11.03.2021

Überspannte Substantiierungsanforderungen stellen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar – BGH, Beschluss vom 28.07.2020 – VI ZR 300/18

Autoren: Georg Zander und Helena Gallinger

Hintergrund

Im zivilrechtlichen Gerichtsverfahren gilt der Beibringungsgrundsatz. Danach haben die Parteien sämtliche entscheidungserheblichen Tatsachen selbstständig in den Prozess einzuführen. Bei seiner Entscheidungsfindung darf das Gericht dann auch nur diese Tatsachen berücksichtigen.

Daneben haben die Gerichte den Parteien rechtliches Gehör zu gewähren. Dieser Anspruch ist grundgesetzlich in Art. 103 Abs. 1 GG, sowie europarechtlich in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert. Er ist Ausfluss des Rechtsstaatlichkeitsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG und umfasst neben der Anhörung auch die inhaltliche Würdigung und Berücksichtigung des Parteivortrags bei der Entscheidungsfindung.

In der Praxis können diese beiden Verfahrensgrundsätze dann konkurrieren, wenn eine Partei eine Tatsache zwar bestreitet, das Bestreiten jedoch nicht substantiiert ist. Hierbei stellt sich die Frage, ob und inwiefern das Gericht eine Sachverhaltsaufklärungspflicht trifft, ohne dass es hierbei den Beibringungsgrundsatz unterläuft.

Die Rechtsprechung hat deshalb Grundsätze für das Bestreiten eines Parteivortrags entwickelt. Je konkreter ein Parteivortrag ist, desto substantiierter müssen die vorgetragenen Tatsachen erschüttert werden. Ein einfaches Bestreiten reicht in diesen Fällen nicht aus.

Hat eine Partei eine Behauptung substantiiert bestritten und ein Beweisangebot unterbreitet, ist sie ihrer Beibringungspflicht nachgekommen und das Gericht verpflichtet den Sachverhalt mittels einer durchzuführenden Beweisaufnahme aufzuklären. Die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet in Verbindung mit § 286 ZPO schließlich auch die Pflicht zur Erschöpfung der vorgebrachten Beweismittel.

Im Einzelfall stellt sich nicht selten die Frage, wann ein Bestreiten als substantiiert anzusehen ist. Jüngst hatte sich auch der BGH mit dieser Frage auseinanderzusetzen.

Sachverhalt

Nach einem Eisenbahnunfall, bei welchem sich mehrere Wagen von dem Vorderteil des Zuges entrissen hatten und entgleisten, streiten die Parteien im Rahmen einer Schadensersatzklage um die Frage, wer diesen Unfall zu verschulden hatte.

Durch den Unfall entstand an dem Oberbau, den Oberleitungsanlagen und Anlagen der Leit- und Sicherungstechnik ein Schaden i.H.v. ca. EUR 2.100.000.

Die Klägerin, ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen, behauptet, der Zugführer habe beim vorausgegangenen Abstellen des Zuges eine sogenannte Feststellbremse an einem Wagen betätigt, wodurch die Entgleisung verursacht wurde. Sie untermauerte ihren Vortrag mit einem Unfallgutachten des Eisenbahn-Bundesamtes sowie zwei Berichten der Bundespolizeiinspektion.

Die Beklagte, ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, hat diesen Unfallhergang bestritten und mehrere mögliche alternative Entgleisungsursachen genannt, die außerhalb ihres Verantwortungsbereiches und vielmehr im Verantwortungsbereich der Klägerin lagen, so z.B. einen Defekt an der Eisenbahninfrastruktur in Form herumliegender Gegenstände im Gleisbereich, Defekte an der Weiche, an den Bremsklötzen oder der Bremssohle.

Zudem trug die Beklagte vor, dass die festgestellten Beschädigungen der Radsätze des entgleisten Wagons mit dem Vortrag der Klägerin nicht in Einklang zu bringen seien. Bei unterstellter Richtigkeit des klägerischen Vortrags, eine angezogene Feststellbremse des Zugführers habe den Unfall verursacht, hätten die Beschädigungen an den Radsätzen identisch sein müssen. Die Radsätze hätten jedoch Beschädigungen in unterschiedlichem Maße aufgewiesen.

