10.03.2025

EuGH erleichtert Durchsetzung der Ansprüche von App-Anbietern gegen marktbeherrschende Plattformen auf Herstellung von Interoperabilität von App und Plattform

A. Einleitung und Zusammenfassung

In seinem aktuellen Urteil „Google Android Auto“ vom 25. Februar 2025 (C-233/23 – abrufbar hier) befasst sich der Europäische Gerichtshof („EuGH“) mit den Voraussetzungen der missbräuchlichen Verweigerung der Gewährleistung der Interoperabilität durch digitale Plattformen. Die Weigerung eines marktbeherrschenden Plattformbetreibers, die Interoperabilität dieser Plattform mit der App eines Drittanbieters zu gewährleisten, kann hiernach schon dann einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellen, wenn durch den Zugang zur Plattform die Nutzung der App attraktiver ist. Hiermit weicht der EuGH von den bisher nach dem Bronner-Urteil (C-7/97) geltenden Kriterien für den Zugang zu Infrastruktureinrichtungen ab, wonach der Zugang zu der Einrichtung für den wirtschaftlichen Erfolg des Anspruchsstellers unerlässlich sein musste. Voraussetzung der Abweichung von den Bronner-Kriterien ist aber, dass diese Plattform nicht ausschließlich für die Zwecke der eigenen Tätigkeit geschaffen wurde. Im Ergebnis möchte der EuGH mit der Aufweichung der „Bronner“-Kriterien den Besonderheiten der Funktionsweise digitaler Märkte Rechnung tragen, ohne diese insgesamt aufzugeben:

B. Hintergrund

Ausgangspunkt war ein Verfahren der italienischen Wettbewerbsbehörde („AGCM“). Diese hatte gegenüber Google ein Bußgeld in Höhe von über 102 Mio. Euro auf Grundlage von Art. 102 AEUV verhängt und die Unternehmen verpflichtet, die Interoperabilität von Googles Android Auto mit der „JuicePass“-App des italienischen E-Ladesäulenbetreibers ENEL X zu ermöglichen. Google habe durch sein Verhalten die Verfügbarkeit dieser App missbräuchlich behindert und verzögert.

Seit 2018 war die JuicePass-App für Google Android OS verfügbar, lange Zeit aber nicht mit Googles Android Auto kompatibel. Über Android Auto können Apps direkt über die Infotainment Funktion des Autoscreens selbst genutzt werden. Im Falle der JuicePass-App war das deshalb so relevant, weil diese die Anzeige von und Navigation zu freien E-Ladestationen und damit einhergehenden Service ermöglicht, wie z.B. Buchungen und Zahlungsabwicklungen des Ladevorgangs. Trotz mehrfacher Ersuchen von ENEL X, die Interoperabilität mit Android Auto zu ermöglichen, verweigerte Google einen solchen Zugang zunächst mit verschiedenen Begründungen – u.a. derjenigen, dass die Kompatibilität nur für andere Arten von Apps gewährleistet werde. Das technisch erforderliche Template, um die Interoperabilität herzustellen, wurde erst deutlich später zur Verfügung gestellt.

Google legte gegen die Entscheidung der italienischen Wettbewerbsbehörde Rechtsmittel ein. Das vorlegende Gericht ersuchte den EuGH um Beantwortung verschiedener Fragen zur Auslegung des Art. 102 AEUV im Zusammenhang mit der Verweigerung des Zugangs zu einer Infrastruktur in Form einer Plattform.

