr Resturlaubsanspruch von 76 Tagen aus dem Kalenderjahr 2011 sowie den Vorjahren verfalle am 31. März 2012 nicht, weil sie den Urlaub wegen des hohen Arbeitsaufwands in ihrer Kanzlei nicht habe antreten können. In den Jahren 2012 bis 2017 gewährte die Beklagte der Klägerin insgesamt 95 Urlaubstage. Ihren gesetzlichen Mindesturlaub nahm die Klägerin nicht vollständig in Anspruch. Die Beklagte hat die Klägerin weder aufgefordert, weiteren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen könne. In erster Instanz verlangte die Klägerin die Abgeltung von 101 Tagen bezahlten Jahresurlaubs aus dem Jahr 2017 und den Vorjahren, die sie vor der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses nicht genommen habe. Die Beklagte vertrat die Ansicht, der in Rede stehende Urlaub sei verfallen. Sie habe ihre Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht kennen und befolgen können, weil sich die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Entscheidungen vom 19. Februar 2019 geändert habe. Zudem sei sie nicht zur Urlaubsabgeltung verpflichtet, weil die Urlaubsansprüche, deren Abgeltung die Klägerin verlangen könne, verjährt seien.
Das Arbeitsgericht verurteilte die Beklagte in erster Instanz zur Abgeltung des restlichen Urlaubs aus dem Jahr 2017. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht verurteilte die Beklagte auf die Berufung von der Klägerin dazu, ihr 76 Urlaubstage aus den Jahren 2013 bis 2016 abzugelten. Es stellte fest, der Urlaub der Klägerin habe unter Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben weder nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen noch nach den allgemeinen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. BGB verjähren können, weil die Beklagte die Klägerin nicht in die Lage versetzt habe, den Urlaub zu nehmen.
Die Beklagte legte Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) ein. Dieses legte die Sache wiederum dem EuGH vor und bat um Vorabentscheidung (Vorlagebeschluss vom 29. September 2020 – AZR 266/20 (A)).
Das Kernproblem
Nach § 7 Abs. 3 BurlG haben Arbeitnehmer ihren Urlaub grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr oder ausnahmsweise spätestens innerhalb der ersten drei Monate des Folgejahres zu nehmen, damit er nicht verfällt.
Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung nach den §§ 194 und 195 BGB erhoben. Aus diesen Vorschriften geht hervor, dass Ansprüche eines Gläubigers drei Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, verjähren. Unklar war bisher, ob – und falls ja unter welchen Voraussetzungen - die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG erlöschen konnten, verjähren können. Der Beginn der Verjährungsfrist setzt grundsätzlich die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers von den den Anspruch begründenden Umständen voraus. Das BAG war mit der Bundesregierung bisher der Auffassung zugeneigt, dass auch Urlaubsansprüche dieser regelmäßigen Verjährungsfrist unterworfen seien und der Arbeitgeber seinen Urlaub spätestens drei Jahre nach Schluss des Urlaubsjahres nicht mehr einfordern könne, da dem Arbeitnehmer sein Urlaubsanspruch aus Gesetz und kollektiven oder individuellen Vertragswerken bekannt sei.
Das BAG erkannte jedoch einen etwaigen Konflikt mit der Rechtsprechung des EuGH. Auf der Grundlage der aus den Urteilen Kreuziger (EuGH, Urteil vom 6. November 2018 – C-619/16) und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (EuGH, Urteil vom 6. November 2018 – C-684/16) hervorgegangenen Rechtsprechung könne der Anspruch der Klägerin auf bezahlten Jahresurlaub für die Jahre 2013 bis 2016 wohl nicht gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen sein, da die Beklagte die Klägerin nicht dazu aufgefordert habe, ihren Urlaub zu nehmen und ihr nicht klar und rechtzeitig mitgeteilt habe, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfalle, wenn er von ihr nicht genommen werde.
Wie der EuGH geht das BAG davon aus, dass ein Erlöschen von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub in Fällen, in denen der Arbeitnehmer den Urlaub nicht habe nehmen können, nur ausnahmsweise in Betracht komme, und zwar dann, wenn besondere Umstände vorliegen, die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen würden. Dafür habe die Beklagte die Klägerin aber wohl durch Erfüllung ihrer Aufforderungs- und Hinweispflichten in die Lage versetzen müssen, den Urlaub aus den Jahren 2013 bis 2016 zu nehmen.
Die Vorlagefrage
Das BAG begehrte eine Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis die allgemeinen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. BGB zu § 7 BurlG in Anbetracht der bisherigen Rechtsprechung des EuGH stehen. In Ansehung dieser Rechtsprechung könnte in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden - nämlich bei Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften auf den Urlaubsanspruch - ein Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta gegeben sein.
Vor diesem Hintergrund hat das BAG das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„Stehen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 Abs. 1 in Verbindung mit § 195 BGB entgegen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren unterliegt, deren Lauf unter den in § 199 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen mit dem Schluss des Urlaubsjahres beginnt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?“
Das Urteil
Nach dem EuGH (Urteil vom 22. September 2022, Az.: C-120/21) sind Art. 7 der RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer für einen Bezugszeitraum erworben hat, nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen.
Zur Begründung führt es an, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten sei, in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für die Wahrnehmung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen und dabei die konkreten Umstände zu bezeichnen, unter denen die Arbeitnehmer diesen Anspruch geltend machen können. Jedoch habe er dies bereits dahin präzisiert, dass eine nationale Regelung, die für die Wahrnehmung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums umfassen würde, der RL 2003/88/EG nur unter der Voraussetzung nicht entgegenstehe, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch wahrzunehmen. Diesbezüglich habe er entschieden, dass bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers während mehrerer aufeinanderfolgender Bezugszeiträume nationalen Bestimmungen oder Gepflogenheiten, die einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf Jahresurlaub erlischt, und die dadurch die Ansammlung der Ansprüche auf Jahresurlaub beschränken, mit der RL 2003/88/EG vereinbar sei.
Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 der RL 2003/88 könne somit nur unter „besonderen Umständen“ eingeschränkt werden. Zwar regele die Richtlinie die Verjährung selbst nicht. Die regelmäßige Verjährung nach § 195 BGB stelle jedoch eine Einschränkung des Rechts der Arbeitnehmer aus Art. 31 Abs. 2 der Charta dar. In der Charta verankerte Grundrechte dürften nur unter Einhaltung der in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen strengen Bedingungen eingeschränkt werden, d. h., diese Einschränkungen müsse gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen. Erstens sei die Verjährungsfrist gesetzlich geregelt, zweitens taste die Anwendung der Verjährungsregel den Wesensgehalt des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub nicht an, soweit sie, unter der Bedingung, dass der Arbeitnehmer von den seinen Anspruch begründenden Umständen und der Person seines Arbeitgebers Kenntnis erlangt hat, die Möglichkeit für den Arbeitnehmer, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub geltend zu machen, lediglich einer zeitlichen Begrenzung von drei Jahren unterwerfe.
Während der verfolgte Zweck der Rechtssicherheit nicht zu beanstanden sei und eine Urlaubsnahme durch die Arbeitnehmer spätestens drei Jahre nach der Entstehung ihres Urlaubsanspruchs auch der Verwirklichung des Erholungszwecks diene, dürfe dem Arbeitnehmer als der schwächeren Partei des Arbeitsvertrags die Aufgabe für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, nicht vollständig aufgebürdet werden, während der Arbeitgeber damit eine Möglichkeit erhielte, sich seiner eigenen Pflichten unter Berufung auf einen fehlenden Antrag des Arbeitnehmers auf bezahlten Urlaub zu entziehen.
