12.02.2025
Selten in den vergangenen beiden Jahrzehnten wurde ein Bundestagswahlkampf derart kontrovers ausgetragen wie aktuell. Und ebenso selten ließen Parteien wissen, mit wem sie nach der Wahl nicht koalieren möchten, welche Brandmauern halten sollen, wo sie nicht mehr kompromissbereit sind, und welche roten Linien nicht überschritten werden. Aktuelle Umfragen zeigen: Möglicherweise reicht es nach der Wahl am 23. Februar 2025 weder rechnerisch für eine stabile Regierungsmehrheit durch eine Koalitionsbildung von zwei Fraktionen, noch politisch für eine Mehrheitsbildung unter Einbeziehung einer dritten Fraktion. Schon wird über die Option einer Minderheitenregierung spekuliert. Staatsorganisationsrechtlich setzt die Bildung einer Bundesregierung zunächst die Wahl eines Bundeskanzlers voraus. Denn die Bundesminister werden gem. § 64 Abs. 1 GG (nur) auf Vorschlag des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten ernannt. Aber kann der Bundeskanzler überhaupt ohne eine absolute Mehrheit im Bundestag gewählt werden?
Die Regelungen zur Kanzlerwahl finden sich in Art. 63 GG. Der Bundeskanzler wird danach auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (absolute Mehrheit) auf sich vereinigt (Art. 63 Abs. 1 und 2 GG). Für diesen ersten Wahlgang sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen damit klar: Es kann nur einen Kandidaten geben, den ausschließlich der Bundespräsident vorschlagen darf. Und dieser Kandidat benötigt für die Wahl zum Bundeskanzler eine absolute Mehrheit der Parlamentsmitglieder. Verfassungsrechtlich nicht geregelt ist allerdings, wen der Bundespräsident vorzuschlagen hat. In der Verfassungspraxis wird das aber der Kandidat sein, der nach politischer Einschätzung des Bundespräsidenten und in Ansehung vorheriger Koalitionsverhandlungen eine Aussicht hat, im Bundestag eine Mehrheit hinter sich zu versammeln.
Kommt im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit für den vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten zustande, verliert der Bundespräsident sein Vorschlagsrecht. Der Bundestag kann dann innerhalb von 14 Tagen einen Bundeskanzler wählen (Art. 63 Abs. 3 GG). Die Kanzlerkandidaten, die selbst nicht Parlamentsmitglieder sein müssen, können aus der Mitte des Parlaments nominiert werden. Aber auch im zweiten Wahlgang besteht das verfassungsrechtliche Erfordernis einer absoluten Mehrheit. Ist eine solche nicht absehbar, kann der Bundestag auf den zweiten Wahlgang verzichten. Dieser ist verfassungsrechtlich nicht zwingend.
Verzichtet der Bundestag auf einen zweiten Wahlgang, oder bekommt kein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen, muss unverzüglich nach Ablauf der vierzehntägigen Frist nach dem ersten Wahlgang ein neuer Wahlgang stattfinden (Art. 63 Abs. 4 GG). Auch hier können mehrere Kandidaten gegeneinander antreten. Der neue Wahlgang unterscheidet sich aber grundlegend von den vorigen: Gewinnt ein Kandidat im Rahmen dieses Wahlgangs eine absolute Mehrheit für sich, ist der Bundespräsident verpflichtet, ihn innerhalb von sieben Tagen zum Bundeskanzler zu ernennen. Erreicht kein Kandidat die absolute Mehrheit, ist gewählt, wer von allen Kandidaten die meisten Stimmen erhält (einfache Mehrheit).
Allerdings wird der lediglich mit einer einfachen Mehrheit gewählte Kandidat nicht zwingend auch Bundeskanzler. Denn für diesen Fall sieht Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG ein alleiniges Entscheidungsrecht des Bundespräsidenten vor, von dem er nach seinem politischen Ermessen Gebrauch machen kann: Er kann entweder den gewählten Kandidaten innerhalb von sieben Tagen zum Bundeskanzler ernennen oder den Bundestag mit der Folge von Neuwahlen auflösen.
Verfassungsrechtlich kann somit dem Bundespräsidenten je nach Wahlausgang eine maßgebliche Rolle bei der Frage zukommen, ob Deutschland bei fehlender absoluter Koalitionsmehrheit nach der Bundestagswahl den Weg einer Minderheitenregierung einschlägt, oder der Wähler in Neuwahlen zur Klärung unklarer politischer Verhältnisse aufgerufen wird. Ob die Stunde des Bundespräsidenten kommen wird, entscheidet sich aber erst am 23. Februar 2025 und in den Wochen danach.
Dr. Stefan Altenschmidt, LL.M. (Nottingham)
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