16.10.2023
BGH-Urteil vom 27. Juli 2023 IX ZR 267/20
Mit Urteil vom 27. Juli 2023 (IX ZR 267/20) hat sich der BGH zur Zulässigkeit einer Musterfeststellungsklage gegen einen Insolvenzverwalter geäußert. Außerdem setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, wie Regelungen in Energielieferverträgen zu einem Neukundenbonus aus AGB-rechtlicher Sicht auszulegen sind und ob die Verrechnung mit einem Neukundenbonus als insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung zu werten ist. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der zuletzt genannten Frage.
Geklagt hatte ein Verbraucherschutzverein im Wege der Musterfeststellungsklage gegen den Insolvenzverwalter eines Energieversorgers. Der Energieversorger warb Kunden von Energielieferverträgen über Gas und Strom u.a. mit einem vom Jahresumsatz abhängigen Neukundenbonus. Im Jahr 2019 stellte er die Belieferung seiner Kunden insolvenzbedingt ein. Der Insolvenzverwalter rechnete die Verträge von mehr als 100.000 Kunden ohne Berücksichtigung des Neukundenbonus ab, wenn zuvor keine Mindestvertragslaufzeit von einem Jahr abgelaufen war. Der Insolvenzverwalter vertrat die Auffassung, dass die Berücksichtigung eines Bonus eine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung sei und forderte statt dessen die betroffenen Verbraucher auf, ihre diesbezüglichen Forderungen zur Insolvenztabelle anzumelden. Der Verbraucherschutzverein trat dem mit einer Musterfeststellungsklage entgegen und beantragte u.a. die Feststellung, dass die Entgeltforderungen des Energieversorgers in den Schlussrechnungen jeweils um den Neukundenbonus zu kürzen sind und dass dies keine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung darstellt.
Im Grundsatz setzt die Aufrechnung zwei selbstständige Forderungen voraus, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen und gleichartig sind, § 387 BGB. Im Kontext eines Insolvenzverfahrens kann es jedoch zu einer Kollision des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung auf der einen Seite und dem Interesse des einzelnen Forderungsgläubigers auf der anderen Seite kommen. Dem versuchen die §§ 94 ff. InsO Rechnung zu tragen. Gemäß § 94 InsO wird das Recht zur Aufrechnung durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt, wenn ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung kraft Gesetzes oder auf Grund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt ist. Der Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Aufrechnungslage sind demnach entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbote greifen. Entsteht eine Aufrechnungslage erst nach der Insolvenzeröffnung, ist eine Aufrechnung unzulässig. Bei bedingten Forderungen ist entscheidend, ob die Forderung des insolventen Schuldners oder die ihr gegenüberstehende Forderung des betreffenden Gläubigers zuerst unbedingt und fällig wird, § 95 Abs. 1 S. 3 InsO. Gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist die Aufrechnung außerdem unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat.
Der BGH stellte fest, dass die Berücksichtigung eines Neukundenbonus in der Jahresverbrauchsabrechnung eines Energieversorgungsvertrags keine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung oder Verrechnung darstellt, wenn der Neukundenbonus als vom Jahresumsatz abhängiger Nachlass (Rabatt) ausgestaltet ist. Der Neukundenbonus sei (nur) als unselbstständiger Rechnungsposten, neben dem Grundpreis und dem Arbeitspreis, als dritter Berechnungsfaktor bei dem auf die verbrauchsbezogene Entgeltberechnung anzuwendenden Tarif als von der Gesamtrechnung abzuziehender Nachlass ausgestaltet. Der von dem Energieversorger zugesagte Neukundenbonus bewirke, dass die Vergütung für die im ersten Jahr gelieferte Energie nicht nach dem grundsätzlich vereinbarten Tarif berechnet, sondern um den vereinbarten Prozentsatz herabgesetzt wird. Die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO finde zwar auch auf Verrechnungen Anwendung. Für die Saldierung beziehungsweise Verrechnung unselbstständiger Rechnungsposten gelte sie jedoch nicht. Insbesondere die Anrechnung von Abzugsposten mit unmittelbar anspruchsmindernder Wirkung stelle bei der Feststellung der Höhe einer Forderung keine Verrechnung dar. Entscheidend sei, dass bereits die Voraussetzungen einer Aufrechnung, wonach sich zwei selbstständige Forderungen gegenüber stehen müssen, nicht gegeben seien und dass deshalb ein Aufrechnungsverbot nach Maßgabe insolvenzrechtlicher Vorschriften schon im Grundsatz ausscheide.
Das Urteil des BGH vom 27. Juli 2023 (IX ZR 267/20) wurde vielfach im Zusammenhang mit den Feststellungen zur Zulässigkeit einer Musterfeststellungsklage erörtert. Es ist aber auch beachtlich im Hinblick auf die Feststellungen zur Zulässigkeit von Aufrechnungen. Aus Gläubigersicht beinhaltet es eine begrüßenswerte Klarstellung dahingehend, dass die Aufrechnungsverbote im Falle der Saldierung unselbstständiger Rechnungsposten nicht gelten. Diese Feststellung mag „nicht neu“ sein. Mit Blick auf die aktuell steigenden Insolvenzzahlen ist sie aber dennoch beachtlich. Sie zeigt die Bedeutung der Vertragsgestaltung und der sich daraus ggf. ergebenden Möglichkeiten zur Sicherung insolvenzfester Anrechnungspotenziale.
Entscheidend war schließlich, dass der von dem Energieversorger versprochene Neukundenbonus als vom Jahresumsatz abhängiger Nachlass (Rabatt) ausgestaltet war. Damit wurde die Möglichkeit eröffnet, den Neukundenbonus als unselbstständigen Abzugsposten mit unmittelbar anspruchsmindernder Wirkung auszulegen und dadurch die Anwendbarkeit der insolvenzrechtlichen Aufrechnungsverbote zu verneinen.
Christiane Kühn, LL.M. (Hong Kong)
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