Daraus folge, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums nur unter der Voraussetzung verloren gehen könne, dass der betreffende Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit gehabt habe, diesen Anspruch rechtzeitig auszuüben.
Ließe man zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Arbeitnehmers berufen kann, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man unter diesen Umständen im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führe und dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 der Charta verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderlaufe.
In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens sei es Sache des Arbeitgebers, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkommt, womit die Rechtssicherheit gewährleistet werde, ohne dass das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht eingeschränkt würde.
Unser Kommentar
Der EuGH folgt seiner arbeitnehmerfreundlichen Linie und lässt Urlaubsansprüche erst verjähren, wenn Arbeitgeber ihre Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten in ausreichendem Maße erfüllt haben. Tun sie dies nicht, können sie sich in der Folge mit umfangreichen (Nach-)Forderungen von Urlaubs- oder korrespondierenden Abgeltungsansprüchen konfrontiert sehen.
Mehr denn je ist Arbeitgebern deshalb anzuraten, die ihnen obliegenden Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten ernst zu nehmen und gewissenhaft zu erfüllen.
Gemäß der Rechtsprechung des EuGH müssen Arbeitgeber jedem Arbeitnehmer klar, rechtzeitig und individuell mitteilen, wie viel Urlaub ihm zusteht und wann dieser gegebenenfalls verfällt.
Zudem muss diese Information mit der nachdrücklichen Aufforderung verbunden werden, rechtzeitig Urlaub zunehmen.
Zum Zwecke einer ggf. später notwendigen Beweisführung sollte der Hinweis in Textform erfolgen und der Zugang idealerweise durch den Arbeitnehmer quittiert werden. Über den Umstand, dass Arbeitgeber ihrer Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit hinreichend Genüge getan haben, sind sie in einem möglichen Verfahren vor den Arbeitsgerichten vollumfänglich darlegungs- und beweisbelastet. Erfolgt kein ausreichender Hinweis, können sich Resturlaubsansprüchen bzw. Urlaubsabgeltungsansprüche im Falle einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses über die Jahre in beträchtlicher Höhe ansammeln.
Nach der nun vorliegenden Rechtsprechung des EuGH verjähren Urlaubsansprüche nicht ohne Weiteres nach drei Jahren. Arbeitnehmer können folglich unter Umständen die Abgeltung ihres jahrelang angesparten Urlaubs verlangen, den Arbeitgeber schon als verjährt ansahen. Die Dimensionen, die die Forderungen annehmen können, verdeutlicht das der Vorlage zugrundeliegende Verfahren vor dem BAG. Die Klägerin fordert von der Beklagten knapp EUR 20.000,00 brutto. Im Falle gehäufter Klagen von langjährigen Mitarbeitern könnten sich die Forderungen schnell zu beträchtlichen Summen addieren.
Vor diesem Hintergrund kann nur erneut appelliert werden, die Arbeitnehmer regelmäßig an ihren Resturlaub zu erinnern, sie ordnungsgemäß über dessen Verfall zu informieren und nachweisbar darauf hinzuwirken, dass sie ihren Urlaub auch tatsächlich nehmen, um eine Ansammlung von Resturlaub zu vermeiden. Oftmals wird sich damit begnügt, den Resturlaub auf den Abrechnungen auszuweisen oder gegen Jahresende einen kurzen Hinweis an die Mitarbeiter zu senden und sie so daran zu erinnern, ihren Resturlaub zu nehmen. Das reicht angesichts der Rechtsprechung des EuGH nicht aus, um die Anforderungen für einen etwaigen Verfall oder eine Verjährung des Urlaubs nach spätestens drei Jahren zu erfüllen.
Die Zulässigkeit von unterschiedlichen Nachtarbeitszuschlägen für unregelmäßige und regelmäßige Nachtarbeit in tarifvertraglichen Regelungen ist nicht am Maßstab des EU-Rechts zu prüfen.
EuGH, Urteil vom 7. 7.2022 – C-257/21 und C-258/21 (BAG, Vorlagebeschluss vom 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A))
Der Fall
Gegenstand der zugrunde liegenden Rechtsstreite ist die Zahlung von Nachtarbeitszuschlägen auf der Grundlage eines Tarifvertrags. Der Tarifvertrag differenziert zwischen regelmäßiger Nachtarbeit, die im Rahmen von Schichtarbeit erbracht wird, und unregelmäßiger Nachtarbeit, zu der Arbeitnehmer nur gelegentlich und außerhalb des Schichtplanes herangezogen werden und bei der es sich in der Regel um Mehrarbeit handelt. Nach den tarifvertraglichen Regelungen sind für die unregelmäßige Nachtarbeit höhere Zuschläge vorgesehen als für die regelmäßige Nachtarbeit. Die klagenden Arbeitnehmer, die Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit geleistet haben und dafür die entsprechenden Nachtarbeitszuschläge erhalten haben, machen die Zahlung der Differenz zwischen der erhaltenen Vergütung und der Vergütung bei Anwendung der für unregelmäßige Nachtarbeit vorgesehenen Zuschläge geltend. Sie sind der Auffassung, dass die unterschiedliche Vergütung von Nachtarbeit mit dem Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 GG und Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) nicht vereinbar sei. Dazu trugen sie vor, dass regelmäßige Nachtarbeit mit erheblich höheren Gesundheitsgefährdungen und Störungen des sozialen Umfelds verbunden sei, als Nachtarbeit, die nur gelegentlich anfalle. Der Arbeitgeber wandte ein, dass unregelmäßige Nachtarbeit in deutlich geringerem Umfang anfalle als regelmäßige Nachtarbeit. Der höhere Zuschlag sei dadurch gerechtfertigt, dass es sich typischerweise um Mehrarbeit handele. Zudem sei mit der unregelmäßig anfallenden Nachtarbeit auch ein stärkerer Eingriff in Freizeit und Sozialleben der Arbeitnehmer verbunden.
Die Klagen wurden vom Arbeitsgericht abgewiesen, in der Berufungsinstanz beim LAG wurde den Klagen teilweise stattgegeben. Auf die von dem beklagten Arbeitgeber eingelegten Revisionen hat das BAG die Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Mit dem Vorabentscheidungsverfahrens stellte das BAG die Frage, ob die aus den Regelungen des Tarifvertrages resultierende Ungleichbehandlung von regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit mit Art. 20 GR-Charta vereinbar sei.
Die Entscheidung
Der EuGH verneinte die Anwendbarkeit der GR-Charta in den vom BAG vorgelegten Rechtsstreiten. Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GR-Charta gilt diese für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Eine Durchführung von Unionsrecht liegt nicht schon dann vor, wenn die nationale Regelung in einen Bereich fällt, in dem auch Zuständigkeiten der EU bestehen, sondern erst dann, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften den Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt spezifische Verpflichtungen auferlegen. Insoweit führt der EuGH aus, dass die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88 EG über bestimmte Ansprüche der Arbeitszeitgestaltung – mit Ausnahme des Sonderfalls des bezahlten Jahresurlaubs – keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet. Die Arbeitszeitrichtlinie beschränkt sich vielmehr auf bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Da die Richtlinie gerade nicht das Entgelt der Arbeitnehmer für Nachtarbeit regelt, regelt diese für die Mitgliedsstaaten in Bezug auf die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalte keine spezifischen Verpflichtungen. Der Anwendungsbereich der GR-Charta ist daher nicht eröffnet. Der EuGH hatte somit über die für die Ausgangsverfahren entscheidungserhebliche Frage, ob die aus dem Tarifvertrag resultierende Ungleichbehandlung der regelmäßigen Nachtarbeit im Verhältnis zur unregelmäßigen Nachtarbeit mit dem in Art. 20 der GR-Charta geregelten Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar ist, nicht zu entscheiden.
