12.02.2024

Verschärfte Produkthaftung – Vorschlag der Europäischen Kommission für eine neue EU-Produkthaftungsrichtlinie

Hintergrund

Bereits im September 2022 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine neue EU-Produkthaftungsrichtlinie vorgelegt, welche die im Jahre 1985 in Kraft getretene Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG ersetzen soll (Letztere wurde in Deutschland durch das Produkthaftungsgesetz in nationales Recht umgesetzt). Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie soll den zahlreichen Herausforderungen rund um Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI) und Kreislaufwirtschaft gerecht werden und Verbraucherschutz im digitalen Zeitalter gewährleisten.

Weiterhin hat sich im Vergleich zum Jahre 1985 natürlich die Art und Weise, wie Produkte hergestellt, vertrieben und betrieben werden, wesentlich verändert, weshalb die EU-Kommission eine Neuregelung der Haftung für fehlerhafte Produkte als notwendig erachtet. Alle Wirtschaftsakteure müssen beachten, dass Haftungstatbestände ausgedehnt und Beweiserleichterungen zu Gunsten Geschädigter eingeführt werden. Die bedeutsamsten Änderungen stellen wir Ihnen nachfolgend vor.

KI-Systeme, KI-gestützte Waren und Software

Der Entwurf der Richtlinie stellt klar, dass KI-Systeme und KI-gestützte Waren als „Produkte“ gelten, die in den Anwendungsbereich der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie fallen. Wenn eine fehlerhafte KI einen Schaden verursacht, kann der Geschädigte demnach wie bei jedem anderen Produkt eine Entschädigung verlangen, ohne das Verschulden des Herstellers nachweisen zu müssen. Bisher war unklar, ob Software eine „bewegliche Sache“ und somit auch ein „Produkt“ im Sinne der der EU-Produkthaftungsrichtlinie darstellt.

Der Kommissionsentwurf beendet diese Diskussion: Zusätzlich zu beweglichen Sachen, Elektrizität und KI-Systemen greift die EU-Produkthaftungsrichtlinie auch für Software und digitale Produktionsdateien, die fortan ebenfalls als „Produkte“ gelten, selbst wenn sie nicht in verkörperter Form (etwa „embedded“ in einem Produkt) in den Verkehr gebracht werden. Somit kann auch ein Anbieter digitaler Dienste, welche sich auf die Funktionsweise eines Produkts auswirken (beispielsweise Navigationsdienst in einem autonomen Fahrzeug), auf Grundlage der neuen Produkthaftungsrichtlinie haftbar gemacht werden.

Haftung von Bevollmächtigten des Herstellers, Fulfillment-Dienstleistern und Online-Plattformen

Bislang hat die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz Hersteller, Quasi-Hersteller (jeder, der sich durch das Anbringen seines Namens, seiner Marke oder eines anderen unterscheidungskräftigen Kennzeichens als Hersteller ausgibt) und Einführer betroffen (nachrangig auch Lieferanten, wenn der Hersteller nicht ermittelt werden konnte). Der Entwurf sieht nun vor, dass zukünftig auch Bevollmächtigte des Herstellers (in der EU ansässige natürliche oder juristische Personen, die  vom Hersteller schriftlich beauftragt wurden, in seinem Namen bestimmte produktsicherheitsrechtliche Aufgaben wahrzunehmen) und Fulfillment-Dienstleister (Unternehmen, die Auftragsabwicklungsdienste für andere Unternehmen anbieten, z. B. Lagerung, Verpackung, Versand) auf Schadensersatz haften, wenn durch fehlerhafte Produkte Personen- oder Sachschäden verursacht werden.

Ferner sollen auch Betreiber von Online-Plattformen haften, wenn sie in Bezug auf ein fehlerhaftes Produkt die Rolle eines Herstellers, Einführers oder Händlers einnehmen. So soll sichergestellt werden, dass geschädigten Personen auch dann ein durchsetzbarer Entschädigungsanspruch zusteht, wenn der Hersteller seinen Sitz außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) hat. Die genannten Wirtschaftsakteure waren derartigen Produkthaftungsrisiken bisher nicht ausgesetzt, müssen sich fortan jedoch auf eigene Haftungsrisiken gefasst machen. Schließlich können künftig Wirtschaftsakteure als Hersteller gelten und wie Hersteller haften, wenn sie ein Produkt außerhalb der Kontrolle des ursprünglichen Herstellers „wesentlich verändert“ haben. Als wesentliche Veränderungen sind solche Veränderungen zu verstehen, die entweder ein neues Risiko schaffen oder ein bereits bestehendes Risiko erhöhen.