C. Die Entscheidung des EuGH

1. Der EuGH entschied, dass ein Missbrauch im Sinne des Art. 102 AEUV bei Verweigerung der Herstellung von Interoperabilität durch einen marktbeherrschenden Plattformbetreiber nicht voraussetze, dass der hierdurch verweigerte Zugang zu der Plattform für die Nutzung der Anwendung in Form der App unerlässlich sei. Ausreichend sei eine Steigerung der Attraktivität der Anwendung dann, wenn die Plattform gerade nicht nur für eigene Zwecke des Plattformbetreibers entwickelt worden sei. In diesem Zusammenhang grenzt der EuGH die Voraussetzungen auch zu seiner bisherigen „Bronner-Rechtsprechung“ ab (EuGH, Urteil vom 26. November 1998, C-7/97 – Bronner, abrufbar hier). Danach lag ein Missbrauch bei der Verweigerung des Zugangs zu einer Infrastruktur eines marktbeherrschenden Unternehmens unter anderem nur dann vor, wenn die Infrastruktur für die Ausübung der Tätigkeit des ersuchenden Unternehmens unerlässlich war. Nach Ansicht des EuGH seien diese strengen Voraussetzungen aber auf den vorgelegten Fall nicht anwendbar. Entscheidend für die Anwendbarkeit des Kriteriums der Unerlässlichkeit sei, ob die Infrastruktur bzw. Plattform ausschließlich für eigene Zwecke des marktbeherrschenden Unternehmens geschaffen wurde. In dem Fall, sei es nämlich wichtig, die Anreize für die Entwicklung solcher Strukturen zur eigenen Nutzung durch restriktive Zugangskriterien zu schützen. Anders sei das, wenn die Infrastruktur mit dem Ziel entwickelt wurde, eine Nutzung der Infrastruktur auch für Dritte zu ermöglichen.  Das sei hier dadurch belegt, dass Google  Android Auto bereits für andere Apps kompatibel bzw. zugänglich gemacht hatte, indem Google die hierfür erforderlichen technischen Templates bereits zur Verfügung gestellt hatte. Dann aber reiche die Steigerung der Attraktivität der Anwendung für den Verbraucher durch die Herstellung der Interoperabilität mit der Plattform für einen Missbrauch im Sinne von Art. 102 AEUV aus.

2. Google hatte sich damit verteidigt, dass Enel X und deren Wettbewerber auch ohne die Interoperabilität erfolgreich am Markt gewesen und ihre Marktanteile zuletzt ausgebaut hätten, weshalb die Verweigerung jedenfalls keine negativen Auswirkungen gehabt haben könne. Dieser Vortrag schließt laut EuGH für sich genommen die Eignung der Weigerung durch Google, negative Effekte im Sinne des Art. 102 AEUV zu erzielen, nicht aus. Denn es komme auf die potenziell schädliche Wirkung des Verhaltens des Marktbeherrschers an, des Nachweises einer tatsächlichen Auswirkung bedürfe es dagegen nicht. Auch könne das Ausbleiben tatsächlicher negativer Effekte eine Vielzahl anderer Gründe haben. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass die behinderten Unternehmen sich noch besser entwickelt hätten. Jedoch könne diese Entwicklung ein im Einzelfall zu prüfendes Indiz sein, dass das Verhalten des marktbeherrschenden Unternehmens schon nicht geeignet war, Verdrängungswirkung zu entfalten.

3. Eine Rechtfertigung der Weigerung, die Interoperabilität zu ermöglichen, kommt nach dem Urteil nur bei schwerwiegenden Gründen in Betracht. Dies können die Gefährdung der Integrität oder Sicherheit der Plattform sein sowie technische Unmöglichkeiten. Die Beweislast treffe das marktbeherrschende Unternehmen. Ansonsten ist ein marktbeherrschender Plattformbetreiber verpflichtet, die Interoperabilität herzustellen, etwa durch die Entwicklung entsprechender Templates. Dazu ist ein angemessener Zeitraum und gegebenenfalls ein angemessener finanzieller Ausgleich zu gewähren. Das marktbeherrschende Unternehmen kann eine etwaige objektive Rechtfertigung entweder durch den Nachweis der objektiven Notwendigkeit des in Rede stehenden Verhaltens belegen oder aber durch die Darlegung von überwiegenden Effizienzvorteilen für die Verbraucher. Keine (dauerhafte) Rechtfertigung ist mit dem Hinweis möglich, die technischen Voraussetzungen, hier die Templates, seien für die Interoperabilität noch nicht entwickelt worden oder die Entwicklung sei schwierig. Letztere Aspekte können aber bei der Bemessung des angemessenen Zeitraums für die Bereitstellung der Interoperabilität und den finanziellen Ausgleich berücksichtigt werden.

