21.04.2023
In der 4. Ausgabe 2022 unseres Newsletters Arbeitsrecht berichteten wir unter anderem von den Geschenken, die „das BAG kurz vor dem Weihnachtsfest brachte“. Kurz nach dem Osterfest veröffentlichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nun den Referentenentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes und anderer Vorschriften (im Folgenden: „RefE-ArbZG“). Sicher ist: Ein Ostergeschenk für die Gewerkschaften ist der Entwurf allemal. Welche Neuerungen der Referentenentwurf mit sich bringt, ob und inwiefern für Unternehmen jetzt schon Handlungsbedarf besteht, stellen wir im Folgenden vor.
Ein Referentenentwurf wie dieser stammt aus dem Fachministerium, ist also noch nicht im Kabinett abgestimmt, geschweige denn ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Es bleibt also abzuwarten, mit welchem Inhalt der Entwurf am Ende tatsächlich beschlossen wird.
Der RefE-ArbZG regelt die Pflicht des Arbeitgebers, Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit zu erfassen. Nahezu gleiche Bestimmungen will der RefE-ArbZG sowohl in das Arbeitszeitgesetz als auch in das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) einfügen. Neben einer Regelung zur Arbeitszeiterfassung bei Vertrauensarbeitszeit, einem Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers sowie Aufbewahrungspflichten des Arbeitgebers enthält der RefE-ArbZG auch eine Tariföffnungsklausel, die weitere Ausnahmen von der Arbeitszeiterfassung durch die Tarifparteien zulässt. Schließlich werden Übergangsvorschriften normiert und Unternehmen mit bis zu 10 Arbeitnehmern von der Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung ausgenommen.
Verstöße gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung sind nach § 22 Abs. 1 Nr. 9 und 10 RefE-ArbZG bußgeldbewehrt.
Die allgemeine Regelung soll den bisher die Zeiterfassung der über acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeit regelnden § 16 Abs. 2 ArbZG ersetzen, die Regelung für Jugendliche soll zu einem neuen § 49a JArbSchG werden. Das BAG hatte in seiner Entscheidung vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) die umfassende Pflicht zur Zeiterfassung allerdings in § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) gefunden. In dem Referentenentwurf wird die Fundstelle zwar zitiert. Über das Verhältnis der beiden Bestimmungen zueinander besagt der Entwurf allerdings nichts. Es liegt keineswegs auf der Hand, dass § 3 Abs.2 Nr. 1 ArbSchG nunmehr um die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung entleert wird. Dazu noch später.
1. Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung
Nach § 16 Abs. 2 Satz 1 RefE-ArbZG ist der Arbeitgeber verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Die Arbeitszeit ist jeweils am Tag der Arbeitsleistung in elektronischer Form aufzuzeichnen. Sie soll durch den Arbeitnehmer oder einen Dritten (z. B. bei externen Einsätzen etwa im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung) aufgezeichnet werden können (§ 16 Abs. 3 RefE-ArbZG). Die Delegation ändert allerdings nichts an der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für die Zeiterfassung.
2. Vertrauensarbeitszeit
Vertrauensarbeitszeit wird genau genommen gleich in zwei Normen geregelt:
Der Arbeitgeber kann nach § 16 Abs. 4 RefE-ArbZG auf die Kontrolle der vom Arbeitnehmer aufgezeichneten Arbeitszeit verzichten. Der Arbeitgeber muss jedoch weiterhin sicherstellen, dass er über Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten informiert wird – also doch kein vollständiger Verzicht auf Kontrolle. Die Verfasser des Entwurfs stellen sich vor, dass eine solche Warnung mühelos als Teil der elektronischen Zeiterfassung zu programmieren ist. Die Softwarehersteller werden helfen können. Preis und Aufwand sind offen.
Mancher Arbeitgeber wird ein solches System nicht mehr als Vertrauensarbeitszeit verstehen. Dem Referentenentwurf ist allerdings zuzugestehen, dass auch schon bisher weder das Gesetz noch das BAG einen Verzicht auf die Aufzeichnung der (bisher: acht Stunden täglich überschreitenden) Arbeitszeit gestatteten.
