26.09.2022
Die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verursachten Schäden summieren sich bereits jetzt nach mehreren Schätzungen auf mehrere 100 Milliarden bis zu einer Billion Dollar. An vorderster Stelle stehen Schäden an der Infrastruktur des Landes sowie ganze Stadtteile, die schlicht komplett verwüstet wurden. Aber auch ausländische Unternehmen sind betroffen. Sie erleiden direkte Kriegsschäden, z.B. durch die Beschädigung oder Zerstörung von Produktionsstätten oder Plünderung durch russische Truppen. Ebenso kann der Krieg indirekte Schäden verursachen: Mitarbeiter im Unternehmen müssen fliehen oder werden vertrieben, die Produktion muss vorsorglich eingestellt werden oder ganze Märkte brechen zusammen.
Dieser Blogbeitrag zeigt Wege für Unternehmen auf, von Russland Entschädigung zu verlangen. Insbesondere zeigen wir, welche Anspruchsgrundlagen in Betracht kommen, ob, wo und wie diese Ansprüche eingeklagt werden können und wie etwaige Entscheidungen vollstreckt werden können. Relevant sind diese Erwägungen nicht nur, um nach der Situation de lege lata eine Entschädigung zu erringen. Auch die Feststellung eines Entschädigungsanspruchs als solche kann im weiteren Verlauf des Krieges – insbesondere, wenn nach seinem Ende eine unabhängige Claims Commission eingesetzt werden sollte – einen strategischen Wert haben. Bestrebungen zu deren Errichtung laufen bereits.
Als Anspruchsgrundlage kommt zunächst das humanitäre Völkerrecht in Betracht. Als im bewaffneten Konflikt anwendbares Rechtsregime verbietet es unterschiedslose und unverhältnismäßige Angriffe auf die Zivilbevölkerung, einschließlich ziviler Objekte wie Produktionsstätten und private Infrastrukturanlagen. Auch untersagt das humanitäre Völkerrecht Plünderungen (Art. 33 Abs. 2 des IV. Genfer Abkommens). Daneben verpflichtet es eine Besatzungsmacht in bereits eingenommenen Gebieten zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung (Art. 43 der Haager Landkriegsordnung) und im Speziellen keine privaten Eigentumswerte zu zerstören, wo dies nicht zu militärischen Operationen unerlässlich ist (Art. 53 des IV. Genfer Abkommens).
Wenngleich das humanitäre Völkerrecht dem Einzelnen damit vielfältigen Schutz in Kriegszeiten zugesteht, bietet es ihm keine Möglichkeit zur Durchsetzung dieser Rechte. Verletzungen des humanitären Völkerrechts können nicht vor nationalen Gerichten gerügt werden, da ausländische Staaten grundsätzlich Immunität genießen (inwieweit das auch für Russland in ukrainischen Gerichten gilt, bleibt abzuwarten). Es gibt auch kein spezialisiertes internationales Gericht, bei dem einzelne Verletzungen des humanitären Völkerrechts rügen können.
Eine weitere mögliche Anspruchsgrundlage sind Investitionsschutzabkommen. Diese – wie beispielsweise der zwischen Deutschland und Russland anwendbare Investitionsschutzvertrag – gewähren ausländischen Investoren nicht nur einen materiellen Mindestschutz gegen Enteignungen, unbillige und ungerechte Behandlung und Diskriminierung. Sie gestehen ihnen auch auf prozessualer Ebene das Recht zu, den Gaststaat der Investition – also bspw. Russland – im Falle einer Vertragsverletzung direkt vor einem internationalen Schiedsgericht zu verklagen. Ein so ergangener Schiedsspruch ist in über 160 Staaten weltweit nach internationalen Abkommen, im Falle Russlands nach dem New Yorker Übereinkommen von 1958, vollstreckbar.
Eine Hürde für Verfahren gegen Russland stellt allerdings der territoriale Anwendungsbereich von Investitionsschutzverträgen dar. Grundsätzlich binden diese die Parteien nämlich nur hinsichtlich Investitionen „in ihrem Gebiet“ (s. bspw. Art. 2 Abs. 1 des deutsch-russischen Investitionsschutzvertrags). Bzgl. der annektierten Krim nahmen bereits diverse Schiedsgerichte ihre Zuständigkeit für Klagen gegen Russland an. Diese Rechtsprechungslinie, die die faktische russische Kontrolle über die Krim zur Anwendbarkeit eines Investitionsschutzvertrags genügen lässt, wurde mittlerweile in durch Russland gegen die Schiedssprüche angestrengten gerichtlichen Aufhebungsverfahren bestätigt (sowohl durch das Schweizerische Bundesgericht wie auch jüngst in drei Fällen in den Niederlanden; hier, hier und hier). Sie dürfte sich auch auf Konstellationen von durch Russland nun im Süden und Südosten der Ukraine besetzte Gebiete erstrecken lassen. Hinsichtlich umkämpfter Gebiete – die Russland weder besetzt noch kontrolliert – und auch russischem Artilleriebeschuss auf ukrainisches Territorium dürfte eine Berufung auf den Investitionsschutzvertrag aber ausscheiden.
Der deutsch-russische Investitionsschutzvertrag bringt allerdings noch eine weitere Einschränkung mit sich. Anders als bei den meisten deutschen Verträgen ist seine Schiedsklausel auf Streitigkeiten mit Bezug zum freien (Bank-)Transfer von Kapital sowie über die Entschädigungshöhe und das Verfahren bei Enteignungen beschränkt. Dass zumindest Schiedsklagen wegen Enteignungssachverhalten uneingeschränkt nach Art. 10 Abs. 2 möglich sind, machte ein prominentes Schiedsverfahren auf Basis des Vertrags deutlich. Der Schiedsspruch in Sedelmayer gg. Russland zeigt, dass die Schiedsklausel auch die Feststellung einer entschädigungsfähigen Enteignung als solcher ermöglicht.