Erweiterung des Begriffs der Fehlerhaftigkeit und des Schadens

Ein Produkt gilt schon bislang als fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die die breite Öffentlichkeit erwarten darf. Ein Kriterienkatalog gibt dabei darüber Auskunft, auf welche Umstände sich die Sicherheitserwartungen der Öffentlichkeit berechtigterweise beziehen können. Dieser Katalog wird nunmehr erweitert. Zu den maßgeblichen Kriterien zählen etwa die Aufmachung des Produkts und seine vernünftigerweise vorhersehbare Nutzung. Doch auch produktsicherheitsrechtliche Anforderungen und sicherheitsrelevante Cybersicherheitsanforderungen sollen hier berücksichtigt werden. Des Weiteren kommen Produktrückrufe eines Herstellers als Indiz für die Fehlerhaftigkeit des Produkts in Betracht. Außerdem ist vorgesehen, dass selbst ein an sich fehlerfreies Produkt als fehlerhaft im produkthaftungsrechtlichen Sinne anzusehen ist, wenn das Produkt beim Zusammenwirken mit dem Produkt eines anderen Herstellers eine Gefahr darstellen kann.

Es bleibt dabei, dass zur Bestimmung der Fehlerhaftigkeit eines Produkts darauf abzustellen ist, welchen Sicherheitsstandard die Allgemeinheit hinsichtlich des Produkts erwarten darf. Besonders hohe Erwartungen darf die Allgemeinheit etwa in Bezug auf lebenserhaltende Medizinprodukte haben. Selbst wenn es im Bereich der Medizinprodukte nicht gelingen sollte, einen konkreten Fehler des Produkts nachzuweisen, kann dieses Medizinprodukt als fehlerhaft gelten – und zwar dann, wenn es derselben Produktionsserie entstammt, aus der erwiesenermaßen bereits ein fehlerhaftes Produkt hervorgegangen ist. Der Entwurf beinhaltet überdies eine Erweiterung des Schadensbergriffs: Der Verlust und die Verfälschung von Daten, die nicht ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden, gelten ebenfalls als Schaden.

Pflicht zur Herausgabe von Beweismitteln

Neu und in seiner Relevanz nicht zu unterschätzen ist, dass Unternehmen zukünftig gerichtlich verpflichtet werden können, Beweismittel, die sich in ihrem Besitz befinden, offenzulegen und herauszugeben. Dieses als „disclosure of documents“ im angloamerikanischen Rechtsraum gängige Prozedere ist dem deutschen Verfahrensrecht grundsätzlich fremd.

Hintergrund dieser Regelung ist die oft beklagte Beweisnot der durch das Produkt geschädigten Person dafür, die Fehlerhaftigkeit des Produkts und die Ursächlichkeit der Fehlerhaftigkeit für den erlittenen Schaden nachzuweisen. Dies soll insbesondere mit Blick auf den technischen und wissenschaftlichen Informationsvorsprung des Herstellers gelten. Der geschädigten Person fehlen oftmals diese Informationen bzw. sie kann die Zusammenhänge nicht nachvollziehen. Deswegen soll Geschädigten der Zugang zu Beweismitteln (z. B. Konstruktionsunterlagen), die im Gerichtsverfahren verwendet werden sollen, erleichtert werden.

Kommt das Unternehmen dieser Pflicht zur Offenlegung und Herausgabe von Beweismitteln nicht nach, wird das Gericht die Fehlerhaftigkeit des Produkts zugrunde legen. Die Gerichte sollen dabei freilich die Vertraulichkeit von Geschäftsgeheimnissen bestmöglich berücksichtigen. Wie die Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln in den EU-Mitgliedstaaten im Detail in das nationale Recht umgesetzt wird, bleibt einstweilen noch abzuwarten.

Abschaffung von Selbstbehalt und Haftungshöchstgrenze

Ferner sieht der Entwurf der neuen Produkthaftungslinie vor, den Selbstbehalt für Geschädigte in Höhe von EUR 500 bei Sachschäden sowie die Haftungshöchstgrenze (das deutsche Produkthaftungsgesetz sieht aktuell einen Haftungshöchstbetrag für Personenschäden von EUR 85 Mio vor) ersatzlos zu streichen. Diese Änderungen dürften für Unternehmen zu einer Erhöhung ihrer Versicherungsprämien führen.

Ausblick

Eine grundsätzliche Einigung über die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie haben der Europäische Rat und das Europäische Parlament bereits erzielt. Nach Inkrafttreten der Richtlinie werden die Mitgliedsstaaten voraussichtlich 24 Monate Zeit haben, die Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht – als etwa durch Anpassung des deutschen Produkthaftungsgesetzes – umzusetzen.

Fazit

Der Vorschlag für eine neue EU-Produkthaftungsrichtlinie hat für die betroffenen Wirtschaftsakteure keine Entlastungen, sondern ein weiter verschärftes Produkthaftungsregime zur Folge. Betroffene Unternehmen werden sich auf eine Erhöhung ihrer produkthaftungsrechtlichen Risiken einstellen und ihr Risikomanagement entsprechend anpassen müssen.

Fulfillment-Dienstleister, Technologieunternehmen und Online-Plattformen, die bisher keinem Haftungsrisiko nach dem Produkthaftungsgesetz ausgesetzt waren, sollten prüfen, welche Haftungsrisiken die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie für die konkret vertriebenen Produkte nach sich ziehen kann.

Autor/in
Volker Steimle

Volker Steimle
Partner
Köln
volker.steimle@luther-lawfirm.com
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Guido Dornieden

Guido Dornieden
Counsel
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