03.04.2025
Die Insolvenzantragspflicht tritt bei haftungsbeschränkten, juristischen Personen nach § 15a Abs. 1 InsO ein, wenn diese zahlungsunfähig i.S.d. § 17 InsO oder überschuldet i.S.d. § 19 InsO sind. Dieser gesetzliche Mechanismus bewirkt, dass nach dem Antrag Sicherungsmaßnahmen nach §§ 21 ff. InsO implementiert werden (sollen), die die spätere Insolvenzmasse schützen. Wird kein Insolvenzantrag gestellt, soll das handelnde bzw. handlungsverpflichtete Organ den daraus resultierenden Masseverlust ersetzen, § 15b InsO. Der Grundsatz, dass z.B. der GmbH-Geschäftsführer nach Eintritt der Insolvenzantragspflicht keine Zahlungen mehr leisten darf, kollidiert grundsätzlich mit seinen Pflichten, Steuern pünktlich zu bezahlen. Die grob fahrlässige Nichtzahlung von Steuern ist nämlich ebenfalls haftungsbewehrt, § 69 AO.
Diese Pflichtenkollision soll § 15b Abs. 8 InsO auflösen, der in den Fällen, in denen das Vertretungsorgan pünktlich einen Insolvenzantrag stellt, die Nichtzahlung von Steuern in der Phase zwischen Eintritt der Insolvenzantragspflicht und Anordnung von Sicherungsmaßnahmen durch das Insolvenzgericht als pflichtgemäß bezeichnet.
Die Lohnsteuer ist die Vorauszahlung auf die Einkommensteuer. Der Arbeitgeber behält sie vom Lohn des Arbeitnehmers ein und führt sie an das Finanzamt ab. Dazu ist er nach § 38 I EStG verpflichtet. Am Ende wird die Lohnsteuer auf die Einkommenssteuer verrechnet.
Nun stellt sich die Frage, ob die vom Gesetzgeber formulierte Privilegierung der Nichtzahlung von Steuern in der Antragsphase das Vertretungsorgan des Steuerschuldners überhaupt absichert. Die vorhandenen Unklarheiten sind für die Vertretungsorgane nämlich empfindlich, da jede Verhaltensvariante hier zu persönlicher Haftung führen könnte
Nach alter Rechtslage (bis 2021) war die Haftung für masseschmälernde Zahlungen in einigen Spezialgesetzen geregelt; wobei der Wortlaut im Wesentlichen identisch war.
Nachdem die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft eingetreten ist oder sich ihre Überschuldung ergeben hat, darf der Vorstand/Geschäftsführer keine Zahlungen leisten. Dies gilt nicht von Zahlungen, die auch nach diesem Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind. (§ 64 GmbHG a.F., § 92 AktG a.F.),
Dem Grunde nach waren alle Zahlungen verboten, die Ausnahme war z.B. in § 64 S. 2 GmbHG a.F. geregelt. Diese Ausnahme wurde derart restriktiv ausgelegt, dass die erlaubten Zahlungen de facto eine Fortführung eines Geschäftsbetriebs unmöglich machten, obgleich es der Zweck der Ausnahme war, die Fortführung des Unternehmens auch im Antragszeitraum zu ermöglichen. Allerdings bestand nach alter Rechtslage ein einheitlicher Haftungsmaßstab. Die rechtzeitige Antragstellung war nicht entscheidend.
Die Pflichtenkollision bestand auch nach alter Rechtslage: die organschaftlichen Vertreter sind verpflichtet, für die juristische Person die Steuern abzuführen und haften für die grob fahrlässige Unterlassung auch persönlich, §§ 34, 69 AO. Im Ergebnis wurde die Pflichtenkollision von der Rechtsprechung aufgelöst, die eine Zahlung von Steuern dann nicht als haftungsbegründend i.S.d. § 64 GmbHG a.F. ansah (z.B. BGH, Urteil vom 14. 5. 2007 - II ZR 48/06 (KG)).
Der Steuerpflicht wurde hiermit der Vorrang vor dem insolvenzrechtlichen Zahlungsverbot eingeräumt – mit der praktischen Folge einer Bevorzugung des Fiskus als sonst ungesichertem Gläubiger.
§ 15b InsO wurde durch das SanInsFoG in die InsO eingefügt, die Organhaftung in den Spezialgesetzen wurde gestrichen. Somit befindet sich jetzt in der InsO eine zentrale Haftungsnorm, was systematisch stimmig ist und auch viele sonstige Missverständnisse ausgeräumt hat.
Der Wortlaut des § 15b I InsO entspricht im Wesentlichen immer noch dem der § 64 GmbHG a.F., § 92 AktG a.F.. Allerdings wurden in den Absätzen 2-8 viele Detailregelungen getroffen, die Ergänzungen enthalten.
In § 15b VIII InsO heißt es (gekürzt):
Eine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten liegt nicht vor, wenn zwischen dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 oder der Überschuldung nach § 19 und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden, sofern die Antragspflichtigen ihren Verpflichtungen nach § 15a nachkommen.
Die Pflichtenkollision wurde in Absatz 8 also neu geregelt. Offensichtlich hat der Gesetzgeber die oben skizzierte BGH Entscheidung und deren Sinn erkannt und wollte eine Kodifikation schaffen (Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz Drucksache 19/25353 Seite 11 f.).