Unser Kommentar
Die nunmehr beim BAG anhängigen Verfahren haben eine längere Vorgeschichte. Es entspricht der jahrzehntelangen Praxis in Tarifverträgen, Nachtarbeit unterschiedlich zu vergüten. In einem Urteil aus dem Jahr 2018 (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17) hat das BAG entschieden, dass die Differenzierung mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG nicht vereinbar ist. Dies begründete das BAG damit, dass auch Tarifverträge dem Gleichheitsgebot von Art. 3 Abs. 1 GG unterliegen und Differenzierungen bei der Vergütung daher einer sachlichen Rechtfertigung bedürfen. Diese sah das Gericht bei der betreffenden Regelung nicht, da der mit der Regelung bezweckte Ausgleich für die gesundheitlichen Belastungen durch Nachtarbeit sowohl bei regelmäßiger Nachtarbeit als auch bei gelegentlicher Nachtarbeit betroffen sei. Aufgrund der Häufigkeit von regelmäßiger Nachtarbeit sei die Belastung der Arbeitnehmer hierbei sogar noch höher. Dies führte im Ergebnis dazu, dass die höheren Zuschläge, die bisher nur für einen kleinen Teil der Nachtarbeit gezahlt werden mussten, auch für andere Nachtarbeiter zu zahlen waren.
Nach der Entscheidung des EuGH ist die Frage, ob Differenzierungsklauseln hinsichtlich der Nachtarbeitszuschläge in tarifvertraglichen Regelungen zulässig sind, am Maßstab des nationalen Rechts, insbesondere am Grundsatz der Gleichbehandlung des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Da in den beiden Ausgangsverfahren die Frage, die das BAG dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, entscheidungserheblich war, ist damit zu rechnen, dass das BAG die Klagen auf weitere Vergütung in den beiden Rechtsstreiten abweist. Der sachliche Grund für die Differenzierung liegt nach Auffassung der Kläger in diesen Verfahren in der besonderen Belastung der unregelmäßigen Nachtarbeit sowie in der fehlenden Planbarkeit dieser Nachtarbeit, die in der Regel Mehrarbeit ist.
Daraus folgt indes nicht zwangsläufig, dass tarifliche Differenzierungsklauseln per se zulässig sind. In einem Rechtsstreit, dem ein anderer Tarifvertrag zugrunde lag, war die fehlende Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit vom Arbeitgeber schon bei der Planung der zusätzlichen Nachtarbeit zu berücksichtigen und konnte daher bei den Nachtarbeitszuschlägen nicht mehr als Differenzierungsgrund herangezogen werden. Die Kläger, die zusätzliche Nachtarbeitszuschläge auf dieser Grundlage geltend machten, waren daher mit ihren Klagen nicht erfolgreich. Die konkrete tarifliche Regelung ist daher darauf zu überprüfen, welche Belastungen der unregelmäßigen Nachtarbeit in dem Tarifvertrag berücksichtigt wurden und welche Aspekte daher als Rechtfertigung der Differenzierung herangezogen werden können. Trotz der Entscheidung des EuGH kann in tariflichen Differenzierungsklauseln eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG liegen. Es ist damit zu rechnen, dass diese Frage die Rechtsprechung durchaus noch beschäftigen wird.
Arbeitnehmer haben keinen Anspruch auf Erteilung eines Arbeitszeugnisses mit einer Dankes- und Wunschformel. Dies gilt selbst dann, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess vergleichsweise auf die Erteilung eines wohlwollenden und überdurchschnittlichen Zeugnisses einigen. Das BAG führt somit seine bisherige Rechtsprechung fort, nach der Schlussformeln nicht zum zwingenden Zeugnisinhalt gehören.
BAG, Urteil vom 25.1.2022 – 9 AZR 146/21
Der Fall
Die Parteien stritten zunächst in einem Kündigungsschutzprozess um die Wirksamkeit der Kündigung des Arbeitnehmers. Zur Erledigung dieses Rechtsstreits schlossen die Parteien einen Vergleich, der u. a. auch vorsah, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein wohlwollendes, qualifiziertes Arbeitszeugnis erteilt. Eine Regelung zur Formulierung einer Schlussformulierung enthielt der Vergleich nicht. Der Arbeitgeber erteilte daraufhin ein leicht überdurchschnittliches Zeugnis, jedoch ohne eine Schlussformel, mit der er dem Arbeitnehmer für die geleistete Arbeit dankte und ihm für die Zukunft alles Gute und viel Erfolg wünschte. Der Arbeitnehmer klagte daraufhin auf Erteilung eines berichtigten Zeugnisses mit entsprechender Schlussformel. Nachdem das Arbeitsgericht die Klage zunächst abwies, gab das Landesarbeitsgericht dem Kläger in der Berufungsinstanz recht. Die hiergegen gerichtete Revision des Arbeitgebers hatte jedoch vor dem BAG Erfolg und stellte das arbeitsgerichtliche (klageabweisende) Urteil wieder her.
Die Entscheidung
Trotz der wohlbegründeten Entscheidung des LAG verfolgt das BAG seine entgegenstehende Rechtsprechung (vgl. BAG, Urteil vom 20. Februar 2001 – 9 AZR 44/00) weiter. Diese besagt im Kern, dass – in der Praxis verbreitete – Schlussformeln in Arbeitszeugnissen nicht der Realisierung des Zeugniszwecks (Leistungs- und Verhaltensbeurteilung) dienen, sondern lediglich die Beurteilung des Arbeitgebers formelhaft wiederholen. Der Arbeitgeber bringt, so das BAG, mit einer Schlussformel lediglich Gedanken und Gefühle zum Ausdruck, die keinen Rückschluss auf die Leistung und / oder das Verhalten des Arbeitnehmers zulassen. Das BAG folgert dies aus einer Abwägung der betroffenen Grundrechte. Auf Seiten des Arbeitnehmers sei zwar die Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, da ein mit einer Schlussformel versehenes Arbeitszeugnis die Bewerbungschancen des Arbeitnehmers erhöhen dürfte. Höher, so das BAG, wiegt hingegen die negative Meinungsfreiheit des Arbeitgebers aus Art. 5 Abs. 1 GG, da dem Arbeitgeber nicht aufgezwungen werden könne, Gedanken und Gefühle über den Arbeitnehmer zu äußern, wenn hierdurch nicht der Zeugniszweck realisiert werde.
Unser Kommentar
Die Entscheidung wird sich auf Vergleichsverhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, außergerichtlich oder gerichtlich, auswirken. Arbeitnehmern ist anzuraten, den vollständigen Zeugnistext, inklusive einer Schlussformel, zum Inhalt des Vergleichs zu machen. Fehlt es an einer entsprechenden Vereinbarung, müssen Arbeitgeber auch weiterhin zur Erfüllung des Zeugnisanspruchs keine Schlussformel in das Zeugnis aufnehmen.