In einem zweiten Schritt ist für manche Arbeitnehmer doch echte Vertrauensarbeitszeit nach wie vor möglich: In Umsetzung einer Tariföffnungsklausel. Dazu sogleich.
3. Auskunftsanspruch des Arbeitnehmers und Aufbewahrungspflichten des Arbeitgebers
Auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber gemäß § 16 Abs. 5 RefE-ArbZG über die aufgezeichnete Arbeitszeit zu informieren. Er hat dem Arbeitnehmer auf Verlangen eine Kopie der Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Dies bringt im Lichte des Art. 15 DSGVO und dessen Interpretation durch den EuGH keine Neuerung.
Jeder Arbeitgeber soll verpflichtet werden, die Aufzeichnungen für die Dauer der gesamten Werk- oder Dienstleistung in deutscher Sprache bereitzuhalten. Höchstgrenze soll jedoch zwei Jahre sein (§ 16 Abs. 6 RefE-ArbZG).
4. Tariföffnungsklausel
§ 16 Abs. 7 RefE-ArbZG enthält eine Öffnungsklausel. Danach kann in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zugelassen werden, dass
5. Übergangsvorschriften
§ 16 Abs. 8 RefE-ArbZG regelt die Übergangsvorschriften. Arbeitgeber mit mindestens 250 Arbeitnehmern dürfen bis zum Ablauf von einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes die Arbeitszeit in nicht-elektronischer Form erfassen. Arbeitgeber mit weniger als 250 Arbeitnehmern dürfen dies bis zum Ablauf von zwei Jahren, Arbeitnehmer mit weniger als 50 Arbeitnehmern bis zum Ablauf von 5 Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes. Wie oben erwähnt bleibt die Erfassung auf elektronischem Wege für Arbeitgeber mit bis zu 10 Arbeitnehmern dauerhaft freiwillig. Es kommt auf die Unternehmensgröße an, nicht die Betriebsgröße. Dabei zählen Köpfe, also Teilzeitkräfte genauso voll wie Vollzeitmitarbeiter.
Der RefE-ArbZG regelt richtigerweise die vom BAG aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG hergeleitete Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz. Verglichen zur bisherigen Rechtslage nach dem Beschluss des BAG vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) enthält der RefE-ArbZG relevante Neuerungen nur hinsichtlich Form und Zeitpunkt der Arbeitszeiterfassung:
1. Zeitpunkt und Form der Arbeitszeiterfassung
Bisher wurde überwiegend vertreten, dass eine Arbeitszeiterfassung innerhalb von sieben Kalendertagen nach Erbringung der Arbeitsleistung, den Anforderungen an das Arbeitsschutzgesetz gerecht wird. Der neue RefE-ArbZG setzt mit der Erfassung noch am selben Tag deutlich strengere – und auch im Lichte des Europarechts nicht erforderliche – Maßstäbe. Die tägliche Erfassung zu verlangen ist zudem weder nach der Rechtsprechung des EuGH noch des BAG erforderlich. Soll der Arbeitszeitschutz indes minutiös genau umgesetzt werden, wird im Regelfall nur die tägliche Erfassung der Arbeitszeit zu präzisen Ergebnissen führen.
Außerdem verlangt der RefE-ArbZG, mit Ausnahme von Unternehmen mit bis zu 10 Arbeitnehmern, eine elektronische Erfassung der Arbeitszeit. Welche Anforderungen an die elektronische Erfassung zu stellen sind, lässt der Entwurf offen. Genügt also schon ein elektronischer Notizblock? Genügt ein Excel-Chart? Möglich erscheint, dass durch die Neuregelung nur handschriftliche Aufzeichnungen unzulässig sind. Die Rechtsprechung des EuGH würde aber auch strengere Deutungen tragen: Laut EuGH soll ein nicht ohne Weiteres manipulierbares System eingerichtet werden. Das spricht dafür, dass eine (elektronische) Excel-Tabelle der verlangten elektronischen Zeiterfassung nicht gerecht werden wird. Dies würde ein System verlangen, das den Beginn, das Ende, Unterbrechungen und die Dauer der Arbeitszeit an Ereignissen anknüpfend vollautomatisch erfasst. Allerdings ist nicht ersichtlich, weshalb etwa die Zeiten einer Dienstreise oder falsche Zeiterfassungen nicht korrigiert werden dürfen, sondern objektiv falsch Arbeitszeiten dokumentiert bleiben müssen. Auch wird kaum erklärbar sein, weshalb die Tarifparteien Dispens von einer automatischen Erfassung gewähren und die händische Aufzeichnung in Papierform gestatten dürfen. Viel spricht also dafür, dass auch einfache elektronische Zeiterfassung etwa auf Excel-Charts möglich ist, wenn die weiteren Anforderungen – wie etwa die Warnung des Arbeitgebers bei Überschreitungen – sichergestellt werden kann.