D. Fazit

Im Ergebnis versucht der EuGH, der Funktionsweise digitaler Märkte durch eine gewisse Aufweichung der „Bronner“-Kriterien gerecht zu werden, ohne diese insgesamt aufzugeben. Die Entscheidung des EuGH steht im Einklang mit jüngeren Entwicklungen und Trends: Digitale Plattformen werden als Infrastruktur eingeordnet und die Verweigerung der Interoperabilität wird als Zugangsverweigerung bewertet. Dem Versuch von Google, nur die Vorteile aus der Stellung als digitale Plattformbetreiber zu ziehen, hat der EuGH jedenfalls eine klare Absage erteilt: Wer als digitaler Plattformbetreiber seine Strukturen so konzipiert, dass die Plattform für Anwendungen geöffnet wird, um so die Attraktivität der eigenen Plattform zu steigern, kann auf der anderen Seite den Zugang zur Plattform nicht ohne gute Gründe verweigern. „Wasch mir den Pelz aber mach mich nicht nass“ – gilt also gerade nicht. Wenn die Plattform bereits für andere Apps zugänglich gemacht wurde, stellt sich überdies die Frage, ob der Zugangsanspruch nicht auch über das Diskriminierungsverbot erreicht werden kann.

Umgekehrt gilt aber auch für die (anstrebenden) Nutzer der Plattformen, dass die neue Rechtsprechung kein Freifahrtschein sein soll. Die App- Entwickler können zwar verlangen, dass ihnen Zugang gewährt und die Interoperabilität durch technische Leistung ggf. erst hergestellt werden muss (hier durch das Entwickeln und Zurverfügungstellen von bestimmten Templates). Die Plattform kann aber hierfür eine gewisse – angemessene – finanzielle Gegenleistung verlangen. Hier wird abzuwarten sein, welche weitere Konkretisierungen bezüglich der Vorgehensweise und der Angemessenheit von Zeitraum und finanziellem Ausgleich es bei zukünftigen Fällen geben wird. Die Angemessenheit des finanziellen Ausgleichs dürfte vor allem an den tatsächlichen Aufwand anknüpfen, der erforderlich ist, um die Interoperabilität herzustellen. Vor allem die Betreiber von Plattformen, welche nicht nur für die eigene Tätigkeit geschaffen wurden, werden genau darauf achten müssen, welche Gründe bei einer Ablehnung von Zugangs- beziehungsweise Interoperabilitätsersuchen vorgebracht werden und wie zeitnah die Ablehnung erfolgt. Denn schon das Ausbleiben einer Antwort kann nach Ansicht des EuGH ein Indiz dafür sein, dass eine Weigerung nicht objektiv gerechtfertigt war. Entwicklern von Apps wird durch das Urteil hingegen der Rücken gestärkt. Mit der richtigen Argumentation kommen sie zukünftig möglicherweise schneller oder leichter zum Ziel als Enel X mit der JuicePass-App. Wie bei der Lizenzierung von standardessentiellen Patenten könnte sich der Fokus der Diskussion in Zukunft auf die Frage verlagern, was eine angemessene Vergütung ist, die davon abhängt, wie aufwendig es ist, Interoperabilität herzustellen. Dafür dürfte in einem Rechtstreit die Darlegungslast bei der Plattform liegen. Stellt sich nachträglich heraus, dass der Zugang tatsächlich unberechtigt verweigert wurde, kann der App-Entwickler die marktbeherrschende Plattform auch auf Schadenersatz für entgangene Gewinne in Anspruch nehmen.

Autor/in
Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)

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Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition)

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Dr. Jan-Lukas Henkst

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