29.07.2019

Rechtliches Gehör im Prozessrecht („Das war doch alles nicht so gemeint…“)

Kann eine Prozesspartei ihren Sachvortrag jederzeit ändern und muss das Gericht eine Änderung des Vortrages stets beachten, auch wenn der neue Vortag im Widerspruch zu dem vorherigen Vortrag steht? Mit dieser Fragestellung hat sich der Bundesgerichtshof (im Folgenden: BGH) in seinem Beschluss vom 24. Juli 2018 – VI ZR 599/16 beschäftigt. Im Vordergrund dieser Entscheidung steht der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), welcher im Ergebnis durch den BGH in seiner Bedeutung gestärkt wurde. Der BGH hat klargestellt, dass eine Prozesspartei ihren Vortrag im Laufe des Prozesses auch dann ändern kann, wenn der geänderte Vortrag im Widerspruch zur ursprünglichen Aussage steht und eine solche Änderung vom Gericht berücksichtigt werden muss. Also ganz nach dem Motto: Wer ursprünglich „A“ sagt, darf später „B“ sagen, auch wenn „B“ im Widerspruch zu „A“ steht.

Hintergrund

Was war passiert?

In dem vom BGH entschiedenen Fall streiten die Parteien nach einer fehlgeschlagenen Kapitalanlage um Schadensersatzansprüche. Der Beklagte ist Vorstand einer Aktiengesellschaft, welche sich ausschließlich über Anleihen und Genussrechte finanziert, wozu sie sogenannte Genussscheine herausgibt. Dafür erstellte die Beklagte einen Prospekt. Die Kläger erwarben über die für den Vertrieb zuständige A-AG solche Genussscheine. In der Folgezeit stellte die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung DPR e.V. jedoch Fehler in den Jahresabschlüssen der Aktiengesellschaft fest, da sie bezüglich ihres Vermögens und anderer wertbeeinflussender Umstände falsche Angaben gemacht hat. Daraufhin nahmen die Kläger den Beklagten mit der Behauptung, dass der Erwerb der Genussscheine auf den Fehlern in den Jahresabschlüssen und dem entsprechend fehlerhaften Prospekt beruhe, auf Zahlung von Schadensersatz in Anspruch.

Die Kläger trugen im Gerichtsprozess bezüglich des Erwerbsvorgangs in ihrer Klageschrift zunächst vor, sie hätten die Genussscheine nach vorheriger Beratung und Vorlage des betreffenden Prospekts durch die A-AG gekauft. Noch in erster Instanz vor dem Landgericht Berlin änderten sie ihren Vortrag dahingehend, dass die A-AG durch einen Mitarbeiter „auf eigene Faust“ auf Grundlage der Empfehlungen des Anlageausschusses für die Kläger die Genussscheine erworben habe, wobei der Prospekt Grundlage der Vertriebsentscheidung der A-AG gewesen sei. Materiell-rechtlich geht es dabei um die Frage der Kausalität des angeblich fehlerhaften Prospekts für die Anlageentscheidung und den Erwerb der Genussscheine. Der geänderte klägerische Vortrag stellte insoweit die notwendige kausale Verknüpfung zwischen dem Erwerbsvorgang und dem Prospekt her (vgl. BGH, Beschluss vom 24.07.2018 – VI ZR 599/16, NZG 2019, 1314,1315).

Die Kläger verloren den Rechtsstreit sowohl in erster als auch in zweiter Instanz. Die Änderung des Vortrags von „man habe die Genussscheine nach Beratung selbst erworben“ hin zu „die A-AG hat „auf eigene Faust“ die Genussscheine erworben“ wurde von den Gerichten in beiden Instanzen jeweils nicht berücksichtigt. Das Berufungsgericht kam zu dem Schluss, dass der Prospekt nicht Gegenstand des Beratungsgesprächs war und somit kein Schadensersatzanspruch aus Prospekthaftung gegeben sei (vgl. KG, Beschluss vom 08.11.2016 – 4 U 180/14, BeckRS 2016, 133250).
 

Entscheidung des BGH

Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger entschied der BGH nun anders und verwies den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurück. Der BGH sieht in der Entscheidung des Berufungsgerichts, die Änderung des klägerischen Vortrags unberücksichtigt zu lassen, eine Verletzung des Anspruchs der Kläger auf rechtliches Gehör. Das Berufungsgericht habe den geänderten Vortrag nicht berücksichtigt, obwohl sich dafür keine Grundlage im Prozessrecht finde. Das Gesetz sehe an keiner Stelle vor, dass eine Prozesspartei ihren Sachvortrag nicht ändern dürfe. Es sei daher nicht geboten, einen Parteivortrag nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil er im Widerspruch zum vorangegangenem, ausdrücklich aufgegebenem Vortrag steht. Eine Partei sei gerade nicht daran gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Eine etwaige Vortragsänderung könne allerdings im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen (BGH, Beschluss vom 24.07.2018 – VI ZR 599/16, NZG 2019, 1314,1314; vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 5.11.2015 – I ZR 50/14, GRUR 2016, 705, 708). Die Änderung des Antrags hätte daher vom Gericht zwingend – jedenfalls bei einer Änderung innerhalb der ersten Instanz – berücksichtigt werden müssen.

 

Fazit

Der BGH stärkt mit seinem Beschluss das grundrechtlich verankerte Recht auf rechtliches Gehör. Für Prozessvertreter wird ein gewisses Risiko minimiert, indem der BGH klargestellt hat, dass der Parteivortrag, auch wenn dieser von vorherigen Darstellungen erheblich abweicht, nachträglich geändert und korrigiert werden kann und dies von den Gerichten dann auch zu beachten ist. Dabei sollte stets darauf geachtet werden, dass die Änderung des Vortrags rechtzeitig in erster Instanz und unter ausdrücklicher Abkehr vom bisherigen Vortrag erfolgt.


Eine Art „Freifahrtschein“ bedeutet diese Entscheidung jedoch keinesfalls, denn die Änderung des Sachvortrags hat nach wie vor seine Grenzen. So gelten auch bei Änderung des Vortrages die grundsätzlichen Substantiierungsanforderungen (vgl. hierzu ausführlich Schultz, NJW 2017, 16 ff.). Ob diese Anforderungen erfüllt sind, der geänderte Vortrag hinreichend bestimmt und auch erheblich ist, ist im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Schon aus diesem Grunde kann es den Parteien nicht verwehrt werden, erstinstanzlich den Vortrag zu ändern. Allerdings erlangt ein mit dem veränderten Vortrag einhergehender Widerspruch zu vorherigem Vorbringen im Rahmen einer ggf. erforderlichen Beweiswürdigung Bedeutung (Schultz, NJW 2017, 16, 19). Denn dann muss das Gericht den Widerspruch berücksichtigen, bewerten und entscheiden, welchem Vortrag es Glauben schenkt. Einer „180-Grad Wende“ wird das Gericht dabei eher skeptisch gegenüberstehen, sodass ein widersprüchlicher Vortrag negative Auswirkungen auf die Beweiswürdigung haben könnte.

 

 

Dr. Stephan Bausch, D.U.
Rechtsanwalt
Partner
stephan.bausch(at)luther-lawfirm.com
Telefon +49 221 9937 25782
 

 

Stephanie Quaß
Rechtsanwältin
Senior Associate
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