Weiterhin herrscht viel Aufregung insbesondere in Krankenhäusern, Arztpraxen sowie Altenheimen seit Inkrafttreten des § 20a Infektionsschutzgesetzes (IfSG) Mitte Dezember 2021. Seit dem 16. März 2022 besteht in Deutschland eine einrichtungsbezogene (mittelbare) Impfpflicht, die in § 20a Abs. 1 IfSG normiert ist und für die betroffenen Gesundheitseinrichtungen – neben dem ohnehin schon bestehenden Personalengpass und Versorgungslücken – weitere organisatorische Probleme sowie zahlreiche faktische und rechtliche Fragen auslösen. Gegen die Norm wurde Verfassungsbeschwerde im Eil- und Hauptverfahren erhoben, das BVerfG hat aber aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit vulnerabler Gruppen die Verfassungswidrigkeit der Norm verneint und zudem eine (Teil-)Aussetzung des Gesetzes abgelehnt. Soweit die Regelungen in Grundrechte eingriffen, seien diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
BVerfG, Beschluss vom 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21
Der Fall
Das BVerfG musste die Normen des § 20a sowie § 73 Abs. 1a Nrn. 7e bis 7h IfSG (mithin Artikel 1 Nrn. 4 und 9 lit. a) aa) Nrn. 7e bis 7h des Gesetzes zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie vom 10. Dezember 2021 („ImpfPrG”; BGBl. I S. 5162)) prüfen.
§ 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG bestimmt, dass in Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens und der Pflege ab dem 16. März 2022 nur noch Personen tätig sein dürfen, die geimpft oder genesen sind. Alle Personen, die also nicht nur zeitlich ganz vorübergehend (allenfalls für jeweils wenige Minuten), in der Einrichtung oder dem Unternehmen nach dem 15. März 2022 tätig werden sollen, müssen einen Impf- oder Genesenennachweis oder ein ärztliches Zeugnis über das Bestehen einer medizinischen Kontraindikation gegen eine COVID-19-Impfung vorlegen. Von der Nachweispflicht sind grundsätzlich „alle“ Personen (Beschäftigte, Leiharbeitnehmer, externe Dienstleister wie Handwerker oder Medizinproduktevertriebsmitarbeiter etc.), mit nur wenigen Ausnahmen (z. B. insb. Patienten und Besucher, Paketzusteller, Taxifahrer), betroffen.
§ 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG verwies in der bis zum 18. März 2022 gültigen Fassung hinsichtlich der Vorgaben zum Impf- und Genesenennachweis zunächst auf § 2 der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung (SchAusnahmV). § 2 der SchAusnahmV verwies dann wiederum auf die Internetseite des Paul-Ehrlich-Instituts (Impfnachweis) bzw. des Robert-Koch-Instituts (Genesenennachweis). Diese Nachweise sind nunmehr in § 22a IfSG geregelt und die „dynamische Verweisung“ gestrichen.
Die betroffenen Einrichtungen/Unternehmen sind gehalten, – wenn die Nachweise nicht vorgelegt oder Zweifel an der Echtheit der Nachweise bestehen – die Person nicht zu beschäftigen und das zuständige Gesundheitsamt zu informieren. Gegenüber der tätigen Person erteilt das Gesundheitsamt dann seinerseits ein öffentlich-rechtliches Betretungs- und Beschäftigungsverbot. Der Verstoß gegen die Pflichten des IfSG stellt eine Ordnungswidrigkeit für die tätige Person und die Einrichtung/das Unternehmen dar.
Die Entscheidung
Die Verfassungsbeschwerde blieb in der Eil- und Hauptsache erfolglos. Schon im Eilverfahren entschied das BVerfG am
11. Februar 2022, dass ein Gesetz nur dann nach § 32 BVerfGG vorläufig außer Vollzug gesetzt werde, wenn die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung deutlich überwiegen, was vorliegend nicht der Fall sei mit Blick auf die weiterhin bestehende besondere Infektionsdynamik mit hohen Fallzahlen. Bei Außervollzugsetzung der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht ginge dies mit der erhöhten Gefahr einher, dass sich die dort Tätigen infizierten und sie dann ihrerseits das Virus auf vulnerable Personen übertrügen. Es müsste daher damit zu rechnen sein, dass sich bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mehr (vulnerable) Menschen infizieren, schwer erkranken oder versterben, als wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde.
Dem folgend entschied das BVerfG nun im April 2022, dass Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt seien und der Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen dem mit der Nachweispflicht verfolgten Schutz vulnerabler Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 und den Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden habe. Denn trotz der hohen Eingriffsintensität müssten die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Beschwerdeführenden letztlich zurücktreten.
Der Gesetzgeber verfolge einen legitimen Zweck, soweit er hochaltrige Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen, einem geschwächten Immunsystem oder mit Behinderungen (sog. vulnerable Gruppen) vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 schützen wolle. Der Gesetzgeber habe zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung von einer sich verschärfenden pandemischen Lage und einer damit einhergehenden besonderen Gefährdung älterer und vorerkrankter Menschen ausgehen können. Zudem trage sich insbesondere die Annahme einer besonderen Gefährdung dieser vulnerablen Menschen nach wie vor. Die Nachweispflicht sei auch zur Zweckerreichung geeignet, könnte jedenfalls zum Schutz des Lebens und der Gesundheit vulnerabler Menschen beitragen. Auch läge eine Erforderlichkeit vor, denn es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass keine sicher gleich wirksamen, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkenden Mittel zur Verfügung stünden. Letztlich sei die mittelbare Impfpflicht bzw. Nachweislegung auch im engeren Sinne verhältnismäßig. Zwar begründe § 20a IfSG keinen hoheitlich durchsetzbaren Impfzwang und die Regelung stelle die Betroffenen de facto vor die Wahl (und tangiere somit die Berufsfreiheit), entweder ihre bisherige Tätigkeit aufzugeben oder aber in die Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität einzuwilligen. Nach Gegenüberstellung der widerstreitenden Rechte es die gesetzgeberisch erfolgte Abwägung, dem Schutz vulnerabler Menschen den Vorrang vor einer in jeder Hinsicht freien Impfentscheidung zu geben, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden. Denn „Vulnerable Menschen können sich vielfach weder selbst durch eine Impfung wirksam schützen noch den Kontakt zu den im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Personen vermeiden, da sie auf deren Leistungen typischerweise angewiesen sind. Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht im Ergebnis die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber.“
Unser Kommentar
Der Schutz vulnerabler Gruppen geht vor. So die Hauptaussage des BVerfG, die es auch im Hauptverfahren lehrbuchmäßig begründete. Zum Schutz dieser Gruppen ist die „Impfpflicht“ grundsätzlich ein probates Mittel und ist zudem als vordergründig anzusehen. Richtig und wichtig hat das BVerfG verdeutlicht, dass im Zeitpunkt der Gesetzesverkündung (Dezember 2021) die pandemische Lage nach einer kurzzeitigen Entspannung im Rahmen der vierten Infektionswelle erneut durch eine besondere Infektionsdynamik geprägt war, mit der eine zunehmend größere Infektionswahrscheinlichkeit einherging und somit insbesondere nachteiligen Wirkung vulnerabler Menschen einherging.
Nach hiesiger Auffassung ist – auch mit Blick auf den vom BVerfG richtigerweise betonten besonderen Schutz der vulnerablen Gruppen – v. a. auch bei Bestandsmitarbeitern eine vergütungslose Freistellung bei fehlender Nachweislegung vertretbar (anders unter Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip die „Handreichung des BMG zur Impfprävention in Bezug auf einrichtungsbezogene Tätigkeiten“ vom 22. Februar 2022). Die Möglichkeit der Freistellung eines nicht gegen Corona geimpften Mitarbeiters hat jedenfalls das Arbeitsgericht Gießen am
12. April 2022 (Az.: 5 Ga 1/22) in der bundesweit ersten arbeitsrechtlichen Entscheidung bejaht. Dem Beschäftigungsanspruch eines der einrichtungsbezogenen Impfpflicht unterliegenden Arbeitnehmers stehe das überwiegende Interesse der Arbeitgeberin entgegen, die von ihr betreuten vulnerablen Personen vor einer Beschädigung von Leib und Leben schützen zu wollen.