2. Tariföffnungsklausel
Neu im Vergleich zur bisherigen Rechtslage ist auch die unter § 17 Abs. 7 RefE-ArbZG geregelte Öffnungsklausel. Das eröffnet zwar den Tarifparteien gewisse Verhandlungsspielräume. Erfahrungsgemäß schaffen die Gewerkschaften Spielräume für die Arbeitgeber aber nicht zum Nulltarif. Im Übrigen dürfte sowohl die Befreiung von der Aufzeichnungspflicht in elektronischer Form als auch der Verzicht auf die tägliche Aufzeichnung überwiegend keine Branchenfrage sein, sondern von der Unternehmensgröße abhängen. Die Übertragung der Befreiungen auf die Tarifparteien erscheint daher keine zwingend infolge größerer Sachnähe erforderliche Lösung zu sein. Was Vertrauensarbeitszeit betrifft, so haben nach wie vor einzelne Gewerkschaften ideologische Vorbehalte (sog. „Selbstausbeutung“). Ihnen einen Dispens zu übertragen erscheint sinnfrei und verantwortungslos.
Wenn aber das BMA selbst die Verantwortung nicht tragen und die Optionen selbst regeln will, so geht greift die Tariföffnung viel zu kurz: Was ist mit nicht tarifgebundenen Arbeitgebern, was ist mit Arbeitgebern, in deren Branche nicht oder nicht üblicherweise (Flächen-)Tarifverträge geschlossen werden? Das bisherige ArbZG gestattet insbesondere in § 7 Absätze 3 bis 6 und § 12 die Abweichung von materiellen Regelungen durch die Betriebsparteien und mangels Betriebsrat durch die Arbeitsvertragsparteien, in Bereichen ohne Tarifvertrag durch aufsichtsbehördliche Genehmigung. Es ist kein Grund außer unsorgfältiger Arbeit des BMA ersichtlich, weshalb Ausnahmen der Arbeitszeiterfassung ausschließlich tarifgebundenen Arbeitgebern eröffnet werden sollen.
3. Was gilt für leitende Angestellte?
Das Arbeitszeitgesetz soll nach wie vor nicht für leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG gelten. Also wird für diese Arbeitnehmergruppe auch die neue Aufzeichnungspflicht nicht gelten. Das wirft allerdings die Frage nach der vom BAG gefundenen Aufzeichnungspflicht aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG auf.
Der Referentenentwurf verzichtet auf eine Aussage. Insbesondere verzichtet er auf eine positive Regelung, dass § 3 ArbSchG fortan nicht mehr für Arbeitsschutz gelten soll. Konsequent gedacht dürfte § 16 ArbZG künftig als die Sonderregelung für diejenigen Arbeitnehmer zu betrachten sein, die unter den Geltungsbereich des ArbZG fallen. Für alle Arbeitnehmer, die § 18 ArbZG aus dem Anwendungsbereich herausnimmt, die aber unter den Anwendungsbereich des ArbSchG fallen, dürfte § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG als generellere Regelung weiterhin ebenfalls die volle Erfassung der Arbeitszeit verlangen. Das gilt insbesondere auch für leitende Angestellte. Der Vorteil für die Arbeitgeber wäre immerhin, dass für leitende Angestellte eine elektronische Aufzeichnung nicht Pflicht würde und dass Verstöße „nur“ gegen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG nicht bußgeldbewehrt sind.