In der Summe kann das internationale Investitionsschutzrecht daher solchen Klägern eine Stütze sein, die in russisch besetzten Gebieten enteignet wurden (ob rechtlich oder de facto ist unerheblich).
Der deutsch-ukrainische Investitionsschutzvertrag schützt nur gegen Handlungen der Ukraine und dürfte daher weitestgehend irrelevant sein. Wichtig ist aber, dass sein Art. 4 Abs. 3 eine sogenannte erweiterte Kriegsklausel enthält. Nach dieser muss die Ukraine deutschen Investoren einen vergleichbaren Entschädigungsstandard zugute kommen lassen wie ukrainischen Investoren, sollte nach Kriegsende von ukrainischer Seite aus Entschädigungszahlungen geleistet werden. Daher sollten Unternehmen möglichst jetzt zeitnah Schäden gerichtsfest dokumentieren, um dann zu einem späteren Zeitpunkt etwaige Ansprüche anmelden zu können.
Vor diesem Hintergrund lohnt sich auch der Blick auf die Möglichkeit einer Klage gegen Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Art. 1 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) schütz auch privates Eigentum. Trotz des Ausschlusses Russlands aus dem Europarat mit Wirkung zum 16. März 2022 sieht sich der EGMR weiterhin als zuständig an, über EMRK-Verstöße Russlands zu richten. Dies gilt jedoch nur für solche Verstöße, die Russland bis zum 16. September 2022 begangen hat. Denn zu diesem Zeitpunkt lief die Bindung Russlands an die EMRK nach Auffassung des EGMR aus.
Grundsätzlich muss ein Kläger, bevor er sich an den EGMR wendet, innerstaatliche Rechtsbehelfe erschöpfen. Aufgrund der aktuellen Gerichtspraxis in Russland scheinen diese jedoch wenig erfolgsversprechend. Insoweit sollte der EGMR direkt, ohne Umweg über die russischen Gerichte, zur Geltendmachung von Kriegsschäden angerufen werden können. Die Klagefrist, die im Normalfall an das letztinstanzliche nationale Urteil ansetzt, beträgt in dieser Konstellation vier Monate nach Abschluss der jeweils schädigenden Handlung, z.B. der Zerstörung eines Industriebetriebs oder der Blockade von Wirtschaftsgütern. Der Countdown für Klagen gegen Russland läuft also.
Auch hinsichtlich der EMRK stellt sich die Frage der territorialen Anwendbarkeit. Zwar bestimmt Art. 1 EMRK hierfür die Ausübung von Hoheitsgewalt als Anknüpfungspunkt. Die Hürde ist also niedriger als nach Investitionsschutzverträgen. Nach bisheriger Rechtsprechung des EGMR setzt die Geltendmachung von Schäden gegenüber einem Aggressorstaat allerdings auch seine „effektive Kontrolle“ über fremde Gebiete voraus, wie sie etwa in einer Besatzungssituation besteht. Schäden, die während eines Gefechtes entstehen, fallen nach stark kritisierter Rechtsprechung des EGMR hingegen nicht in den territorialen Anwendungsbereich der EMRK. Es ist durchaus möglich, dass der Gerichtshof diese Rechtsprechung in Bezug auf den russischen Angriffskrieg jedoch ändern wird.
Handelt es sich um einen Schaden, der in den Anwendungsbereich der EMRK fällt und Russland zugerechnet werden kann, kann der Kläger für die Zerstörung und Beeinträchtigung seines Eigentumsrecht beim EGMR eine gerechte Entschädigung beantragen. Zur Substantiierung der Klage empfiehlt es sich auch hier, so früh wie möglich, sämtliche Informationen zum Zeitpunkt des Schadeneintritts, der Art des Schadens und der Art der Aggression/Besatzungslage zu sammeln und diese langfristig zu sichern.
Ob und in welchem Forum Geschädigte derzeit gegen Russland wegen der Folgen seines Angriffskriegs in der Ukraine vorgehen können, ist sehr situationsabhängig und im Einzelfall zu prüfen. Wenn auch derzeit nicht damit zu rechnen ist, dass Russland Urteilen des EGMR oder Schiedssprüchen Folge leisten wird, ist deren (auch strategische) Bedeutung nicht zu unterschätzen: Wird tatsächlich eine Claims Commission eingerichtet, leistet die Ukraine Zahlungen an eigene Bürger wegen Kriegsschäden oder Russland unter verändertem politischem Regime, erlangt der erfolgreiche Kläger durch das bereits geführte Verfahren einen entscheidenden Vorteil gegenüber denjenigen, die noch keinen Titel erstritten haben. Im Falle eines vor einem Investitionsschiedsgericht erstrittenen Schiedsspruch greift der weitere Vorteil einer direkten Vollstreckungsmöglichkeit im Anschluss an das abgeschlossene Verfahren. Es gilt dann allerdings, auch Vermögenswerte Russlands im Ausland zu finden, die der Vollstreckung unterworfen werden können. Mitunter wird es hierbei zu einem Wettlauf der Gläubiger kommen. Ungeachtet der Einleitung (schieds-)gerichtlicher Prozesse tun alle Geschädigten gut daran, ihre Verluste und deren Umstände zeitnah, gerichtsfest und dauerhaft zu dokumentieren, um sich für die Zukunft alle Optionen zu sichern.
Dr. Richard Happ
Partner
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