Gegen die von den Fachgerichten für Arbeitssachen angewendeten Maßstäbe zur Beurteilung der Organisationsstärke einer Arbeitnehmervereinigung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 31.5.2022 – 1 BvR 2387/21
Sachverhalt
Die Verfassungsbeschwerde einer Arbeitnehmervereinigung („Beschwerdeführerin“) betrifft die arbeitsgerichtliche Feststellung ihrer nicht mehr bestehenden Tariffähigkeit. Die Beschwerdeführerin war ursprünglich für Kaufmannsgehilfen gegründet worden. Nach mehrfacher Ausweitung ihres fachlichen Zuständigkeitsbereichs, beanspruchte sie eine Tarifzuständigkeit u. a. auch für Banken, Einzelhandel und Fleischindustrie. Anfang des Jahres 2020 betraf der Organisationsbereich etwa 6,3 Millionen Beschäftigte. Die Arbeitnehmervereinigung zählte nach eigenen Angaben 66.826 Mitglieder.
Die Arbeitsgerichte stellten fest, dass die Beschwerdeführerin ihre ursprünglich bestehende Tariffähigkeit aufgrund der erheblichen Ausdehnung des fachlichen Zuständigkeitsbereichs verloren habe. Es fehle ihr an der erforderlichen Durchsetzungsfähigkeit. Diese werde regelmäßig aus dem Verhältnis der Mitglieder zu dem gewählten Organisationsbereich vermittelt. Entscheidend sei nicht die Verhandlung oder der Abschluss von Tarifverträgen, sondern das Bestehen einer hinreichenden soziale Mächtigkeit. Die Arbeitnehmervereinigung weise jedoch einen nicht signifikanten Organisationsgrad von unter bzw. um ein Prozent auf und den von ihr geschlossenen Tarifverträgen komme auch keine ausschlaggebende Bedeutung zu.
Die Beschwerdeführerin erhob Verfassungsbeschwerde und rügte die Verletzung ihres Grundrechts der Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz. Die Anforderungen, die das Bundesarbeitsgericht an das Kriterium der sozialen Mächtigkeit gestellt habe, seien unverhältnismäßig. Diese würden verfassungswidrig auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken. Die vom Bundesarbeitsgericht geforderte Durchsetzungsfähigkeit im Sinne eines Kräftegleichgewichts sei zudem mit Artikel 28 der Grundrechte Charta sowie Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar. Zudem habe das Bundesarbeitsgericht die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung missachtet und gegen den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen.
Der Beschluss
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Es fehle ihr an einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung.
Bereits unzulässig sei die Verfassungsbeschwerde soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und den effektiven Rechtsschutz rüge. Es fehle an einer hinreichenden Auseinandersetzung damit, dass die Gerichte für Arbeitssachen befugt und gehalten seien, die Tariffähigkeit solange im Lichte des Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz näher zu fassen, wie der Gesetzgeber keine Voraussetzungen der Gewerkschaftseigenschaft und der Tariffähigkeit geregelt habe.
Im Übrigen verletze die arbeitsgerichtliche Entscheidung auch nicht die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel
9 Abs. 3 Grundgesetz.
Es sei mit der in Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz verankerten Koalitionsfreiheit vereinbar, nur solche Koalitionen an der Tarifautonomie teilnehmen zu lassen, die in der Lage seien, eine sinnvolle Gestaltung der in der Rechtsordnung bestehenden Freiräume des Arbeitslebens vorzunehmen. Die Anforderungen an die Tariffähigkeit stellten sicher, dass nur Vereinigungen mit einem Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler an der Ausgestaltung des Arbeitslebens beteiligt seien. Diesen Mindestanforderungen stünde weder das Tarifeinheitsgesetz noch das Mindestlohngesetz entgegen. Anders verhielte es sich bei Anforderungen, die zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung der Bildung und Betätigung einer Koalition führten und die Rechte aus Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz aushöhlen würden.
Gegen diese Grundsätze hätten die Arbeitsgerichte nicht verstoßen. Vielmehr nehme das Bundesarbeitsgericht zur Beurteilung der Organisationsstärke eine grundrechtsfreundliche Gesamtwürdigung vor. So würden keine festen Schemata und Prozentwerte vorausgesetzt und auch nicht für alle Zuständigkeitsbereiche ein signifikanter Organisationsgrad verlangt. Vielmehr genüge ein hinreichender Organisationsgrad für einen nicht unwesentlichen Teil des Zuständigkeitsbereichs. Zudem berücksichtige das Bundesarbeitsgericht die unterschiedlichen sozialen Gegenspieler der Gewerkschaft und deren ökonomisches und soziales Gewicht. Als Indiz für die Durchsetzungskraft werde schließlich der Abschluss von Tarifverträgen berücksichtigt, der einen nennenswerten Umfang und eine gewisse Kontinuität bestätige. Die Indizwirkung schwinde jedoch mit sinkendem Organisationsgrad, da die Tariffähigkeit durch Tarifabschlüsse nicht entstehe, sondern eine Voraussetzung für diese darstelle.
Unser Kommentar:
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes stärkt die fachgerichtliche Rechtsprechung. Mit dem Nichtannahmebeschluss verdeutlicht das Gericht die fehlende verfassungsrechtliche Bedeutung und bestätigt die vom Bundesarbeitsgericht zur Anwendung betrachten Maßstäbe.
Das Bundesverfassungsgericht bekräftigt das Kriterium der sozialen Mächtigkeit für die Durchsetzbarkeit in Tarifverhandlungen zur Sicherstellung einer sinnvollen Ausgestaltung der vom Gesetzgeber belassenen Freiräume. Mit Blick auf die besondere Verankerung der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetztes ist die Bestätigung der Bestimmung der Tariffähigkeit auf Grundlage einer Gesamtwürdigung zu begrüßen. Sie ermöglicht eine dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich und den sozialen Gegenspielern entsprechende Entscheidungsfindung. Folgerichtig betont das Bundesverfassungsgericht die Tariffähigkeit als Voraussetzung zum Abschluss von Tarifverträgen. Aus der Perspektive der Praxis ist diese Positionierung zur begrüßen, dient das Kriterium der sozialen Mächtigkeit doch der Sicherstellung adäquater Verhandlungspartner. Die Betonung der Tariffähigkeit fördert eine Definition der Verhandlungspartner und schützt die sozialen Gegenspieler vor Tarifverhandlungen mit unbedeutenden Arbeitnehmervereinigungen.
Erforderlichkeit der Übermittlung der Anzahl und Namen von schwerbehinderten Menschen an den Betriebsrat
LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.5.2022 - 12 TaBV 4/21
Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat zur Durchführung seiner gesetzlichen Aufgaben rechtzeitig und umfassend gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG unterrichten. Der Betriebsrat ist gesetzlich dazu verpflichtet, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern gem. § 176 Satz 1 SGB IX. Diese Pflicht und der Umstand, dass die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung geplant war, führten dazu, dass der Arbeitgeber Daten über die im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmer dem Betriebsrat mitzuteilen hatte.