Die Rechtsprechung, dass die Zahlung der Steuern trotz Zahlungsverbot privilegiert sei, dürfte also überholt sein. Nun besteht explizit ein Vorrang des insolvenzrechtlichen Zahlungsverbotes vor den steuerlichen Pflichten – die Privilegierung gilt freilich nur, wenn im Ergebnis rechtzeitig ein Insolvenzantrag gestellt worden ist.
Erstes Problem:
Überraschend ist aber die Formulierung „Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis“.Die Lohnsteuer führt der Arbeitgeber nicht auf eigene, steuerliche Verpflichtungen ab, sondern auf die Steuerpflicht des Arbeitnehmers. Die Finanzverwaltung erzwingt lediglich, dass dieser Teil nicht über den Arbeitnehmer bezahlt, sondern direkt vom Arbeitgeber abgeführt wird. Das Steuerschuldverhältnis kommt mit dem Arbeitnehmer zustande, dieser ist steuerpflichtig.
Daher entsteht bisweilen die Auffassung, dass die Privilegierung des § 15b Abs. 8 InsO die Geschäftsleitungsorgane nicht hinreichend schütze. Diese Auffassung steht aber in Widerspruch zur Absicht des Gesetzgebers, die Nichtzahlung von Steuern im Antragszeitraum zu privilegieren. Ferner entspricht die Formulierung der Privilegierung insoweit auch der Formulierung in § 69 AO, der auch von „Ansprüchen aus dem Steuerverhältnis“ spricht. Sollte sich die Finanzverwaltung also auf den Standpunkt stellen, dass diese Formulierung die Lohnsteuer nicht erfasst, fehlt es ihr bereits an einer Anspruchsgrundlage für die Haftung des Geschäftsleitungsorgans. Insofern ist recht evident, dass die Privilegierung des § 15b Abs. 8 InsO auch für die Lohnsteuer gilt.
Zweites Problem:
Ein weiteres Problem stellt sich aus der Privilegierungsbedingung, dass Insolvenzantragspflicht eingetreten sein muss. Dies kann nämlich – zum Beispiel bei der Beurteilung einer positiven Fortführungsprognose nach § 19 InsO, durchaus unklar sein. Da die Privilegierung auch dann entfällt, wenn die Insolvenzantragsfrist verstrichen ist, muss das Entfallen einer positiven Fortführungsprognose oder der Eintritt der Insolvenzantragspflicht recht exakt datiert werden, um Haftungsrisiken zu vermeiden. Das ist häufig schwierig.
Ein geschicktes Argument für die Finanzverwaltung könnte demnach sein, bei einer Inanspruchnahme eines Geschäftsleitungsorgans nach § 69 AO das Vorliegen von Insolvenzantragsgründen zu bestreiten, sodass der Anspruchsgegner gehalten ist, diese in überzeugender Tiefe darzulegen. Hieraus könnte die Finanzverwaltung wieder Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Insolvenzantragspflicht ggf. schon etwas früher eingetreten sei – mit der gleichen, bedrohlichen Wirkung für das Geschäftsleitungsorgan.
Drittes Problem:
Ein drittes Problem entsteht dadurch, dass bisher einiges dafür spricht, eine Gleichwohlzahlung der fälligen Lohnsteuer als haftungsbegründend nach § 15b Abs. 1 InsO anzusehen. Immerhin enthält § 15b Abs. 8 InsO eine ausdrückliche Privilegierung der Nichtzahlung. Auf eine Pflichtenkollision kann sich das Geschäftsleitungsorgan dann also nicht mehr berufen. Ob eine solche Zahlung gleichwohl noch „sorgfaltsgemäß“ nach Abs. 1 oder wenigstens „ordnungsgemäß“ i.S.d. Abs. 2 wäre, darf bezweifelt werden. Wenn die Antragsfrist verstrichen ist und die Privilegierung nicht (mehr) greift, könnte eine Gleichwohlzahlung infolge der wiederauflebenden Pflichtenkollision wieder zulässig sein, also stellt sich das Problem lediglich „innerhalb“ der Antragsfrist. Allerdings ist die Gleichwohlzahlung dann jedenfalls keine Lösung dafür, Unsicherheiten zu beseitigen, wenn der Zeitpunkt des Eintritts von Insolvenzantragspflicht unklar ist.
Es ist noch wichtiger geworden, den Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzantragspflicht exakt zu bestimmen. Immer wieder bieten sich auch einige Zäsuren in einer Unternehmenskrise als überzeugende „Abrisskante“ an. Hier ist – wie stets – eine genaue Befassung mit der Liquidität des Unternehmens und eine aussagekräftige und weitreichende Liquiditätsplanung unerlässlich, auch wenn dies, gerade in einer Krise, lästige Mehrarbeit bedeutet.
Ebenfalls sollte ein Geschäftsführer – spätestens in der Unternehmenskrise – seine Erwägungen zum Vorliegen von Insolvenzgründen sauber dokumentieren und diese Dokumente jedenfalls fünf Jahre (Verjährungszeitraum des Anspruchs nach § 15b InsO) aufbewahren. Die z.B. für eine positive Fortführungsprognose nach § 19 InsO wesentlichen Details sind in der gebotenen Exaktheit selten über fünf Jahre auswendig abrufbar.
Gunnar Müller-Henneberg
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