Zum Beweisantritt bot die Beklagte die Einholung eines Sachverständigengutachtens an.

In erster Instanz hat das LG Verden der Klage überwiegend stattgegeben. Eine Beweisaufnahme zur Klärung der Unfallursache fand durch das Landgericht nicht statt. Die hiergegen gerichtete Berufung wies das OLG Celle als unbegründet ab. Es hielt das erstinstanzliche Bestreiten der Beklagten für unsubstantiiert und damit als prozessual unbeachtlich. Das Absehen des Landgerichtes von der Beweiserhebung sei deshalb rechtmäßig gewesen und stelle keinen Verfahrensmangel dar.

Daraufhin reichte die Beklagte eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH ein.

Entscheidung

Der BGH entschied, dass der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG durch die Abweisung der Berufung in entscheidungserheblicher Weise verletzt wurde und die Sache zurück an das Berufungsgericht verwiesen.

§ 138 Abs. 2 ZPO beinhalte für Verfahrensbeteiligte die Obliegenheit, sich über die behaupteten Tatsachen des Prozessgegners zu erklären. Das Spruchgericht müsse bei einem ausreichenden Bestreiten den Beweisangeboten der Parteien nachgehen. Die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags richteten sich nach dem Vortrag der darlegungsbelasteten Partei. Wenn dabei die Anforderungen an die Qualität des Bestreitens zu hoch angesetzt würden, werde der Anspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Dieser gebe den Parteien das Recht sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt und der Rechtslage zu äußern.

Die Anforderungen an die Substantiierung seien überspannt, wenn der Vortrag das Wissen eines Sachverständigen voraussetze.

Der Senat führt sodann aus, dass eine Partei ihren Substantiierungspflichten genüge, wenn sie Tatsachen vortrage, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet seien, das von der anderen Seite geltend gemachte Recht als nicht bestehend erscheinen zu lassen. Der Vortrag weiterer Einzeltatsachen kann darüber hinaus dann nicht verlangt werden. Unerheblich sei zudem, wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer Schlussfolgerung aus Indizien beruhe.

Im streitgegenständlichen Fall sei die Beklagte ihren Substantiierungspflichten in ausreichendem Maße nachgekommen. Sie habe deutlich gemacht, weshalb sie die Begründung der Klägerin in Bezug auf die Entgleisungsursache für unzutreffend hält, die Ausführungen des Privatgutachtens konkret angezweifelt und auf mögliche andere Erklärungen hingewiesen.

Eine Beweiserhebung sei schließlich auch nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil die unter Beweis gestellten Tatsachen auf ein Privatgutachten gestützt waren dessen Richtigkeit der Gegner bestreitet, ohne die Unzulänglichkeit des Gutachtens substantiiert darzulegen (vgl. BGH, NJW 2009, 2894).

Es bestehe keine Verpflichtung, auf einen privatgutachterlich untermauerten Parteivortrag der Klägerin einschließlich technischer Details seinerseits mit Expertenwissen zu erwidern. Die Sachverhaltsaufklärung habe dem Spruchgericht oblegen. Dieses hätte sich nicht ohne Beweisaufnahme über den Vortrag der Beklagten hinwegsetzen dürfen.

Fazit

Mit dieser Entscheidung hebt der BGH die Bedeutung der Gewährleistung rechtlichen Gehörs erneut hervor und macht deutlich, dass der gesetzliche Richter in seiner richterlichen Entscheidung zwar frei ist, die grundgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgrundsätze bei der Urteilsfindung jedoch zwingend einhalten muss.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass die zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben.

Sofern das Gericht die Anforderungen an die Substantiierungslast zu hoch ansetzt und einen Beweisantrag übergeht, liegt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs vor.

Einschränkungen des verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundsatzes sind nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Beweisanträge können beispielsweise dann zurückgewiesen werden, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache unerheblich, bereits erwiesen oder offenkundig ist, oder wenn das Beweismittel unzulässig, unerreichbar oder völlig ungeeignet ist.

Will das Gericht abseits dieser Fallgruppen von der Einholung eines Gutachtens absehen, muss es seine eigene Sachkunde im Urteil im Einzelnen darlegen (BGH, NJW 2000, 1946).