Entscheidungsgründe
Der örtliche Betriebsrat eines Entsorgungsunternehmens mit mehreren Standorten begehrte von der Arbeitgeberin Auskunft über sensible Daten der Beschäftigten. Er forderte Angaben über alle im Unternehmen beschäftigten schwerbehinderten bzw. ihnen gleichgestellten Menschen. Gem. § 163 Abs. 1 SGB IX hat der Arbeitgeber ein Verzeichnis über die schwerbehinderten, ihnen gleichgestellten Menschen zu führen. Der Betriebsrat verlangte eine Kopie ebendieses. Das Verzeichnis enthielt Vor- und Nachnamen, Geburtsdatum, Geschlecht, Art der Beschäftigung und Angaben zur Schwerbehinderung oder zur Gleichstellung bzw. den Grad der Behinderung der betroffenen Arbeitnehmer.
Der Betriebsrat benötigte die Informationen zum einen, um bei der geplanten Wahlversammlung durch den Betriebsrat die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung durchführen zu können nach § 177 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Zum anderen waren die Daten erforderlich für die Eingliederung der schwerbehinderten Menschen in den Betrieb nach § 176 Satz 1 SGB IX. Da nicht alle schwerbehinderten Beschäftigten in die Datenübermittlung einwilligten, lehnte die Arbeitgeberin wegen datenschutzrechtlicher Bedenken die Unterrichtung ab. Das Arbeitsgericht Karlsruhe verpflichtete die Arbeitgeberin hingegen zur Herausgabe der Namen der schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen.
Die von der Arbeitgeberin daraufhin eingelegte Beschwerde hatte vor dem LAG Baden-Württemberg keinen Erfolg. Der Betriebsrat habe einen Auskunftsanspruch bezüglich der Daten aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG. Er müsse zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend unterrichtet werden. Dazu zählten auch solche Umstände, bei denen erst geprüft werden muss, ob der Betriebsrat tätig werden muss. Es sei praxisfremd, erst bei der Wahlversammlung die Schwerbehinderung der Beschäftigten kontrollieren zu lassen. Die Erfüllung der Aufgaben des Betriebsrats sei auch nicht von der Einwilligung der Arbeitnehmer abhängig. Für den Schutz der sensiblen Daten müsse der Betriebsrat angemessene technische und organisatorische Maßnahmen ergreifen i.S.v. § 22 II BDSG. Das Datenschutzkonzept, das er vorlegte, sei dafür ausreichend gewesen. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht (BAG) wurde zugelassen.
Kündigung wegen sexueller Belästigungen erst nach Abmahnung wirksam
LAG Hamm, Urteil vom 23.2.2022 - 10 Sa 492/21
Bei einer Kündigung wegen sexueller Belästigung handelt es sich um eine verhaltensbedingte Kündigung. Zuerst müssen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls alle milderen Reaktionen ausgeschöpft werden. Dazu zählt auch eine einschlägige Abmahnung von Seiten des Arbeitgebers.
Entscheidungsgründe
In dem Kündigungsschutzrechtsstreit musste sich das LAG Hamm mit dem Vorwurf mehrfacher sexueller Belästigung gegen den klagenden, gekündigten Arbeitnehmer befassen. Der Arbeitnehmer war als technischer Leiter bei der beklagten Arbeitgeberin seit 2014 angestellt und bekam eine monatliche Durchschnittsvergütung von EUR 12.000. Drei Mitarbeiterinnen legten ihm zu Last, er habe sich häufig körperlich so nah genähert, dass sie versuchen mussten, auszuweichen. Er habe sie aufgefordert, sich bei Besprechungen in seinem Büro neben ihn zu setzen, um etwas am PC zu zeigen und sie dabei mehrfach am Oberschenkel berührt. Er habe sie bedrängend angestarrt und sie am Arm, an der Schulter oder am Gesäß berührt. Eine der Mitarbeiterinnen habe er gefragt, ob sie sich privat träfen. Auf ihre Ablehnung reagierte er mit Ignoranz und sagte ihr später, dass sie verlogen sei und ihm falsche Versprechungen gemacht habe. Nach der Anhörung des Klägers, der Mitarbeiterinnen und des Betriebsrats kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis im Juni 2020 fristlos (hilfsweise fristgemäß) als Tat- und Verdachtskündigung der sexuellen Belästigung.
In dem Verfahren legte der Arbeitnehmer private WhatsApp-Korrespondenz und E-Mails vor, aus denen sich ergeben sollte, dass das Verhältnis zwischen dem Angestellten und den Mitarbeiterinnen locker, unbeschwert und persönlich sei. Das Arbeitsgericht Bocholt befand die Beweise des Arbeitgebers als nicht ausreichend, da die Pflichtverstöße des Klägers nicht konkret dargelegt worden seien. Es bemängelte außerdem, dass keine Abmahnung zuvor ergangen sei. Im Einzelfall könne zwar die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen sexueller Belästigung ohne vorherige Abmahnung in Betracht kommen. Eine solche Ausnahme läge hier jedoch nicht vor. Insgesamt sei die Kündigung daher sowohl fristlos als auch fristgemäß unverhältnismäßig gewesen. Diese Ansicht bestätigte das LAG Hamm in seiner Entscheidung. Jedoch wies es den Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers ab und löste auf Antrag des Arbeitgebers das Arbeitsverhältnis mit einer Ablösesumme von EUR 80.000 brutto auf. Grund für die Auflösung war die Androhung von Klägerseite, einen Detektivbericht offen zu legen, durch den das vermeintliche Verhältnis des Geschäftsführers mit einer der Mitarbeiterinnen offengelegt würde. Eine weitere Zusammenarbeit sei unter diesen Umständen nicht mehr möglich.
Das LAG Hamm wies in seinem Urteil auf die BAG-Rechtsprechung hin, dass es nicht darauf ankäme, dass die belästigte Person ihre Ablehnung zum Ausdruck bringe. Jedoch sei es abhängig von den Umständen im Einzelfall, ob eine sexuelle Belästigung einen absoluten Kündigungsgrund darstelle.
Auszahlung von Corona-Prämie auch bei längerer Krankheit
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.3.2022 -
Az. 5 Sa 1708/21
Die Corona-Prämie für Pflegekräfte erhält, wer mindestens drei Monate während der Pandemiezeit in einer Pflegeeinrichtung gearbeitet hat gem. § 150a Abs. 1, 4 SGB XI. Der Anspruch besteht auch dann, wenn die erforderliche Arbeitszeit mit häufigen und längeren Unterbrechungen geleistet wurde. Es ist ausreichend, dass mindestens 90 Tage im Bemessungszeitraum gearbeitet wurde.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Auszahlung der Corona-Prämie nach § 150a Abs. 1, 4 SGB XI für das Jahr 2020. Der Anspruch besteht, wenn im Zeitraum vom 1. März 2020 bis einschließlich 31. Oktober 2020 mindestens drei Monate für eine zugelassene Pflegeeinrichtung gearbeitet wurde. Die klagende Pflegekraft war während des Bemessungszeitraumes Arbeitnehmerin in einer zugelassenen Pflegeeinrichtung. Während der acht Monate des relevanten Zeitraums waren ihre Tätigkeitszeiten wegen Krankheit durch mehrere über 14 Tage andauernden Krankheitszeiten unterbrochen gewesen. Insgesamt kam sie jedoch auf 90 Arbeitstage. Die Arbeitgeberin war der Ansicht, dass die Pflegekraft durchgehend drei Monate tätig gewesen sein müsste, um die Corona-Prämie zu erhalten. Sie verweigerte daher die Auszahlung der Sonderleistung. Kurz nachdem die Angestellte Klage beim Arbeitsgericht Berlin einreichte, verstarb sie, wodurch der Rechtsstreit von einem Erben weitergeführt wurde.