4. Keine Ausnahme für Marginalfälle
Der Referentenentwurf sieht keine Ausnahmen der Aufzeichnungspflicht für Marginalfälle vor. Arbeitszeiten, die nach Feierabend für eine schnelle Lektüre einer E-Mail, ein kurzes Telefonat oder einen dienstlichen Chat anfallen, müssen also auch dokumentiert werden. Insofern verhilft der Gesetzentwurf nicht im Ansatz zu Erleichterungen für die seit vielen Jahren kritisch geführte Diskussion, ob solche Tätigkeiten unter die geschützte Arbeitszeit fallen.
5. Bereitschaftszeiten?
Die arbeitszeitliche Bewertung von Bereitschaftszeiten ist und war ohnehin im Wandel. Der EuGH betrachtet unter bestimmten Voraussetzungen selbst Rufbereitschaft als Arbeitszeit. Der Gesetzentwurf hält nicht im Ansatz Lösungen für die Erfassung solcher Zeiten bereit. Soweit Bereitschaftszeiten eine geringere Belastung als „normale“ Arbeit zugemessen wird und da auch das geltende Arbeitszeitgesetz Ausnahmeregelungen für Bereitschaftszeiten vorsieht, kann nicht unterschiedslos jede dieser Formen von Arbeit erfasst werden. Sonst wäre die Nachweis- und Kontrollfunktion der Zeiterfassung kaum den Aufwand wert, den der Referentenentwurf von den Arbeitgebern abfordern will.
6. Bezahlung der erfassten Arbeitszeit?
Hinsichtlich der Bezahlung der Arbeitszeit dürfte sich unmittelbar am wenigsten ändern. Arbeitszeitrechtlicher Arbeitsschutz und die Vergütungspflicht von Arbeit bleiben zwei Paar Schuhe. Das gilt auch für Überstunden. Im Sinne des Arbeitsschutzes wird es auch nach wie vor darauf ankommen, wie lange der Arbeitnehmer arbeitet. Ob die Arbeitsleistung vom Arbeitgeber angeordnet oder zumindest geduldet wurde, dürfte eine schuldrechtliche Frage bleiben.
Durch die unter 16 Abs. 8 RefE-ArbZG geregelten Übergangsvorschriften wird für Unternehmen eine kurze Schonfrist hinsichtlich der Zeiterfassung in elektronischer Form geschaffen. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes dürften zudem noch Wochen oder Monate vergehen, schließlich naht auch die parlamentarische Sommerpause mit Riesenschritten. Allerdings scheint es nicht sehr wahrscheinlich, dass das Gesetzgebungsverfahren noch zu wesentlichen Änderungen des Gesetzentwurfes führen wird. Daher sind Arbeitgeber gut beraten, allmählich eine den zu erwartenden Regelungen entsprechende Zeiterfassung im Unternehmen auf den Weg zu bringen, soweit nicht ohnehin schon die Arbeitszeit in hinreichendem Maße elektronisch erfasst wird.
Begrüßenswert ist, dass das Bundesarbeitsministerium mit dem RefE-ArbZG versucht, die seit Jahren anhaltende Debatte zur Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zu beenden und Rechtssicherheit zu schaffen. Mit dem aktuellen Entwurf ist eine vollständige Beendigung der Diskussionen jedoch nicht in Sicht. Einige Unsicherheiten werden bestehen bleiben. Ausnahmeregelungen zu nur geringfügigen Tätigkeiten während der Ruhezeiten werden weiterhin nicht geschaffen. Auf der anderen Seite wird die Frist zur Erfassung der Arbeitszeit für den Regelfall sehr kurz bemessen. Kurz gesagt: Es bleibt zu hoffen, dass der derzeitige Gesetzesentwurf zumindest in Teilen ein verspäteter Aprilscherz bleibt und auf dem Weg zum fertigen Gesetz noch Änderungen vorgenommen werden, um die neuen Regelungen praxisgerechter zu gestalten. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
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