31.01.2024

Europäische Kommission veröffentlicht Bericht zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts im Arzneimittelsektor: Branche nach wie vor im Fokus der Kartellbehörden in Europa

Autoren: Prof. Dr. Christian Burholt, Lara Zölck und Ann-Kristin Freiheit

Hintergrund

Am 26. Januar 2024 veröffentlichte die Europäische Kommission einen Bericht über die Durchsetzung der Kartell- und Fusionskontrollvorschriften im Arzneimittelsektor in den letzten Jahren. Der letzte Bericht stammte aus dem Jahr 2019 (beide Berichte sind abrufbar unter: https://competition-policy.ec.europa.eu/sectors/pharmaceuticals-health-services_en).

Der aktuelle Bericht gibt einen Überblick über die Durchsetzung der kartell- und fusionskontrollrechtlichen Vorschriften in der EU in Bezug auf Arzneimittel und bestimmte Medizinprodukte durch die Europäische Kommission und nationale Wettbewerbsbehörden im Zeitraum 2018-2022.

Der Bericht zeigt: Die Branche steht aufgrund ihrer wirtschaftlichen Relevanz und ihrer erheblichen Bedeutung für das (gesundheitliche) Allgemeinwohl nach wie vor und wahrscheinlich mehr denn je im Fokus der Kartellbehörden.

Zahlen und Fakten zur kartellbehördlichen Entscheidungspraxis (2018 bis 2022)

Im Untersuchungszeitraum ergingen insgesamt 26 kartellrechtliche Beschlüsse europäischer Wettbewerbsbehörden im Arzneimittelsektor. Es wurden Bußgelder von rund 780 Mio. Euro verhängt und/oder den beteiligten Unternehmen wurden Verpflichtungen auferlegt, um das wettbewerbswidrige Verhalten abzustellen. Die meisten Fälle betrafen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (ca. die Hälfte) oder echte Kartellabsprachen zwischen Wettbewerbern (knapp ein Drittel). Teilweise waren Verhaltensweisen Gegenstand der Verfahren, die zuvor noch nicht am Maßstab des EU-Wettbewerbsrechts geprüft worden waren. Diese neuen Präzedenzfälle können als praktische Guidance herangezogen werden, um das heutige Marktverhalten wettbewerbskonform auszugestalten und um bestehende kartellrechtliche Compliance-Systeme anzupassen.

Darüber hinaus stellten die Behörden in zehn Fällen im Medizinproduktesektor und in 13 weiteren Fällen aus anderen Bereichen des Gesundheitswesens kartellrechtliche Zuwiderhandlungen fest oder erließen Verpflichtungsbeschlüsse.

Ca. die Hälfte der Verfahren wurden von Amts wegen eingeleitet, neun aufgrund von Beschwerden und vier aus anderen Gründen (z. B. aufgrund bei einer Sektoruntersuchung gefundener Indizien).

Neben den o.g. 26 Beschlüssen wurden im Arzneimittelsektor mehr als 40 weitere Verfahren abgeschlossen, ohne dass die Wettbewerbsbehörden eine Kartellrechtswidrigkeit festgestellt oder Verpflichtungen für die Unternehmen angeordnet haben (z. B., weil die mutmaßlich wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zwischenzeitlich aufgegeben wurden). Zudem laufen aktuell noch 30 behördliche Verfahren wegen Vorwürfen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen in der Branche.