Das LAG Berlin-Brandenburg entschied nun, dass die dreimonatige Arbeitsleistung im Bemessungszeitraum nicht zusammenhängend erfolgen müsse. Der Dreimonatszeitraum beginne nicht neu zu laufen, wenn die Pflegende krankheitsbedingt ausfalle. Begründet wurde diese Ansicht mit dem Zweck der Prämie. Sie solle eine Wertschätzung für besondere pandemiebedingte Anforderungen ausdrücken. Dabei sei es unerheblich, ob die erschwerten Arbeitsbedingungen in einem zusammenhängenden oder in mehreren, zeitlich getrennten Beschäftigungszeiträumen anfielen. Ein Monat sei mit 30 Tagen zu rechnen, sodass der Tätigkeitszeitraum insgesamt 90 Tage im Bemessungszeitraum umfassen müsse. In der Summe hatte die Klägerin die notwendigen 90 Tage gearbeitet. Der Anspruch gegenüber der Pflegeeinrichtung bestünde und sei vererbbar, sodass die Pflegeeinrichtung zur Zahlung der Corona-Prämie an den Erben verurteilt wurde. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht hat das Landesarbeitsgericht nicht zugelassen.
Nichterfasste Raucherpausen rechtfertigen die Kündigung
LAG Thüringen, Urteil vom 3.5.2022 - 1 Sa 18/21
Wer sich nicht wie gefordert bei Raucherpausen aus- und einstempelt, begeht Arbeitszeitbetrug. Verstöße gegen die Dokumentationspflicht und häufiger Arbeitszeitbetrug rechtfertigen die ordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung ohne vorherige Abmahnung. Die Arbeitnehmerin war seit über 30 Jahren in einem Jobcenter in Thüringen bzw. bei deren Vorgängern beschäftigt. Zwischen dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit und dem Personalrat wurde eine Dienstvereinbarung zur Flexibilisierung der Arbeitszeit in der Agentur geschlossen. Dort wurde unter anderem festgelegt, dass alle Mitarbeiter ihre Arbeitszeit zu erfassen haben. Die Arbeitszeit sei bei jedem Betreten oder Verlassen der Dienstgebäude zu dokumentieren. Dies gelte ferner für das Erfassen der Pausen (Raucherpausen, Pausen in der Kantine sowie in den Sozialräumen oder am Arbeitsplatz). Die Arbeitnehmerin wurde über die korrekte Buchung der Pausenzeiten ordnungsgemäß belehrt. Dennoch unterließ sie es, ihre Raucherpausen abzustempeln. In dem Kalendermonat Januar wurden bis zu sieben Raucherpausen täglich als Arbeitszeit erfasst. Sie wurde daraufhin im Februar 2019 ohne vorherige Abmahnung gekündigt. Die Arbeitnehmerin war der Ansicht, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei, sie vor Aussprache der Kündigung abzumahnen.
Das Arbeitsgericht und das Landgericht Thüringen sahen dies anders. Ein Arbeitszeitbetrug, wenn ein Mitarbeiter vortäusche, Arbeitszeit für einen Zeitraum erbracht zu haben, obwohl dies nicht der Fall war, stelle eine schwerwiegende Pflichtverletzung dar. Der Hinweis der Klägerin, sie leide an einer Nikotinsucht, habe keinerlei Auswirkungen auf die Klage. Denn, dass sie die Raucherpausen in Anspruch genommen habe, sei ihr nicht vorzuwerfen. Ihr werden jedoch die bewusst falschen Angaben zu ihrer Arbeitszeit und die Verletzung der Pflicht zu einer ordnungsgemäßen Dokumentation zur Last gelegt. Sie führen zu einem erheblichen Vertrauensverlust auf Arbeitgeberseite. Der Vertrauensbruch stelle einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 BGB dar und rechtfertige eine Kündigung ohne Abmahnung. Die Missachtung der Anweisung, Raucherpausen abzustempeln, sei zudem geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu begründen. Die Klägerin hatte zuvor der Beklagten bei der Anhörung versichert, ihr Verhalten in Zukunft umzustellen. Die Zukunftsprognose würde daher ergeben, dass weitere Pflichtverletzungen nicht zu erwarten seien. Nach der Ansicht des LAG beträfen die Pflichtverletzungen jedoch den Vertrauensbereich, die der Arbeitgeber nicht hinnehmen müsse. Auf eine Zukunftsprognose würde es dann nicht ankommen.
Vorlage eines Impfnachweises kann nicht mittels eines Zwangsgeldes durchgesetzt werden
OVG Lüneburg, Beschluss vom 22.6.2022 – 14 ME 258/22
Ungeimpftes Pflegepersonal kann nicht mittels Verordnung eines Zwangsgeldes vom Gesundheitsamt dazu gezwungen werden, innerhalb einer bestimmten Frist den Corona-Impfnachweis zu erbringen. Die einrichtungs- und unternehmensbezogene Impfnachweispflicht begründet gerade keine Verpflichtung, gegenüber den betroffenen Personen eine Corona-Impfung durchzuführen. Die Impfnachweispflicht ermögliche lediglich ein Betretens- oder Tätigkeitsverbot in den betroffenen Bereichen gegenüber ungeimpften Pflegepersonal auszusprechen.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Zwangsgeldanordnung wegen fehlendem Corona-Impfnachweis. Die Antragstellerin ist Arbeitnehmerin in einem Seniorenhaus und nicht gegen das Coronavirus geimpft. Als der Landkreis von ihrem Arbeitgeber erfahren hatte, dass sie nicht gegen das Coronavirus geimpft war, ordnete er ein Zwangsgeld an, wenn sie nicht innerhalb einer Frist von 14 Tagen einen Impfnachweis beim Gesundheitsamt vorlegen würde. Der Nachweis über eine Zweitimpfung sollte innerhalb einer Frist von weiteren 42 Tagen erbracht werden.
Das Verwaltungsgericht Hannover hielt die Zwangsgeldandrohung für unwirksam. Auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg wies die Beschwerde des Landkreises zurück. Durch die Androhung des Zwangsgelds werde nicht nur die Vorlage eines Nachweises verlangt. Die Zwangsgeldandrohung beinhalte vielmehr eine mittelbare Verpflichtung, sich in der vorgegebenen Frist gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Eine solche Pflicht werde gerade nicht durch die einrichtungs- und unternehmensbezogene Impfnachweispflicht gem. § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG begründet. Der Gesetzgeber wolle die Freiwilligkeit der Impfung aufrecht erhalten. Es besteht kein Impfzwang, die Entscheidung obliegt letztendlich den Betroffenen selbst. Die Impfnachweispflicht bietet lediglich die Grundlage dafür, dass die Gesundheitsämter gegenüber den ungeimpften Personal ein sofortiges Zutritts- und Beschäftigungsverbot aussprechen können. Faktisch werden die Beschäftigten vor die Wahl gestellt, einer anderen als der bisherigen Tätigkeit nachzugehen oder sich der Beeinträchtigung durch eine Coronaimpfung zu unterziehen. Zwar sieht die Vorschrift vor, dass die Nichtvorlage des Impfausweises mit einem Bußgeld geahndet werden könne. Das Recht auf die Festsetzung eines Zwangsgeldes würde damit jedoch nicht begründet werden. Der Sinn und Zweck, die besonders vulnerable Personen vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen, würde so erfüllt werden. Der Paragraph wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß befunden. Die Entscheidung des Senats ist nicht anfechtbar.
Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte bei der Lohngestaltung
LAG Köln, Beschluss vom 20.5.2022 - 9 TaBV 19/22
Wenn der Betriebsrat die Einführung einer Anwesenheitsprämie verwehrt hat, darf der Arbeitgeber dazu keine Regelungen treffen. Er kann jedoch die Einigungsstelle anrufen. Ihr Spruch kann die fehlende Zustimmung des Betriebsrats ersetzen.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten über die Einsetzung einer Einigungsstelle zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung über die betriebliche Lohngestaltung. Die Arbeitgeberin betreibt ein Magazin zur Erbringung logistischer Dienstleistungen sowie für die Vormontage und den Zusammenbau von Zulieferteilen für die Automobilbranche mit 158 Arbeitnehmern (FTE). Wegen geplanten Personalabbaus von 49 Vollzeitstellen gab es Sozialplanverhandlungen und Gespräche mit der IG Metall über einen Tarifsozialplan. Zeitgleich kam es zu einem erheblichen Krankenstand seit dem Jahresbeginn 2022. Die damit einhergehende Sorge, ihre Vertragspflichten nicht erfüllen zu können, veranlasste die Arbeitgeberin dazu, eine Anwesenheitsprämie einführen zu wollen. Der Betriebsrat lehnte den Vorschlag ab. Er befürchtete, Arbeitnehmer, die an Streiks zur Erzwingung des Sozialplans teilnehmen, könnten finanziell benachteiligt werden. Ein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz würde vorliegen. Die Anwesenheitsprämie sei eine Streikbruchprämie, da sie Arbeitnehmer durch Zahlung dazu anhalte, nicht an einer Maßnahme des Arbeitskampfes teilzunehmen. Daraufhin erklärte die Arbeitgeberin die Verhandlungen als gescheitert und beantragte beim Arbeitsgericht die Errichtung einer Einigungsstelle nach § 100 ArbGG. Der Betriebsrat war der Auffassung, die Einigungsstelle dürfe nicht darüber entscheiden, ob eine Anwesenheitsprämie eingeführt werde, sondern lediglich über ihre Ausgestaltung.
Das LAG Köln stellte nun fest, dass die Einigungsstelle zu Recht eingesetzt wurde. Sie sei zudem für die Betriebsvereinbarung zur Gewährung einer Anwesenheitsprämie zuständig. Das ergebe sich aus § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG. Das betriebliche Mitbestimmungsrecht umfasse nämlich auch die Lohngestaltung, inbegriffen der freiwilligen Leistungen für Mitarbeiter. Das beträfe die Einführung, die Gestaltung der Prämie und ihr Verhältnis zu anderen Entgeltleistungen des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber dürfe daher nicht ohne die Beteiligung des Betriebsrats eine Regelung treffen. Hingegen dürfe er die Einigungsstelle dazu anrufen. Der Arbeitgeber müsse dem Spruch der Einigungsstelle dann zwar keine Folge leisten, tut er es doch, müsse er ihr hinsichtlich der Ausgestaltung der Leistung der Einigungsstelle Folge leisten.
Verhältnismäßigkeit einer Kündigung bei kleineren Nachlässigkeiten
LAG Sachsen, Urteil vom 7.4.2022 - 9 Sa 250/21
Abmahnungen, die vor einer ordentlichen Kündigung erteilt werden, müssen, genauso wie die Kündigung selbst, der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten. Eine Abmahnung ist aber nicht grundsätzlich deshalb unverhältnismäßig, weil es sich bei dem abgemahnten Verhalten um eine kleinere Nachlässigkeit handelt.
Entscheidungsgründe
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung. Die Arbeitnehmerin war bei der Beklagten als Kreditsachbearbeiterin beschäftigt gewesen. Bei der beklagten Arbeitgeberin bestand die Arbeitsanweisung „Procedure zur Informationssicherheit am Arbeitsplatz und Clean Desk Policy“. Diese sah unter anderem vor, dass schützenswerte oder geheime Informationen nicht von Dritten eingesehen werden dürfen. Dies galt insbesondere dafür, wenn der Arbeitsplatz verlassen wird. Die Arbeitsanweisungen waren der Klägerin auch bekannt. Während ihres Arbeitsverhältnisses kam es zu mehreren Verstößen. Zunächst erhielt sie zwei Ermahnungen dafür, dass sie eine Fallbearbeitung trotz unzureichender Ergebniswerte zurückgegeben hatte. Zudem hatte sie einen von ihr bearbeiteten Auftrag nicht korrekt als bearbeitet gekennzeichnet. Daraufhin wurden ihr Vorgesetzter und andere Kollegen im Team in ihrer Arbeit beeinträchtigt. Als sie sich zwei Monate später nach der ersten Abmahnung nicht ordnungsgemäß vom genutzten IT-System abmeldete, erhielt sie ihre zweite Abmahnung. Es bestand die Gefahr, dass auf Daten unberechtigt zugegriffen werden konnte. Im Anschluss wurden ihr drei weitere Abmahnungen erteilt. Sie ließ ungesichert Dokumente auf dem Schreibtisch liegen und meldete sich nicht ordnungsgemäß vom System ab. Arbeitsaufträge wurden von ihr falsch erfasst, woraufhin sie eine weitere Abmahnung bekam. Während des Umzugs der Beklagten wurde im Büro der Klägerin entdeckt, dass ihr Schreibtisch nicht abgeschlossen war und sensible Kundendaten frei zugänglich waren. Aufgrund dieser Pflichtverletzung kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich. Die von der Klägerin erhobenen Kündigungsschutzklage hatte vor dem Arbeitsgericht Leipzig Erfolg.
In der Revision kippte das LAG Sachsen allerdings das Urteil. In der Summe handele es sich um erhebliche Pflichtverletzungen, die zu Ablaufstörungen bei der Beklagten geführt hätten. Es sei der Beklagten nicht zuzumuten, weitere Abmahnungen auszusprechen, die keine Verbesserungen zeigen würden. Andernfalls könne die Warnfunktion der Abmahnungen verloren gehen. Der Arbeitgeber dürfe bereits bei leichten Pflichtverstößen Abmahnungen aussprechen. Nichtdestotrotz dürfen sie nicht unverhältnismäßig sein.
Achim Braner
Partner
Frankfurt a.M.
achim.braner@luther-lawfirm.com
+49 69 27229 23839
Dr. Eva Maria K. Rütz, LL.M.
Partnerin
Düsseldorf, Köln
eva.ruetz@luther-lawfirm.com
+49 211 5660 27048
Nadine Ceruti
Counsel
Frankfurt a.M.
nadine.ceruti@luther-lawfirm.com
+49 69 27229 24795
Martina Ziffels
Counsel
Hamburg
martina.ziffels@luther-lawfirm.com
+49 40 18067 12189
Cyrielle Therese Ax
Senior Associate
Frankfurt a.M.
cyrielle.ax@luther-lawfirm.com
+49 69 27229 27460
Kevin Brinkmann LL.M.
Senior Associate
Hamburg
kevin.brinkmann@luther-lawfirm.com
+49 40 18067 11184
Dr. Isabel Schäfer
Senior Associate
Hamburg
isabel.schaefer@luther-lawfirm.com
+49 40 18067 14068
Joschka Pietzsch
Katharina Gorontzi, LL.M.