Im Bereich der Fusionskontrolle hat allein die Europäische Kommission mehr als 30 Zusammenschlüsse im Arzneimittelsektor geprüft. In fünf Fällen wurden wettbewerbsrechtliche Bedenken festgestellt, die die Unternehmen durch Anpassungen ihres Zusammenschlussvorhabens zumeist ausräumen konnten. Dabei fällt auf, dass die fusionskontrollrechtliche Interventionsquote im Arzneimittelsektormit etwa 17 % sehr deutlich über dem Durchschnitt in anderen Wirtschaftsbereichen (ca. 5 %) lag. Außerdem intervenierte die Europäische Kommission in mehreren Fällen außerhalb des Arzneimittelsektors, die Gesundheits- oder (bio-)medizinische Technologien betrafen und untersagte hier z. B. einen Zusammenschluss im Bereich Krebserkennungstests. Viel Beachtung fand in diesem Zusammenhang die Illumina-Grail-Entscheidung der Europäischen Kommission und daran anschließend das bestätigende Urteil des Europäischen Gerichts.  Danach können nationale Wettbewerbsbehörden Zusammenschlüsse an die Europäische Kommission verweisen, selbst wenn die in Rede stehende Transaktion nicht einmal in den Zuständigkeitsbereich der eigenen nationalen Behörde fällt (z. B. wegen Unterschreitung der nationalen Umsatzschwellen). Es ist zu erwarten, dass diese erweiterte Verweisungspraxis auch weiterhin v.a. im Arzneimittelbereich zur Anwendung kommen wird: Innovationen spielen hier eine große Rolle und Zielunternehmen können mit vielversprechenden Pipeline-Medikamenten selbst bei geringen Umsatzzahlen ein erhebliches Wettbewerbspotenzial aufweisen.

Inhaltlich decken die wettbewerbsrechtlichen Themen, mit denen sich die nationalen Wettbewerbsbehörden sowie die Europäische Kommission befasst haben, praktisch die ganze Bandbreite der kartell- und fusionskontrollrechtlichen Vorgaben ab:

  • Pay-for-Delay-Vereinbarungen
  • Missbräuchliche Rabatte und Verdrängungspreise
  • Patentmissbrauch
  • Weitere Verhaltensweisen zur Verhinderung des Inverkehrbringens von Medikamenten
  • Informationsaustausch
  • Verunglimpfung von Wettbewerbsprodukten / irreführende Informationen
  • Rolle von Generika und Biosimilars auf dem Markt
  • Zusammenarbeit von Unternehmen in Reaktion auf den Covid-19-Ausbruch
  • Preishöhenmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen
  • Vertikale Vereinbarungen
  • Preiserhöhungen infolge von Zusammenschlüssen
  • Verhaltensweisen, die Innovationen bremsen oder Wahlmöglichkeiten der Patienten einschränken
Bedeutung für die Praxis

Der aktuelle Kommissionsbericht knüpft an den zuvor veröffentlichten Bericht über die Jahre 2009-2017 an (siehe dazu Burholt in: PharmR, Heft 3/2019, S. 95 ff.). Der damals untersuchte Zeitraum erstreckte sich über acht Jahre (statt vier), sodass v.a. die Zahlen nur bedingt vergleichbar sind. Insgesamt lässt sich aber beobachten, dass die Anzahl der kartellbehördlichen Entscheidungen im Pharmabereich steigt. Die Europäische Kommission zieht in ihrem Bericht zudem folgendes Fazit (vgl. S. 69): „Der wirksamen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts im Arzneimittelsektor kommt nach wie vor hohe Priorität zu, und die Wettbewerbsbehörden werden potenziell wettbewerbswidrige Verhaltensweisen auch weiterhin überwachen und proaktiv untersuchen.“

Pharmaunternehmen und andere Unternehmen im Gesundheitswesen (z. B. Medizinproduktehersteller oder Unternehmen im Bereich der Biotechnologie) sollten daher auch weiterhin ein besonderes Augenmerk auf kartellrechtliche Compliance legen. Es gilt, hohe Bußgelder und anschließende teure Schadensersatzprozesse sowie den mit einem Kartellrechtsverstoß meist einhergehenden Reputationsverlust zu vermeiden. Das gilt sowohl im Tagesgeschäft (z. B. bei der Preis- und Konditionengestaltung) als auch bei größeren Projekten wie Transaktionen und natürlich ganz besonders für (potenziell) marktbeherrschende Unternehmen.

Autor/in
Prof. Dr. Christian Burholt, LL.M.

Prof. Dr. Christian Burholt, LL.M.
Partner
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Lara Zölck

Lara Zölck
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